Apr 172009
 

Der Prophet Muhammad war zutiefst eingetaucht in die Welt der jüdisch-christlichen Überlieferung. Über weite Strecken ist der Koran eine Auseinandersetzung mit den Juden und den Christen, deren Überlieferung Muhammad so genau kannte. Achmed A. W. Khammas hatte uns am 08.11.2007 in diesem Blog die Augen für diese Kontinuität zwischen Christentum und Islam geöffnet, indem er fragte: „War Mohammed Christ?“

Immer wieder entdecke ich beim Studium des Korans Aussagen, Sätze, Bilder, die mir bekannt vorkommen. Woher kannte Mohammed diese Bilder? Was war sein Hintergrund? Gestern zitierten wir Sure 22, Vers 11. „Wenn ihn eine Versuchung trifft, kehrt er seinen Blick ab.“ Heute lese ich einen ähnlichen Satz in der jüdischen Torah. Gott spricht zu Kain. Gott weiß nicht alles, aber er kann das Gesicht des Kain lesen – da gärt etwas in Kains Gesicht. Kain wendet den Blick ab, senkt ihn. Es ist das Gesicht dessen, der mit sich nicht im reinen ist. Gott spricht zu Kain, 1. Buch Mose, Kapitel 4, Vers: „Ist es nicht so: Wenn es dir gut geht, trägst den Blick hoch, und wenn du nicht gut handelst, dann lauert Fehltritt und nach dir ist sein Verlangen.“

Kaum ein anderer Satz hat mich in den letzten Tagen mehr beschäftigt als eben dieser. Ich halte diesen Dialog zwischen Gott und Kain für einen der schönsten überhaupt. Warum? Er zeigt etwas Grundlegendes: Kain, unser aller Vorfahr, ist weder völlig gut noch völlig böse. Er ist jederzeit hineingestellt in diese Entscheidung. Der Gott, der ihm begegnet, ist weder allmächtig noch allwissend. Es ist ein sprechender, ein suchender Gott. Wie der Gott des Korans auch, so lässt der Gott der jüdischen Bibel den Menschen in diese Freiheit hineingestellt. Der Mensch ist weder absolut gut noch absolut böse.

In genau diesem Sinne erklärte Yehuda Bacon, dessen Familie von den Nazis in Auschwitz umgebracht worden war, im Frankfurter Auschwitz-Prozess: „Niemand ist absolut böse, jeder hat einen Funken Menschlichkeit in sich. Jeder Mensch muss vorsichtig sein, denn jeder kann in seinem Leben in die Hölle abrutschen. Der Abgrund ist eine Gefahr für uns alle.“ Ich las dies in einem sehr profunden Artikel über die „Banalität des Bösen“ von Sebastian Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 11./12./13.04.2009.

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