Mai 232008
 

Immer wieder überfällt mich die Sucht nach Stoff, ich muss dann zum nächsten Händler gehen, niste mich unbemerkt irgendwo ein, greife mir aus dem Angebot die beste Ware ab und fange an zu konsumieren, zu genießen, ich schnüffle den unnachahmlichen Geruch frischgeschnittenen Blatts und zieh mir dann ein Blatt nach dem nächsten rein. Bin ich ein Junkie? So geschah es mir gestern wieder. Irgendwo in Berlin-Mitte. Das Angebot, das mich verführte, seht ihr auf dem Foto hier oben.

Am besten gefiel mir allein schon die Auswahl der Titel. Diese sechs Bücher, zusammengelesen, werfen höchst aufschlussreiche Lichter auf die Befindlichkeit unseres Landes, auch die Tatsache, dass sie es alle auf die Bestsellerliste geschafft haben.

Platz 1 unter den sechs Büchern hat für mich übrigens inne das Buch: Warum tötest du, Zaid? Von Jürgen Todenhöfer, C. Bertelsmann Verlag, München 2008

Der Mann hat das gemacht, was ich mir immer schon gewünscht habe: Er hat intensiv zugehört, hat das Vertrauen der Menschen im Irak, im Iran, in Afghanistan gewonnen. Sein Buch bringt viele fröhliche Begegnungen mit kickenden Kindern in Irak, mit einem Märchenerzähler in Damaskus, aber auch viele traurige Geschichten von zerstörten Leben. Diese Erzählungen machen etwa ein Drittel des Buches aus. Der Autor hat „auf der Suche nach Wahrheit“ Dutzende von Interviews mit Widerstandskämpfern geführt. Etwa mit Rami, einem Geschichtsstudenten in Bagdad. Rami kämpft für einen islamischen Irak. Mit Al-Qaida. Todenhöfer bemüht sich, den Mann zu verstehen. Er berichtet auf S. 100:

Auch Deutschland, das sich im Irakkrieg so geradlinig verhalten habe, spiele inzwischen eine traurige Rolle – vor allem in Afghanistan. Er fragt mich, ob ich mir eigentlich keine Gedanken darüber mache, dass die NATO mit deutscher Unterstützung in Afghanistan mehr Zivilisten getötet habe als die Taliban.

Ich erwidere, selbst wenn diese bekannte Propagandabehauptung von Al-Qaida stimme – was ich nicht beurteilen könne -, sei das kein Grund, sich einer Terrororganisation wie Al-Qaida anzuschließen. Das Gespräch wird heftiger.

Todenhöfer lässt Meinungen ungefiltert zu Wort kommen, die in den westlichen Medien – so seine Behauptung – systematisch unterschlagen werden. Es ergibt sich so in unseren Medien „ein völlig verzerrtes Bild der Lage im Irak“ (S. 177). Den Medien in unserem Land wirft er eine verfälschte, einseitige Darstellung der Vorgänge im Orient vor, die letztlich nur als Bemäntelung einer ganzen Reihe von verbrecherischen Angriffskriegen westlicher Länder gegen islamisch geprägte Staaten diene. Das militärische Vorgehen mit Kampftruppen in Afghanistan verurteilt er als nicht zielführend. „Westliche Kampftruppen (und deutsche Tornados) haben im Irak, in Afghanistan oder in Somalia nichts verloren“ (S. 198).

Und so kommen wir zum zweiten, eher systematisch-historischen Stück seines Buches. Todenhöfer arbeitet die etwa 200-jährige Geschichte kolonialer Kriege und kolonialer Ausplünderung in den arabischen Ländern, in Irak, Iran und Afghanistan nach. Seine Bilanz ist aufrüttelnd, S. 163: „Der Westen ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt. Über vier Millionen arabische Zivilisten wurden seit Beginn der Kolonialisierung getötet.“

Das Buch enthält auch eine Reihe schlimmer Bilder aus den Zeiten der französischen und italienischen Kolonialherrschaft, ebenso wie Bilder von verstümmelten Kindern und Zivilisten aus den letzten Kriegen, die einige westliche Staaten rechtswidrig entfesselt haben. Das Buch ist eine erschütternde Anklage gegen Ignoranz, Brutalität und hemmungslose Machtausübung. „Die Hauptverantwortlichen des Irakkriegs, George W. Bush und Tony Blair, erfreuen sich bester Gesundheit und genießen ihr Leben. […] Den Preis für ihren mörderischen Krieg bezahlen andere“ (S. 215).

Eine ausführliche, kommentierte Zitatensammlung aus Bibel und Koran erstreckt sich von S. 217 bis S. 277. Befund des Autors: Die beiden Bücher haben die wesentlichen Aussagen gemeinsam. Zusammen mit einer Reihe von Thesen zum zutiefst gestörten Verhältnis des Westens zur islamischen Welt bildet sie den dritten Teil des höchst empfehlenswerten Buches. Es sollte auf dem Nachttisch keines Abgeordneten fehlen.

Mein Lieblingsbild in dem Buch ist Nr. 67. Es zeigt den Sängerwettstreit unter der 33-Bogen-Brücke in Isfahan. Jürgen Todenhöfer hatte sich über die strengsten Ermahnungen seiner offenbar hochmusikalischen Tochter Valérie hinweggesetzt und ohne deren Einwilligung an einem gemeinschaftlichen Singen teilgenommen. Auf Deutsch gab er das Wolgalied aus der Operette Zarewitsch zum besten. „Am Ende des Liedes summten die meisten iranischen Zuhörer mit. Ich bekam tosenden Beifall“ (S. 19).

Aber mein Lieblingszitat aus dem Buch ist das Zitat eines Zitates. Es steht auf S. 188 und stammt aus Lessings „Nathan“. Angela Merkel bezeichnete diese drei Worte als „die schönste Stelle des Stücks“. Sie lauten:

Sei mein Freund!

Soll ich jetzt auch nach Irak fahren? O nein! Wir sind hier in Kreuzberg in einer äußerst privilegierten Lage. Es kostet keinen Cent, mit Menschen aus moslemischen Ländern, mit deutschen Muslimen ins Gespräch zu kommen, den Dialog der Kulturen in unserem persönlichen Umfeld zu beginnen, wie Todenhöfer selbst auf S. 188 fordert. Danke, Jürgen!

 Posted by at 15:29

  3 Responses to “Sei mein Freund!”

  1. Hallo Marti, danke für Ihren Kommentar! Das wäre natürlich spannend zu erfahren, wie Ihre Eindrücke gewesen sind. „Auf der Suche nach Wahrheit“ sind alle Stimmen hochwillkommen, um so mehr, wenn sie aus persönlicher Erfahrung sprechen. Ich kenne weder Irak noch Afghanistan aus eigener Anschauung, und das macht es für mich so schwer, zu verlässlichen Aussagen zu kommen.

  2. Ich war zwar nicht im Irak, aber ich habe vor kurzem fast ein Jahr lang in Syrien gelebt, das voll ist von irakischen Flüchtkingen. Mit einigen habe ich geredet.

    Mein Eindruck war ein völlig anderer als der von Herrn Toidenhöfer.

    Entweder Todenhöfer ist vollständig einer bestimmten irakischen Propaganda aufgesessen, oder aber er will ganz bewusst ein sehr verzerrtes Bild präsentieren.

    Wie dem auch sei, sehr viele Menschen lesen eben gern so ein Buch, wo man meinen könnte, wenn wir es nur das eine oder andere besser machen, sind die Probleme lösbar.

    Die Probleme sitzen aber viel tiefer und sind vor allem aufs Innigste mit dem Islam verbunden. Das macht sie so gut wie unlösbar.

    Sich dies einzugestehen ist sehr deprimierend, die Wirklichkeit zu verkennen ist aber langfristig noch verhängnisvoller.

  3. Ja, Achmed, es freut mich wirklich. Wir brauchen mehr solche „Querstreben“ – darunter auch Menschen wie Dich! Herzlich, Johannes

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