Apr 292009
 

Gutes Interview über Protestbewegungen mit Roland Roth in der heutigen taz! Der Sozialwissenschaftler beklagt den mangelnden Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Jede Schicht sorgt für sich selbst, spricht mit sich selbst, kämpft für sich selbst. Und über die anderen schimpft man, lästert man, man schmeißt auch mal aus dem Schutze der anonymen Menge heraus Steine oder fackelt Autos ab. Aber dieses Man ist nicht zur Mitarbeit bereit. Dieses in sich zerklüftete Gefüge können wir die Verinselung des gesellschaftlichen Bewusstseins nennen. Innerhalb der Inseln herrscht Windstille – die Bewohner dieser Inseln halten sich wie eine Gesellschaft Stachelschweine gegenseitig warm und richten nach außen ihre starrenden Stacheln. Aber die Verantwortung für das Ganze zu übernehmen – dazu sind nur sehr wenige bereit. Im Gegensatz zum Bürgertum, das 1789 die Macht anstrebte, bringen die radikalen Protestbewegungen heute keinerlei Ethik mit, sie erheben keinen moralischen Anspruch an die Einzelnen. Sie sehen sich nicht als künftige Träger der Macht. Es herrscht eine Art Ohne-mich-Mentalität. Bester Beleg: Der Spruch „Wir zahlen nicht für eure Krise.“

Bei denen, die nicht protestieren, sondern stillhalten, herrscht hingegen weithin eine Mitnahmementalität: Bankenrettungsschirm, Umverteilung von unten nach oben, und ebenso auch Umverteilung von oben nach unten, Abwrackprämie, Staatsbürgschaften, staatliche Allmachtsphantasien, Erhöhung der Grundsicherung … man will immer das Beste für sich und für seinen Nachwuchs mitnehmen und begibt sich in eine Empfängerposition, statt selbst etwas zu schaffen.  Dieses Geflecht an wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen durchschaut Roth meines Erachtens zutreffend. Aber lest selbst – Hervorhebung durch Fettdruck von mir:

Protestforscher über 1. Mai: „An Wut mangelt es nicht“ – taz.de
Aber könnte es nicht so kommen wie bei der französischen Revolution? Dort wurde die unangreifbar scheinende Monarchie quasi über Nacht zertrümmert.

Das ist völlig unwahrscheinlich. In der französischen Revolution gab es mit dem aufstrebenden Bürgertum einen Stand mit einem starken Klassenbewusstsein: Für die damaligen Unternehmer, die Gewerbetreibenden standen auf der einen Seite die Adligen – dekadente Schmarotzer, die in Luxus schwelgten ohne jede Moral. Auf der anderen Seite stand man selbst – arbeitsam, sittsam und moralisch integer. Man empfand sich selbst als die eigentlichen Träger der Gesellschaft. Warum sollte man weiter diese prassenden Höflinge alimentieren?

Genau die gleiche Frage ließe sich heute auch stellen.

Teile des Mittelstands wurden mit dem Konjunkturprogramm ruhig gestellt. Diese Schichten glauben nahezu pathologisch an die selbstheilende Kraft des Marktes. Und wenn der es nicht schafft, muss ihm eben der Staat wieder auf die Beine helfen. Die Vorstellung eines anderen Gesellschaftsmodells existiert nicht. Natürlich stößt viele so genannte anständige Bürger das dekadente Verhalten der Finanzbranche und mancher Firmenbosse ab. Aber das bleibt folgenlos.

Warum?

Weil ihr Verhalten nicht öffentlich geächtet wird. Medien und Politiker warnten vorsorglich vor einem Manager-Bashing. Der Begriff „Bankster“ wurde bei uns nicht heimisch. In den Talkshows sitzen noch immer die alten Figuren mit den immergleichen Parolen. Auch der Chef der Deutschen Bank hat schon verkündet, man mache weiter wie bisher. Die Situation erinnert sehr an Walter Benjamin: dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.

Dann hoffen wir also mit Karl Marx aufs Proletariat?

Nicht hier. Da müssen wir schon nach Lateinamerika schauen, wo Arbeiter bankrotte Fabriken übernommen haben. Das wäre selbst nach dem Abzug von Nokia aus Bochum nicht denkbar gewesen. Es fehlt die Kultur des „Wir schaffen das auch selbst“. Weder bei den Bürgern noch bei den Arbeitern existiert das Selbstbewusstsein, die tragende Schicht der Gesellschaft zu repräsentieren.

Was brauchen wir? Nun, schon seit Wochen verfolge ich in diesem Blog einen neuen Begriff von Bürgerlichkeit. Nicht in dem läppischen Sinne, wie ihn heute manche noch vertreten, wonach zur Bürgerlichkeit ein eigenes Häuschen, ein VW Golf, eine Lebensversicherung und jährlicher Flugurlaub gehören. Ebensowenig in dem an den Schuhsohlen abgelaufenen Sinne, dass man sich als Lager-Bürgerlicher von den Lager-Linken abgrenzt.

Nein, die neue Bürgerlichkeit schließt alle ein: Sie verlangt von jedem und jeder, dass sie sich als Teilhaber des Ganzen, als Verantwortliche für das Ganze sehen. Jenseits aller durchaus legitimen Bestrebungen nach VW Golf und Pauschalurlaub setzt das Bürgerschaftliche ein. Das setzt voraus, dass alle sich als Bürger begreifen und gegenseitig anerkennen: Deutsche und hier lebende Ausländer, Adlige und Proletarier, Kranke und Gesunde, Alte und Junge, Erfolgreiche und Versager.

Dieser Weg, den jeder zunächst einmal einzeln einschlagen muss, führt von der Verinselung des Bewusstseins zur neuen Verantwortlichkeit. In der Schule wird dafür der Grundstein gelegt, etwa im Ethik-Unterricht. Dafür hätte man kämpfen sollen beim letzten Volksentscheid.

 Posted by at 16:29

Sorry, the comment form is closed at this time.