Nov 212007
 

Furchtbarer Doppelsinn meiner Bezeichnung Karls des Großen als eines „in den Augen seiner Zeitgenossen grausamen“ Herrschers! Las gestern in einer Arbeitspause erneut die Vita Karoli Magni des Einhard. Empfand große Freude, nach mehreren Wochen wieder einmal Latein unter die Finger zu bekommen! Habe ich nicht doch gestern Karl zu hart angegriffen?

Ich stolpere, im caput 28, über die Sätze: … erutis scilicet oculis linguaque amputata … Das war die Strafe, die die Römer dem Papst Leo angedeihen ließen. Wir dürfen annehmen, dass auch Karl der Große die Blendung bei etlichen seiner politischen Gegner anwenden ließ. Pater Europae?

Bemerkenswert, dass die Vertreibung der Sachsen und die Zerschlagung geschlossener Siedlungsgebiete in folgenden Worten bei Einhard beschrieben werden: … decem milia hominum ex his qui utrasque ripas Albis fluminis incolebant cum uxoribus et parvulis sublatos transtulit et huc atque illuc per Galliam et Germaniam multimoda divisione distribuit (caput 7). Also dasselbe lateinische Wort, das im Potsdamer Abkommen – in seiner englischen Version – für den Bevölkerungs-„Transfer“ („population transfer“) verwendet wurde!

Ich bleibe also dabei: Karl der Große taugt in keiner Weise als politisch-kulturelles Vorbild für unsere Zeit – im Gegenteil. Er führte seine Eroberungskriege unausgesetzt, er merzte die pagane einheimische Stammeskultur aus, etwa durch die Zerstörung der Irminsul. Er handelte gewissermaßen als christlicher Fundamentalist, indem er geistliche Würdenträger unter Umgehung bestehender regionaler Machtverhältnisse unmittelbar mit der Verwaltung weltlicher Macht beauftragte. Und er zog keine konstitutionellen, personenunabhängigen Machtstrukturen ein, die sein Reich über seinen Tod hinaus zusammengehalten hätten. Es zerfiel definitiv bereits 843 im Vertrag von Verdun, mittelbar entstand aus diesem konstitutionellen Mangel dann das jahrhundertelange, oft feindliche, zu zahllosen Kriegen führende Gegeneinander eines Ost- und eines Westreiches (später: Frankreichs und Deutschlands), das letztlich erst 1945 zu einem Ende kam.

 Posted by at 17:17

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