Fermer les yeux, ce n’est jamais une réponse – für eine Kultur des Hinsehens

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Feb 272008
 

Mein Freund Achmed, der Datenscheich, tritt heute mit einer Bitte an mich heran, der ich gerne nachkomme:

hallo! es würde mich SEHR freuen, wenn du mitmachen würdest: nimm das nächst liegend buch.schlage es auf seite 123 auf.notiere die sätze 6 – 8 in dein blog!und bitte 5 blogger, das gleiche zu tun. was ich notiert habe? wer mich eingeladen hat? wen ich eingeladen habe? alles hier: http://www.taz.de/blogs/datenscheich/
danke.Bestes! der Datenscheich

Ein wunderbarer Gedanke, Achmed! Er erinnert mich an die uralte Sitte des zufälligen Buchorakels – also etwa der Sortes Vergilianae. Man schlug die Aeneis, oder auch z.B. die Bibel auf, ließ den Finger auf einen Vers fallen und deutete den zufällig getroffenen Vers als Hinweis auf des eigene Schicksal. Augustinus schildert sehr schön in den Confessiones sein Erlebnis – das berühmte Tolle lege.

Ich schlage also meine gegenwärtige Nacht- und Schreckenslektüre auf S. 123 auf. Und was finde ich? Doch lest selbst die Sätze 6-8 aus diesem Buche auf der verlangten Seite:

Mais le malheur, il faut s’y confronter; l’inévitable et la nécessité, il faut toujours être prêt à les regarder en face, et accepter de voir les conséquences qui en découlent; fermer les yeux, ce n’est jamais une réponse.

Max Aue, der Held dieses Buches, fordert also nichts anderes als eine Kultur des Hinsehens – man sieht: es ist ein Buch, das ein Kind der heutigen Zeit für unsere Zeit – das Jahr 2008 – geschrieben hat! Das Buch heißt übrigens Les Bienveillantes, verfasst von Jonathan Littell, hier beigezogen in der vom Autor selbst überarbeiteten Neuausgabe, die 2006 in Paris bei Gallimard verlegt worden. Wie gerne würde ich Jonathan Littell einmal zu uns nach Berlin einladen und mit ihm locker plaudern – über unsere Zeit, über die alten Griechen, über des Aischylos Eumeniden, über Empathie in unserer Gegenwart, Einfühlung in die Opfer und dergleichen mehr!

Danke Achmed!

Morgen werde ich dieselbe Übung mit meiner Handausgabe des Vergil anstellen! Am darauffolgenden Tag mit des Augustinus Confessiones.

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Feb 252008
 

Das Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestags ermöglicht es nunmehr, die Anhörung des Petitionsausschusses zum Thema Verkehrsrecht vom 18.02.2008 in voller Länge anzuschauen. Eine wahre Fundgrube an Einsichten in die Art, wie die radelnden Bürger und die Politiker miteinander reden – oder auch aneinander vorbeireden können. Ich habe mir die Ausstrahlung soeben zu Gemüte geführt. Sie beginnt übrigens bei der Zeitmarkierung 2:15:06. Hinsehen lohnt!

Es geht um den über Petition vorgebrachten, von 17.000 Bundesbürgern unterzeichneten Wunsch nach Abschaffung der Radwegbenutzungspflicht. Und da wartete Staatsekretär Kasparick gleich mit der ersten faustdicken Überraschung für die sichtlich verdutzten Abgeordneten auf: „Wir haben in Deutschland keine Radwegbenutzungspflicht.“ Was er meinte, war: Seit der Novelle der Straßenverkehrsordnung (StVO) von 1997 gibt es keine allgemeine Pflicht zur Benutzung vorhandener Radwege. Nur dort, wo die zuständigen Behörden der Länder (also nicht des Bundes) im Einvernehmen mit den Kommunen im begründeten Einzelfall eine zwingende Notwendigkeit erkennen, die Nutzung des Radwegs vorzuschreiben, kann dies durch Anbringen des bekannten Radwegschildes geschehen. Im Normalfall ist jedoch das Befahren des Radwegs den Radfahrern nicht als Pflicht auferlegt. Viele Autofahrer wissen dies noch nicht, was mitunter zu drolligen Gestikulationsausbrüchen führt.

Die Petition begehrt nun die Abschaffung dieser Fälle der Radwegbenutzungspflicht. Der Petent konnte darlegen, dass Radfahrer Verkehrsteilnehmer sind. Und Verkehrsteilnehmer haben nach der StVO auf der Straße zu fahren.

Es war auffallend, wie häufig die anwesenden Abgeordneten und der Petent einander misszuverstehen schienen. „Wollen Sie denn den Radfahrern als einzigen Verkehrsteilnehmern freistellen, wo sie fahren wollen?“, fragte eine Abgeordnete mit sanft bohrendem Unterton.

„Was ist ein linksseitiger Radweg?“, fragte ein anderer Abgeordneter. Hier zeigt sich, dass man in der Politik im Zweifelsfall immer etwas schlichter und fasslicher argumentieren sollte, als dies bei ausgepichten Kennern des Verkehrsrechts zu erwarten gewesen wäre.

Wir Radler müssen die anderen Menschen, die Noch-nicht-Radler, sozusagen bei der Hand nehmen und ihnen Verständnishürden aus dem Weg räumen.

Immer wieder brachen in den Äußerungen der Bundestagsabgeordneten gewisse Vorbehalte gegenüber der Regeltreue der Radler durch. Verdrießliche Fragezeichen, missmutige Untertöne, Befremden und auch schlichte Unkenntnis waren manchmal herauszuhören. Diese „Gelb-Signale“ unserer Volksvertreter müssen wir unbedingt aufnehmen, nutzen und positiv darauf eingehen. Nur so gewinnen wir neue Verbündete!

Den Fischen braucht man kein Wasser zu predigen, – die Nichtradfahrer sind es, die wir umwerben müssen!

Für die materielle Ausgestaltung des Radverkehrsrechts war dies noch keine Sternstunde, eher glich es einer kleinen Nachhilfestunde für die beteiligten Abgeordneten und uns Bürger. Staatssekretär Kasparick erwies sich als guter Kenner der Materie und als kundiger Anwalt des Radverkehrs. Er warb eigens für die mittlerweile errichtete „Fahrradakademie“, in der Stadtplanern und Behördenmitarbeitern Werkzeuge zur sinnvollen Gestaltung der Verkehrsflüsse an die Hand gegeben werden.

Besonders ergiebig ist diese Sitzung im Petitionsausschuss für die Analyse der Kommunikation in der politischen Arena und für die unterschwellig mitverhandelten Vorbehalte gegenüber dem Fahrradverkehr überhaupt. Auch wer sich nicht für Fahrradpolitik interessiert, kann hier dank Internet wunderbar studieren, wie leicht Missverständnisse aufkommen und dann mühsam abgebaut werden.

Wir bleiben dran mit unserem Blog – eine Entscheidung ist noch nicht gefällt!

Übrigens: Beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) kann man noch mehr nachlesen.

Links und Kommentare zu diesem Thema:

http://www.rad-spannerei.de/blog/2008/02/18/radwegbenutzungspflicht-muss-weg/#comments

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Unsere Erde – atemberaubend

 Natur  Kommentare deaktiviert für Unsere Erde – atemberaubend
Feb 242008
 

Gestern sahen wir den Film „Unsere Erde“- eine atemberaubende Dokumentation, eine wunderbare Verschlingung mächtiger Erzählströme in einem einzigen 90-minütigen Film, gewaltig rauschend wie der Ozean. Allerdings erschien mir die Aufforderung, etwas gegen den Klimawandel zu tun, wie künstlich aufgesetzt. Der überwältigende Eindruck war ganz im Gegenteil der, dass die Natur und die Tiere mit allen Schwierigkeiten fertig werden, Gefahr und Not immer wieder meistern. Der auf den schmelzenden Eisschollen jammervoll einbrechende Eisbär war zwar kein majestätischer Anblick. Als Mahnung gegen den Klimawandel taugte er jedoch nur bedingt. Vielmehr erschien die Natur in ihren tausend zauberhaften Formen als etwas ganz und gar vom Menschen Unbeeinflusstes, zumal die Filmemacher jede Spur menschlicher Einwirkung aus ihrem Material verbannt haben. „Man fühlt die Botschaft, und man ist verstimmt.“

Bestens geeignet für den Besuch mit Kindern.

Natürlich werden wir fleißig trotzdem Fahrrad statt Auto fahren. Aber eben nicht wegen dieses Films.

 Posted by at 23:39
Feb 232008
 

Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 400.000 Fahrräder gestohlen. Die hohe Diebstahlgefahr schreckt viele Menschen davon ab, auf dieses preiswerte, gesundheits- und umweltfreundliche Verkehrsmittel umzusteigen, und auch davon, sich anstelle einer alten „Mühle“ ein teureres Fahrrad anzuschaffen, das allen Ansprüchen an Verkehrssicherheit und Bequemlichkeit genügt.

Die erprobten Maßnahmen der Kommunalpolitik, um diesen Missstand zu beheben, müssten eigentlich in weit größerem Umfang als bisher umgesetzt werden: sichere Bügel in ausreichender Anzahl, an denen die Fahrräder samt Rahmen angeschlossen werden können; verschließbare Boxen; überwachte und überdachte Fahrradparkplätze in allen Parkhäusern und auf Parkplätzen; Fahrradgaragen in größeren öffentlichen Gebäuden.

Nunmehr bringt die englische Firma SOS Response das WASP-Fahrradüberwachungssystem auf den Markt. Ein berührungsempfindlicher Sensor wird vom Besitzer des Fahrrads beim Abstellen des Fahrzeugs aktiviert; sobald jemand sich unberechtigt am Fahrrad zu schaffen macht, aktiviert das Gerät einen Funkalarm, eine Video-Kamera erfasst das Geschehen, ein Sicherheitsdienst oder die Polizei kann auf diese Weise alarmiert werden. Die Zahl der Fahrraddiebstähle konnte mit diesem System um 90% gesenkt werden. Erfolgsmeldung der Firma selbst:

When an owner locks up their bicycle they either call or send a text to a security control room which automatically triggers the system to guard it.

If someone tries to tamper with the bicycle, a movement sensor on the lock emits a silent alarm which triggers a CCTV camera to zoom in and records the event. The live images on the security control room monitors are verified against the owner information. A security officer can then be sent to intervene.

SOS Response developed the WASP Cycle Monitoring System (CMS) in partnership with Hampshire Constabulary and the University of Portsmouth.

By combining state-of-the-art miniaturised electronics, intelligent use of Proven RFID technology, CCTV and Communication Software Integration we have reduced Crime by 90% over a 3 month period from October to December 2007.

Ich meine: Man sollte das System ruhig einmal prüfen, zumal es ja die vielbeschworene „Sicherheit an öffentlichen Orten“ erhöhen würde. An besonders gefährdeten Stellen in Berlin, an denen statistisch besonders viele Fahrräder gestohlen werden, könnte es erprobt werden. Die Investitionskosten sind allerdings recht hoch. Als Ergänzung der oben geforderten, seit langem bekannten Maßnahmen, so scheint mir, könnte es in der Zukunft an bestimmten Orten eine Rolle spielen. Damit landen wir nicht gleich im „Überwachungsstaat“.

Was meint Ihr?

 Posted by at 18:50
Feb 202008
 

In aller Frühe brachen wir gestern zur Aufführung der Zauberflöte auf. Eine Freundin hatte uns in eine Berliner Grundschule eingeladen, für die sie arbeitet. Vor 110 Kindern der Klassen 1 und 2 produzieren wir Mozarts Zauberflöte in der Fassung für Marionettentheater. Etwa 20 Kinder spielen begeistert als wilde Tiere mit, die durch die Zauberflöte gezähmt werden und artig tanzen, die anderen sind zahme Katzen, die den Vorhang für die Königin der Nacht öffnen. Dramaturgie, Regie, Textfassung, Sopran, Dompteuse: Ira Potapenko, unsere Prinzipalin in der Kunst wie echten Leben. Was für ein Gefühl, vor einer dichtgedrängten Aula den Kindern das Blaue vom Himmel herunterzuerzählen! Und ich darf mich sogar als Dirigent der von einer CD eingespielten Ouvertüre betätigen. Damit erzielen wir die größten Lacher bei dieser Aufführung. Mozarts Werk bleibt fesselnd, eine Handlung, die bei aller Verworrenheit eben doch einen guten Ausgang verheißt. Danach fühlte ich mich erledigt wie nach jedem anderen öffentlichen Auftreten auch, aber eben auch stolz und froh: „Wir haben es geschafft“!

Anschließend Gespräch über die Lage an den Schulen. „Leider wird unsere Aula nur einmal im Jahr gereinigt. Es ist kein Geld da, um die Aula mehr als einmal im Jahr zu reinigen. Es finden keine Feste statt. Das ist die offizielle Linie in der Berliner Schulpolitik.“ Interessant zu sehen, wie die Spuren der Zeit sich ablagern, all der Staub, die Flusen, die vergessenen Schühchen … Ich denke: Ist das Jahr seit der letzten Reinigung schon wieder um?

Zuhause angelangt, übe ich die Grundrechenarten:

Aufgabe:

Gesetzt, einer jener mehreren Hundert deutschen Steuerhinterzieher, von denen die Welt heute spricht, habe 1 Million Euro pro Jahr hinterzogen, wie oft könnte dann die Aula einer Berliner Grundschule gereinigt werden, so dass dort wieder Feste und Versammlungen in einer sauberen Umgebung stattfinden können? Veranschlagen Sie die Gestehungskosten inkl. Sozialabgaben und Steuern mit 42.-/Euro pro Stunde, und unterstellen Sie, dass die Reinigung der Aula vier Stunden dauert! Runden Sie nach mathematischen Rundungsregeln auf ganze Jahre!

Lösung:

Reinigungskosten pro Woche: 168.-.Reinigungskosten pro Jahr (40 Wochen, da ohne Ferien): 6720.- Zahl der Jahre: 148,809523809

Ergebnis:

Mit der Summe, die ein durchschnittlicher Liechtenstein-Steuerflüchtling pro Jahr im Ausland hinterzieht, lässt sich die Aula einer Berliner Grundschule 149 Jahre lang einmal wöchentlich reinigen, so dass dort wieder Feiern und Versammlungen in einer sauberen Umgebung stattfinden können (Ferien ausgenommen).

 Posted by at 15:43
Feb 192008
 

Der autofreie Sonntag in Berlin erweist sich eher als eine parlamentarische Totgeburt. Nicht einmal die SPD-Fraktion steht geschlossen hinter dem Vorschlag, juristische Bedenkenträger erheben deutlich ihre Stimme. Für einen solchen Vorschlag müsste man wohl beizeiten Unterstützung in den eigenen Reihen sammeln. So wird wohl nichts draus. Schade eigentlich. Die Berliner Morgenpost meldet dementsprechend:

Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer lehnte einen verpflichtenden autofreien Sonntag ab. Auch der parlamentarische Geschäftsführer und verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Christian Gaebler, nannte es „ärgerlich“, dass Buchholz den autofreien Sonntag über gesetzliche Vorgaben zwangsweise einführen wolle, obwohl das Jugendforum für Freiwilligkeit plädiert habe. „Das wird von der SPD-Fraktion nicht unterstützt“, so Gaebler. Es sei den Autofahrern nicht zu vermitteln, die ganze Stadt abzusperren. Zudem lasse die Straßenverkehrsordnung eine flächendeckende Straßensperrung gar nicht zu.

 Posted by at 14:51
Feb 182008
 

Brauchen wir einen autofreien Sonntag in Berlin? Im Gespräch ist der 1. Juni 2008. Vertreter mehrerer Fraktionen haben heute im Abgeordnetenhaus einen Antrag eingebracht, wonach das Autofahren an diesem Tag – von berechtigten Ausnahmen abgesehen – verboten werden soll. Die Leser des Tagesspiegel sprechen sich online teils dagegen, teils dafür aus. Anstoß nehmen einige daran, dass wieder ein Verbot erlassen werden soll – wieder eine Einschränkung der Freiheit von oben herab, fürchten sie.

Ich meine: Als sichtbares Zeichen dafür, dass Berlin mehr für eine vernünftigere innerstädtische Mobilität, für die Eindämmung des Autoverkehrs tun sollte, wäre so ein autofreier Tag etwas Gutes! Viele italienische Städte haben so etwas mit großem Erfolg gefeiert! Ich erinnere mich noch an den letzten Berlin-Marathon, – wie herrlich es war, mit dem Rad durch die Innenstadt zu fahren. Ganz neue Geräusche tauchten auf, man hörte plötzlich Vogelgezwitscher mitten in der Stadt. Wichtig wird sein, den autofreien Tag nicht als fühlbare „Strafmaßnahme“ zu gestalten, sondern als „Belohnung“, als eine besondere Chance, dank derer man neue Erlebnisqualitäten geschenkt bekommt. Das kann Musik sein, Straßentheater, Artisten, Jongleure können die freien Straßen bevölkern, ethnische Vielfalt kann man durch einen Erlebnispfad erfühlen, erschnuppern, ertasten – oder auch essen. Blinde und Lahme, Behinderte aller Art könnten erstmals die Straßen ohne Angst queren. Was für ein schönes Bild!

Mir gefällt auch, dass der Antrag fraktionsübergreifend eingebracht wurde – das Anliegen ist ein wahrhaft überparteiliches, dem Sinn des Ganzen kann man sich schwerlich verschließen, auch wenn das eine oder andere sachliche Argument dagegen sprechen mag.

Ich bin gespannt, was dabei herauskommt!

 Posted by at 18:45
Feb 152008
 

Im ZDF-Heute-Journal wird ein Bericht über die heutige Bundestagsdebatte zur Stammzellenforschung gebracht. Laut Bericht sprechen sich zwei Drittel der Redner für eine zeitliche Verschiebung der Stichtagsregelung aus, wonach Forschung an allen Stammzelllinien betrieben werden darf, die vor einem bestimmten Stichtag, dem 01.01.2002, gewonnen wurden. Nur ein Drittel verweigern diesem Ansinnen die Zustimmung, darunter Abgeordnete der Grünen und der PDS. Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten scheint der Meinung zuzuneigen, eine Liberalisierung und Ausweitung der Stammzellenforschung zu erlauben. Am beeindruckendsten und überzeugendsten fand ich nach all den herausgeschnittenen Spitzensätzen jedoch den Zwischenruf des Dr. Peter Radtke, den das Heute-Journal anschließend einblendete: er sprach davon, dass die Forschung an menschlichen Stammzellen stets die Vernichtung „potenziellen menschlichen Lebens“ mit sich bringe. Dem schloss sich eine eindringliche Warnung vor der Einteilung in lebenswertes und lebensunwertes menschliches Leben an – diese Einteilung habe uns schon einmal in verheerende Abgründe geführt. Er schloss: „Wehret den Anfängen!“ (Dieser Beitrag kann auf der ZDF-Videothek abgerufen werden.)

Ich meinerseits schließe mich – trotz all der Begrenztheit meiner Kenntnisse – den Ausführungen Radtkes an.

Schon vor langem wies übrigens Robert Spaemann, den ich damals als Student an der Universität München hörte, darauf hin, dass wir schlechterdings kein unstrittiges Kriterium zur Definition menschlichen Person-Seins besitzen. Sein Gedanke war, wenn ich mich über all die Jahrzehnte hinweg recht entsinne, ungefähr der folgende: Bekanntlich können in unserer Rechtsordnung nur Personen Träger von Rechten sein. Eine befruchtete Eizelle ist ja wohl keine Person. Aber ab wann ist ein menschlicher Zellhaufen dann Person? Ab dem Erwachen der Wahrnehmung und des Bewusstseins, also während der späteren Schwangerschaft, ab der Ausbildung eines echten Selbstbewussteins, also etwa ab dem 3. Lebensjahr, oder ab voll entwickelter Reflexionsfähigkeit, d.h. etwa im Alter von 16 Jahren? Spaemann kommt zu dem Schluss, dass unser allgemein gültiges Kriterium für Personalität, nämlich „Selbstsein und Selbsthabe“, untauglich sei, den Zeitpunkt festzusetzen, ab welchem menschliches Leben innerhalb unserer Rechtsordnung schützenswert sei. Wir haben, so Spaemann, kein Merkmal an der Hand, mit dem sich Person-Sein zuverlässig bestimmen lasse.

Sein einziger Ausweg, den er anbot, war geradezu frappierend wegen seiner Einfachheit und Selbstbescheidung: Wir haben kein anderes Kriterium, um schützenswertes menschliches Leben zu definieren außer der biologischen Zugehörigkeit zur Gattung Mensch. Alles, was dieser einfachen Definition unterfällt, sollte der Verfügung durch zugreifendes Handeln entzogen bleiben. Mir ist bisher kein Argument entgegnet worden, dass Spaemanns Ausführungen widerlegt hätte.

Ich schließe mich der Minderheit der heutigen Bundestagsredner, den Überlegungen Peter Radtkes und Robert Spaemanns an.

Ich bin gespannt auf die Protokolle der heutigen Bundestagssitzung. Vielleicht bieten sie grundlegend Neues, was mich von meiner hier geäußerten Meinung abbringen könnte.

 Posted by at 00:07
Feb 132008
 

… bringt heute einige hübsche Einsichten und Auskünfte zutage: über eine gute Ehe, über den Zwiespalt von öffentlich und privat – eine gelungene Fortführung unseres Zitats aus der Autobiographie der Rossanda (wir berichteten vor zwei Tagen). Wir lesen das Interview einer italienisch-französischen Sängerin aus dem aktuellen Express, in dem sie über ihren Ehemann berichtet:

Il ne correspond pas à l’image que vous aviez de lui avant de le connaître?
Je ne me faisais pas vraiment une idée précise de lui en tant qu’homme. Je pressentais simplement une forme de courage et d’énergie. J’ai découvert sa souplesse d’esprit, qui vient peut-être du fait qu’il est sûr de son identité, de ses valeurs. C’est pourquoi il est capable de changer d’avis. Moins on sait qui on est, plus on est dogmatique et sectaire. (Hervorhebung durch dieses Blog).

„Ich habe herausgefunden, dass er innerlich weich ist, wahrscheinlich, weil er sich über seine Identität, über seine Werte im klaren ist. Deshalb hat er die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern. Je weniger man weiß, wer man ist, desto dogmatischer und sektiererischer ist man„.

Ich finde, das ist trefflich gesagt – nein – es ist gesungen!

 Posted by at 22:16

Uyum, Leute & Gurbetciler! Denkt dran: Hepimiz insaniz!

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Feb 122008
 

Richtige Wellen hat der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in der Bundesrepublik ausgelöst. Da ich fast kein Türkisch kann und bei den Auftritten nicht dabei war, habe ich die deutsche Presse der beiden vergangenen Tage durchforscht. Viel mehr oder minder Gutes und Beherzigenswertes fand ich darin, überwiegend Zustimmenswertes, aber am meisten gelernt habe ich aus drei Kommentaren der FAZ, in denen die Autoren unter Beweis stellen, dass sie den Blick in beide Länder hinein wagen können, dass sie das Eigentümliche des Sprechens und Redens sowohl auf deutsch wie auf türkisch zu erfassen vermögen. „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, soll Erdogan gesagt haben. Wirklich? Hat er nicht Türkisch geredet? Was hat er damit gemeint? Hier helfen die drei genannten Kommentare weiter. Lesen Sie Auszüge:

Rainer Hermann in der FAZ:

Problematischer ist noch der Umgang mit dem Begriff Integration. Hier zeigen sich Verständigungsschwierigkeiten: Meist gebrauchen dafür die türkischen Medien und Politiker den Begriff „uyum“, Harmonie also. In Harmonie kann man nebeneinander leben, ohne dass man integriert ist. Je konkreter aber die Integrationspolitik der Bundesregierung geworden ist, desto stärker ist auch die türkische Regierung gefordert, es ihr gleichzutun.

In ihrem Lebensgefühl trennen die Türken in der Türkei und in Deutschland aber Welten. „Begriffe verraten das Denken“, sagt der türkische Dramaturg Aydin Engin, der nach dem Militärputsch von 1980 einige Jahre in Frankfurt im politischen Exil gelebt hatte. Auch am Montag schrieben die türkischen Zeitungen wieder von den „gurbetciler“, vor denen in Köln Erdogan gesprochen habe: Die regierungsnahe Zeitung „Zaman“ ebenso wie das Massenblatt „Hürriyet“. Erstmals tauchte der Begriff des „gurbetci“, des in der Fremde Lebenden, in den sechziger Jahren auf, erinnert sich Engin, als ungebildete Männer aus ihren ostanatolischen Dörfern aufbrachen, einige Monate in den Großstädten auf dem Bau arbeiteten und dann mit vollen Taschen in ihre Heimat zurückkehrten.

Volker Zastrow in der FAZ:

Hepimiz insaniz – das heißt: Wir alle sind Menschen. Diese Worte hat der türkische Ministerpräsident Erdogan in Ludwigshafen den zumeist türkischen Zuhörern zugerufen, über das Fernsehen haben sie Millionen weitere Türken und Deutsche erreicht. Seither hat Erdogan bei den Deutschen vermutlich einen Stein im Brett – und wenn er nicht Türke wäre, sondern Amerikaner oder Franzose, würde man seinen Namen in einem Atemzug mit dem Kennedys und de Gaulles nennen, die es einst auch vermocht hatten, das richtige Wort zum richtigen Zeitpunkt zu finden.

Zastrow meint darüber hinaus, Erdogan sei ein Staatsmann, dem kaum jemand das Wasser reichen könne, obwohl man den „Tag nicht vor dem Abend loben solle“. Erdogans gemäßigter Islamismus sei das Gegenteil des gewaltbereiten Fundamentalismus. Nun, mit ganz ähnlichen Worten habe ich mich schon im Herbst letzten Jahres geäußert, öffentlich, in der Blogosphäre, und auch privat. Damals erntete ich keine Zustimmung. Das könnte sich ändern. In jedem Fall bleibe ich dabei: Wir Europäer müssen uns „natürliche Verbündete“ schaffen, wo immer dies möglich ist – gerade in der Türkei. Dort sind Erdogan und mehr noch der Staatspräsident Gül gute Kandidaten.

Berthold Kohler in der FAZ:

Doch muss die Republik sich inzwischen eine noch unbequemere Frage stellen: Was, wenn die Mehrheit der Türken sich gar nicht integrieren will, und zwar nach unserem, ohnehin ausgesprochen liberalen Verständnis? Wenn sie, wie von Erdogan dazu angespornt, türkische Schulen und Universitäten in Deutschland verlangt? Wenn sie eigene Parteien fordert und das Türkische als Amtssprache in Berlin-Kreuzberg? Noch meiden es alle, von einer eingewanderten ethnischen Minderheit zu sprechen. Doch weit entfernt davon sind wir nicht mehr.

Dieser letzte Kommentar schließt also mit der Frage, ob wir nicht mancherorts in Deutschland eine echte, mittlerweile autochthone ethnische Minderheit hätten, der dann – so füge ich hinzu – natürlich nicht die Rechte einer anerkannten Minderheit zu verweigern wären, wie z.B. den Deutschsprachigen Italiens im heutigen Südtirol/Alto Adige, den Deutschen in der früheren CSR bis 1939. Dazu würde etwa Türkisch als Amts- und Schulsprache gehören. Kohler meint: Wir stehen nahe davor.

Und was meint ihr?

 Posted by at 12:33
Feb 112008
 

In jedem Buch findet wohl auch der flüchtige Leser den einen oder anderen Satz, an dem sich sein Blick festliest: irgendetwas sperrt sich, der Fluss des ständigen Aufnehmens und Vergessens der nacheinander hintreibenden Sätze wird unterbrochen. Es ist, als verhakte sich ein Kahn in einer Wurzel am Grunde des Flusses. So erging es mir mit einem italienischen Satz. Ich fand ihn in den Lebenserinnerungen der Rossana Rossanda. Hier öffnet sie kurz den Vorhang in das Gespinst ihrer Erinnerungen hinein. Die italienische Kommunistin erzählt mit großer Wärme aus ihrer Kindheit und Jugend, berichtet von anregenden und begeisternden Erfahrungen der Zuwendung, des Zusammenhalts im Kampf gegen die Diktatur. Sie tritt der KPI bei, erreicht nach und nach höchste Ämter und wird Mitglied des Zentralkomitees. Aber je mehr sie sich in die Politik hineinbegibt, desto stärker verschwindet das Mädchen, die Frau Rossana. Nur manchmal bricht ein Bewusstsein für den Preis auf, den sie gezahlt hat, um sich ihrer Sache zu widmen. Oder war es etwas Ungeklärtes, etwas Verschwiegenes? Hier kommt nun der Satz, der mich in dem ganzen Buch am meisten berührt hat:

Andavo sui trent’anni, età decisiva e inquietante, e stavo fra pubblico e privato come una stentata mangrovia fra terra e mare.

„Ich ging auf die Dreißig zu, ein entscheidendes, verunsicherndes Alter, und stand zwischen öffentlich und privat wie eine kümmernde Mangrove zwischen Land und Meer.“

 

Rossana Rossanda: La ragazza del secolo scorso, Einaudi, edizione tascabile, Milano 2007, Seite 148

 Posted by at 22:00
Feb 102008
 

Wir haben Taha, Wanjas Freund aus dem Kindergarten, zu uns eingeladen.  Nach dem gemeinsamen Besuch der Kindervorstellung im Theater Endstation Sehnsucht herrscht buntes Treiben in unserer Bude – Wanja und Taha sind einfach nur glücklich, dass sie zusammen spielen und toben können. Ich schlage, weil es mir zu kunterbunt wird, eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht vor. Die beiden stimmen sofort ein. Taha erweist sich als äußerst routinierter Spieler, der uns zu Beginn durch einige Sechser gleich locker abhängt. Die Routine merke ich daran, dass er nicht mühsam von Kästchen zu Kästchen zieht, sondern im Kopf gleich vorrechnet und dann „springt“. Allerdings gibt es unterschiedliche Regeln in unseren Köpfen: Muss man bei einem Sechser herausziehen, solange noch ein Kegel im Aus steht? Oder hat man die Wahl? Wanja sagt: Man muss herausziehen, sonst „machst du die Regel kaputt„. Ich sage: „Wir kennen die Regel so, dass man rausgehen muss.“ Taha kennt es anders: „Wenn ich nicht will, muss ich nicht herausgehen.“ Nach seiner Erfahrung hat man offensichtlich die Wahl. Was meint ihr? Wie hättet ihr diese Frage entschieden?

P.S. Wir haben diese Frage entschieden. Wenn ich drei Antworten von euch Lesern bekommen, sage ich, wie unser trikulturelles Brettspiel weitergegangen ist, und was noch passierte.

 Posted by at 21:15

„Unsere Kommunikationsstrategie ist gescheitert“

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Feb 102008
 

Genießen Sie diesen Satz, der unsere heutige Betrachtung zur politischen Kommunikation einleitet! Geäußert hat ihn Karl-Theodor zu Guttenberg, ein deutscher Politiker. Welcher Partei er angehört, in welchem Zusammenhang er diesen Satz gesagt hat, spiele hier vorerst keine Rolle. Bemerkenswert ist vielmehr, dass er öffentlich eine Art Generalbekenntnis ablegt und sich selbst ausdrücklich nicht ausschließt. Das hat Seltenheitswert auf der politischen Bühne. Es ist, als hörte man zu Guttenberg den Ausruf sagen: „O electores! Peccavimus! – Oh Wähler, wir haben Fehler gemacht!“

Ferner fällt auf, das zu Guttenberg die Kommunikation – also die Darstellung politischer Inhalte gegenüber Partnern und der Öffentlichkeit – als Sache der Strategie auffasst, also nicht dem taktischen Klein-Klein und alltäglichen Scharmützel überlässt, wie man es so oft beobachtet. Noch seltener! Und schließlich gefällt es mir, dass er diesen mutigen Schritt gegenüber einem Online-Medium tut – in diesem Falle Spiegel online vom gestrigen Tage. Ich finde das gut, beherzigenswert, und ich wünsche mir, dass derartige Erkenntnisse noch häufiger zu begrüßen sein mögen! Bedenken wir: Es läuft doch wohl nach dem Ende des Blockdenkens darauf hinaus, dass kommunikative Strategien und persönliche Eigenschaften wie Lauterkeit wichtiger werden, wenn die Parteien inhaltlich immer schwerer voneinander zu unterscheiden sind. Bereits jetzt werden in den USA mit diesen strategischen Mitteln Vorwahlen – und auch Präsidentschaftswahlen überhaupt – entschieden. Die Inhalte, also die berühmten „Kampagnenthemen“, scheinen derzeit an Bedeutung zu verlieren.

Lesen Sie abschließend hier einen kurzen Abschnitt aus Spiegel online (Hervorhebung von diesem Blog):

SPIEGEL ONLINE: Die Bündnispartner sprechen hier auf der Sicherheitskonferenz vom „Krieg“, um den Nato-Einsatz in Afghanistan zu bezeichnen. Wir hingegen sagen lieber „Einsatz“ oder ähnliches. Ist das ein Fehler?

zu Guttenberg: Jeder hat seine eigene Sprache. Aber klar ist: Unsere Kommunikationsstrategie der letzten Jahre ist gescheitert, wir müssen uns hier definitiv verbessern. Das gilt für alle politischen Verantwortungsträger. In die Bevölkerung hinein und gegenüber den Bündnispartnern muss Deutschland detailgetreuer darstellen, was die Bundeswehr in Afghanistan macht und weshalb sie es tut. In den letzten Jahren wurde von unserer Seite aus mit einer gewissen Schüchternheit kommuniziert, um möglicherweise nach innen keine Verstörungen hervorzurufen. Das hat aber wohl auch dazu geführt, dass die Wahrnehmung bei unseren Bündnispartnern eine falsche ist.

 Posted by at 13:30