Benno Ohnesorg von SED-/Stasi-Mann erschossen

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Mai 212009
 

„Ich halte sie für Verbrecher – aber sonst habe ich nichts gegen sie“, so äußerte sich Wolf Biermann bei seiner Übersiedlung nach Berlin über die gewendete SED und deren Hilfstruppen, die Stasi-Mitarbeiter.

Sensationell, aber letztlich doch kaum überraschend kommt für mich die Nachricht, dass der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 in einem niederträchtigen Akt Benno Ohnesorg erschoß, ein IM der Staatssicherheit der DDR war. Die Bundesrepublik, aber vor allem West-Berlin war durch die Stasi-Mitarbeiter im umfassenden Sinne unterwandert. So eben auch die Polizei. Ich halte die Nachricht für glaubwürdig. Wird sie die Gesamteinschätzung der Studentenbewegung verändern?

Ich glaube kaum. Denn dass auch die zahlreichen K-Gruppen der Bundesrepublik im großen Umfange von der DDR unterwandert, gesteuert und finanziert wurden, war auch bisher schon bekannt. Die DDR arbeitete zielgerichtet an einer Zerstörung der BRD von innen her. Mord gehörte zu den Mitteln dieser Strategie. Dies ist eine bekannte Tatsache.

Der Funke der Erbitterung entzündete sich 1967 auch nicht so sehr an der feigen Erschießung eines harmlosen Demonstranten durch einen Polizisten, sondern an den mannigfachen Vertuschungsversuchen und der Verdunkelung des Vorfalls durch die Behörden und die Politik. Eine rückhaltlose Aufklärung der Vorgänge war offenbar nicht gewollt.  Beweise gegen Kurras wurden vernichtet, gegen Kurras sprechende Zeugenaussagen wurden nicht in die Urteilsfindung einbezogen. Hätten die Studenten gewusst, dass ein SED-Mitglied den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, hätte das bei einigen wenigen, aber nicht bei den meisten zu einer weniger erbitterten Haltung gegenüber diesem Staat geführt.

 Berliner Zeitung – Aktuelles Politik – Medien: Benno Ohnesorg von Stasi-Mann erschossen
Die tödlichen Schüsse auf Ohnesorg während des Schah-Besuches vor der Deutschen Oper in Berlin bildeten eine Zäsur in der bis dahin – von Tomaten- und Eierwürfen abgesehen – meist friedlichen Protestbewegung in der Bundesrepublik. Ein Funke sprang auf das ganze Land über, der Protest verließ den Universitätscampus.

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Moschee auf der Alm? – Hessischer Staatspreis sollte an Navid Kermani, Salomon Korn und J.W. Goethe gehen

 Goethe  Kommentare deaktiviert für Moschee auf der Alm? – Hessischer Staatspreis sollte an Navid Kermani, Salomon Korn und J.W. Goethe gehen
Mai 202009
 

Salomon Korn schreibt etwas, was ich verschiedentlich schon in diesem Blog angemerkt habe: Die meisten Abendländer wissen nichts über die morgenländische Herkunft vieler angeblich so ureuropäischer Errungenschaften. In einem Beitrag für Ha-Galil erklärt er unter dem Titel „Moschee auf der Alm?“:

Doch langfristig betrachtet trifft auch auf Kultur zu, dass nur der Wechsel dauerhaft ist (Ludwig Börne) und Bereicherung aus gegenseitigem Einfluss und gegenseitiger Befruchtung erwächst. Wie viele kennen und empfinden heute noch beim Anblick von Zwiebeldächern oder Welschen Hauben auf Sakral- und Profangebäuden deren Herkunft aus dem Orient? Solche Übernahmen sind nicht auf einige Architekturelemente oder eingrenzbare Regionen beschränkt.

Korn hat recht. Sollte man auf die Vergabe des Hessischen Staatspreises ganz verzichten? Nein! Man sollte sich so aus der Affäre ziehen, dass niemand sein Gesicht verliert. Meinen salomonischen Vorschlag für die Preisträgerliste untermauere ich nunmehr wie folgt mit erfundenen Begründungen für die Preisvergabe:

Navid Kermani erhält den Hessischen Staatspreis. Kermani hat durch seine vielfältigen Bemühungen, sich in die Denkart des abendländischen Chistentums hineinzuversetzen, auf beispielhafte Weise Denkräume eröffnet, die eine Einladung an Christen, Juden, Muslime und konfessionell nicht Gebundene darstellen,  ähnliche Wagnisse einzugehen.

Salomon Korn erhält den Hessischen Staatspreis. Durch seine kluge Zurückhaltung in dem Meinungsstreit um die Vergabe des Hessischen Staatspreises, verbunden mit zahlreichen Versöhnungs- und Gesprächsangeboten, hat er sich erneut als kundiger Mittler und Brückenbauer erwiesen.

Johann Wolfgang von Goethe erhält den Hessischen Staatspreis für sein Werk „West-östlicher Divan“. Nicht nur in den darin enthaltenen Gedichten, sondern ebenso sehr auch in seinen Noten und Abhandlungen erweist er sich als der bis zum heutigen Tage beste, einfühlsamste und kundigste, bis heute nicht annähernd gewürdigte Anreger eines wahrhaft befreienden interreligiösen Dialogs. Das Land Hessen erkennt mit der postumen Preisverleihung an seinen größten Sohn an, dass sich unter den lebenden Persönlichkeiten christlich-abendländischer Herkunft nach hartnäckiger Suche kein geeigneter Kandidat fand.

Der Tagesspiegel kommentierte heute:

Beim Kreuze des Propheten
Staatsposse nennt Bundestagspräsident Norbert Lammert das Theater um den Hessischen Kulturpreis und dessen Aberkennung gegenüber Navid Kermani. „Provinzposse einer überforderten Landesregierung“, schimpft der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir. Auf die Vergabe verzichten, rät Berlins Landesbischof Wolfgang Huber – und kommt nach der Lektüre von Kermanis umstrittenem Zeitungsartikel zu dem Schluss, „dass der Autor eine bemerkenswerte Offenheit für Aussagen der christlichen Theologie“ an den Tag legt.

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„Wann geht es endlich los?“ – „Wann machen wir weiter?“ – „Wann führen Sie Mozart auch mit uns auf?“

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Mai 192009
 

Mit diesen Fragen bedrängten uns die Kinder aus der Klassenstufe 1 an der Fanny-Hensel-Schule. Auf dem Programm stand heute wieder unsere unvergängliche Zauberflöte, in der Fassung für Marionettentheater. Einige Kinder aus der Klasse 1a hatten Rollen als wilde Tiere, als Katzen, Löwen, Tiger zu spielen, die vom Klang der Zauberflöte besänftigt werden. Bei den Proben taten sich besonders einige Jungs hervor – sie ließen uns ihre gesammelte Kraft spüren.

In ihrer netten Begrüßung hob die Konrektorin, Frau Ünsal-Bihler, hervor, dass Mozert derjenige sei, der ja den berühmten Marsch „alla turca“ geschrieben habe. „MOZART!“ Ahh  … die Kinder raunten wissend. Der Name Mozart ist ihnen schon gut bekannt.

Die Kinder hatten die Bühnenbilder selbst gemalt. M.elle Angela Billington trat als Sopranistin auf und sang „Ach, ich fühls …“ so ergreifend, dass mir wieder einmal fast die Tränen kamen! Dies ist eins der Geheimnisse von Mozarts Musik: Sie nutzt sich nicht ab. Je öfter ich die Ouvertüre zur Zauberflöte höre, desto göttlicher, desto unbändiger, desto freudiger erscheint mir diese Musik. „Wo bin ich hier?“, dachte ich. „Wieder einmal höre ich eine Musik mit anderen Menschen zusammen, die schon vor uns Hunderttausende gehört haben. Und nach uns werden sie ebenfalls noch hunderttausende hören. Auch noch in tausenden von Jahren!“

Die 60 Kinder hörten gesammelt, unverwandten Blickes, gespannt über 40 Minuten zu. Sie klatschten heftigen Beifall – und dann kamen die Kinder der 1b an mit ihren Bitten. Sie fühlen sich hinter der 1a zurückgesetzt, sie wollen jetzt ebenfalls die Zauberflöte inszenieren.

Beim Hinausgehen lernte ich noch „Die drei Damen“ kennen. Nein, nicht die aus Mozarts Zauberflöte, sondern aus dem Schulhof der Fanny-Hensel-Schule. Ihre Aufgabe ist, als ehrenamtliche Mediatoren bei Streitigkeiten zu vermitteln. „Aber wir richten nicht. Wir geben niemandem recht. Wir achten auf die Einhaltung von allgemeinen Regeln“, erklärten sie uns. „Nehmen Sie mal eine Kugel. Geben Sie diese Kugel an ein Kind. Das Kind darf reden, solange es die Kugel in Händen hält. Sobald es die Kugel weitergibt, ist das nächste Kind dran. Nur wer die Kugel, hat darf reden. Das wirkt! Probieren Sie es aus!“

„An dieser Schule herrscht ein guter Geist – und das ist auch Ihr Verdienst. Dafür danke ich Ihnen.“ So sage ich zu den Drei Damen zum Abschied. Denn mein Mädchen oder Weibchen (wie Papageno sagen würde, sorry, Feministinnen, der Ausdruck ist keine Diskriminierung!) drängelt. Sie will unbedingt ins Café, das heißet Ökotussi, gelegen in der Kreuzberger Großbeerenstraße, und einen Milchkaffe trinken. Das hat sie sich redlich verdient! Ich esse eine Tomatensuppe, einen Riesenteller.

Unser Foto zeigt die Wirkungsstätte der Drei Damen, nämlich den Schulhof der Fanny-Hensel-Schule. Foto veröffentlicht mit freundlciher Genehmigung des Fotografen Charles Yunck.

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Mai 192009
 

Ein Blick in die Süddeutsche Zeitung von heute bringt mehr Klarheit: Es gibt Armut vor unserer Haustür. Im Kosovo etwa: jeder siebte Kosovare hat heute weniger als einen Euro am Tag zur Verfügung. Franziska Augstein zieht unter dem Titel „Als die Menschenrechte schießen lernten“ eine insgesamt niederschmetternde Bilanz des Kosovo-Krieges, den die NATO am 24. März 1999 begann und der bis 19. Juni 1999 dauerte. Die Nato unterstützte die schlechter bewaffneten Terroristen der UCK in ihrem Kampf gegen Serbien, agents provocateurs auf beiden Seiten heizten durch tatsächliche und erfundene Massaker sowie massive Falschinformationen die Lage auf, so dass ein bewaffnetes Eingreifen der NATO gerechtfertigt erschien. Der Westen irrte. Er irrte ebenso, als er die Taliban gegen die Sowjets aufrüstete. Das Kosovo ist heute ärmer als vor dem Krieg. Wer spricht noch davon? Das sind echte Arme – und wir haben sie sogar teilweise selbst verschuldet.

Mit Hartz IV kann man leben, man hat immerhin etwa 500 Mal so viel Geld wie das ärmste Siebentel der Kosovaren. Man nagt nicht am Hungertuche, kann sich aber auch keinen neuen VW Polo leisten. Macht Geld frei? Wie wirkt sich der lange Bezug von Hartz IV auf die Psyche aus? Vera Lengsfeld schreibt in ihrem Buch Neustart:

„Es ist richtig, dass Geld frei und unabhängig macht, aber eben nur selbst verdientes Geld. Geld, das man ohne Gegenleistung bekommt, macht unfrei: Die eigenen Fähigkeiten, sich selbst zu versorgen, verkümmern, und das erhöht die Abhängigkeit von fremden Leistungen. Am Ende ist man bereit, seine Freiheitsrechte aufzugeben, um weiter versorgt zu werden“ (Vera Lengsfeld, Neustart. München 2006, S. 199).

3 Jahre später, am heutigen Tage, scheint sich auch die Linkspartei auf derartige Einsichten zu besinnen. Roland Claus, Ostkoordinator (ein herrlicher Titel!) der Linksfraktion im Bundestag, legte gestern eine wissenschaftliche Studie unter dem Titel „Leitbild Ostdeutschland 2020“ vor. Wir zitieren Sätze aus der Süddeutschen Zeitung von heute (S. 5), in denen die Feststellungen Lengsfelds wie ein Echo wiederzuhallen scheinen:

Ostdeutschland sei von Transferleistungen abhängig. „Diese Transfers aber können die Fähigkeit zu einer eigenständigen und selbstbestimmten Gestaltung sozioökonomischer Entwicklung erheblich einschränken.“

Im Klartext kommen Lengsfeld und die Linkspartei überein: Wer lange von Transferzahlungen lebt, verlernt das Handwerk des Lebens. Er wird unfrei, weil er abhängig bleibt.

Eine mögliche Lösung scheint mir zu sein: Gesellschaftlich nützliche Arbeit als Lohnarbeit anbieten! Im Pflegebereich, im Kinderbetreuungsbereich, in der Nachbarschaftshilfe, in den Vereinen, bei der Graffiti-Entfernung usw. wartet jede Menge Arbeit! So habe ich händeringend nach mehr Personal für unseren letzten ADFC-Stand gesucht. Hätte ich gewusst, wie ich an Hartz- IV-Empfänger komme, so hätten wir den Stand rund um die Uhr besetzt halten können.

Diese vielen unerledigten Arbeiten sollten den nicht armen, aber unfreien Transferempfängern angeboten werden, und dafür sollten sie bezahlt werden. Sie hätten dann ein befriedigendes Gefühl: Ich kann was, ich kann mich selbst ernähren!

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Mai 182009
 

„Die Stimmung ist nicht explosiv in Wietstock … “ – “ … aber depressiv“. So ergänze ich den Satz. Die Tagesthemen berichten in herzzerreißenden Tönen über die Armut in Deutschland. Armut? Was ist Armut? Der Paritätische Gesamtverband legte heute seine Studie zur Armut in den Regionen vor. Im „Armutsatlas“ werden große Unterschiede in der Einkommensverteilung zwischen den Regionen Deutschlands nachgewiesen. Nichts weiter! Das mag beunruhigend sein für Volkswirtschaftler, es tut dem System nicht gut. Aber es ist kein Beweis für Armut. Der Nachweis, dass Armut eine Massenphänomen sei, gelingt an keiner Stelle. Die Zeit berichtet:

Der Studie zufolge gilt als arm, wer 60 Prozent oder weniger als das mittlere Einkommen verdient. Für eine allein lebende Person sind das 764 Euro, für ein Paar ohne Kinder 1376 Euro. Die Zahlen aus dem „Armutsatlas“ des Paritätischen Gesamtverbandes spiegeln den Stand von 2007 wider.

Das heißt, als arm gilt hierzulande bereits, wer über mehr Geld (und auch mehr Kaufkraft zu paritätischen Wechselkursen) verfügt als ein Durchschnittsverdiener in der Türkei oder ein Universitätsprofesor in Russland oder ein Arbeiter in Mexiko.

Hier haben sich die Maßstäbe grotesk verschoben! Das ist wirklich eine ganz üble Stimmungsmache, was hier mit saurem Mundwinkel als Armut verkauft wird, eine Verhöhnung der Menschen, die wirklich arm sind, und das sind nun einmal Milliarden von Menschen in Afrika und in Teilen Asiens und Südamerikas. Das Etikett „Du bist arm“ lähmt jede Initiative, vor allem, wenn man dann noch in niederschmetternd trübseligen Jammerarien über die ach so verlogenen Versprechungen von blühenden Landschaften herzzerreißend schluchzt!

Die Leute, die beruflich mit Armutsbekämpfung ihr Geld verdienen,  malen die Lage in schwärzesten Farben. Sie waren offenbar nie in Weißrussland, sie waren nie in Albanien oder in Ägypten. Ich sehe diese Armen in Deutschland einfach nicht. Wo seid ihr? Ich lebe doch im Mehringplatzquartier, nach dem Sozialatlas Berlins eine Gegend, wo die meisten Menschen arm sind. Aber – es gibt bei uns keine Armen. Alle haben zu essen, alle haben Kleidung, die Kinder aller können zur Schule gehen, alle haben ein Dach über dem Kopf. Alle haben Zugang zu medizinischer Grundversorgung.

Arm im eigentlichen Sinne kann nicht sein, wer zu essen hat, wer Kleidung hat, wer zur Schule gehen kann, wer ein Dach über dem Kopf hat. Wenn diese menschlichen Grundbedürfnisse abgedeckt sind, dann ist das Wort Armut ein Mißgriff.

Ich habe selbst als Student, als Alleinstehender von weit weniger Geld gelebt, als damals 60% eines Durchschnitteinkommens betrugen. Dennoch hatte ich mein Zimmer, ich hatte ein Fahrrad, ich konnte in der Mensa essen und mir selbst etwas kochen. Arm war ich nicht, obwohl ich damals nur 30-40% eines Durchschnittseinkommens zur Verfügung hatte.

Ich habe Arme bisher nur in Russland gesehen, bittere Not, wie es das Wort Armut ausdrückt,  gibt es in Deutschland nicht in nennenswertem Umfang.

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Systeme auf der Anklagebank

 1968, Georgien, Vertreibungen, Verwöhnt, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Systeme auf der Anklagebank
Mai 182009
 

Dieses Bild zeigt den den hier schreibenden Blogger beim Lesen der Mainpost vom 24. November 1945. Auf der Domstraße gerate ich ins Plaudern mit den Betreibern des Straßencafés, spreche sie türkisch an. „Woher in der Türkei kommen Sie?“ „Wir sind Kurden!“ „Aha!“ Ich denke: Aber Türkisch sprechen sie doch alle, auch die vielen Nicht-Türken in der Türkei. Das Kurdische wurde ja über Jahrzehnte hinweg verboten und verdammt. Gut aber, dass in der Türkei allmählich kurdische Sender, kurdische Veröffentlichungen zugelassen werden! Deutschland mit seiner seit 40 Jahren erscheinenden Hürriyet gilt mittlerweile sogar als Vorbild für gelingende Minderheitenpresse.

Einen halben Sonntag verbrachte ich nach einem beruflichen Einsatz schlendernd, bummelnd, plaudernd in Würzburg. In der Residenz schließe ich mich einer deutschsprachigen Führung an, die gerade die Fresken des Gian Battista Tiepolo betrachtet. „Sehen Sie dort – das ist der Kontinent Asien. Asien wurde als Mutter der Kultur, als Wiege der Zivilisation und der christlichen Religion verehrt: deshalb sehen Sie die Gesetzestafeln des Mose, Sie sehen die erste Schrift der Menschheit, wofür man damals das Georgische hielt. Und Sie sehen die Schädelstätte Golgatha. All das verband man damals mit Asien.“ Ich vernahm’s – und staunte, dass ein Gedanke, den ich erst vor zwei Tagen erneut in diesem Blog ausgeführt hatte, mir nun großmächtig in den riesig ausgespannten Deckengemälden eines deutschen Fürstbischofs entgegentritt. Ich ziehe daraus den Schluss: Bis ins 18. Jahrhundert hinein herrschte offenbar Konsens, dass die Kulturgeschichte von Ost nach West geht. Ex oriente lux, der Weltgeist schreitet vom Aufgang zum Untergang der Sonne: die wichtigsten Errungenschaften der höheren Bildung – die Weinrebe, die Schrift, die Poesie und ebenso auch die drei morgenländischen Religionen Judentum, Christentum und Islam – sie sind alle Gewächse Asias. Offenbar wurde dieses Wissen erst im Zeitalter des Kolonialismus endgültig verdrängt. Heute wähnen etwa die meisten Europäer, die Werte des Christentums seien ursprünglich europäische Werte – was für ein Irrtum!

Eine fragende, lehrende, ergebnisoffene Demokratie brachten die USA ab 1945 nach Bayern! Can Capitalism Survive? Ein General lud 1948 ein und machte sich Gedanken darüber, ob der Kapitalismus noch eine Chance habe! Sehenswerte Ausstellung  über Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in der Würzburger Residenz. Anhand von Schautafeln, Dingen des Gebrauchs, anhand nachgestellter Szenen gelingt es, sich in die Nachkriegszeit hineinzuversetzen. Wir, die Jahrgänge ab etwa 1955,  haben ein schlüsselfertiges Land zum Geschenk erhalten, unsere Mütter und Väter rappelten sich nach gigantischen Verirrungen und Verbrechen aus Staub, Schutt und Asche auf. Ihnen gelang eine bewundernswerte Leistung. Unser Land steht heute dank ihres Zupackens besser da denn je, ganze Generationen von Kindern (darunter auch die meine) in der Bundesrepublik Deutschland haben seit 1949 bis heute keinerlei schlimme Sorgen und Nöte erlebt: keinen Hunger, keine Obdachlosigkeit, keine Zerstörungen, keine Massenmorde, keine rassische oder politische Verfolgung, keinen Krieg.

Es gab für mich und meinesgleichen keinen ernsthaften Grund, sich gegen diese neu entstandene Bundesrepublik aufzulehnen. Ich habe manchmal daran gelitten, dass der Generation der Mütter und Väter offenbar fast alles gelungen war: den Krieg hatten sie als Kinder oder Jugendliche erlebt, sie waren hineingerissen und verführt worden, und danach schafften sie den Neuanfang. Wir Kinder bekamen alles schlüsselfertig vorgesetzt. Damals trafen 12 Millionen Heimatlose und Vertriebene mittellos ein, und nach und nach fanden alle ein Unterkommen und sogar Wohlstand. „Die Integration von 12 Millionen Vertriebenen war eine große Leistung, die leider viel zu wenig gewürdigt wird“, hörte ich in den 80er Jahren als Kind meinen Vater, der selbst vertrieben worden war, oft sagen. Ich lauschte auch den gegnerischen Stimmen, die immer wieder die dunklen Machenschaften der deutschen Rüstungslobby mit den diktorischen Regimen in Südamerika und Südafrika oder die heuchlerische Sexualmoral der Kirchen geißelten. Wer hatte nun recht? War Deutschland ein durch und durch böses Land, wie es die Studenten der 68er-Bewegung zu behaupten schienen? Als halbwüchsiges Kind war ich hin- und hergerissen. Ein ganzes System – die BRD – saß wieder einmal auf der Anklagebank!

Erstaunlich bleibt, dass gerade unter diesen Umständen – als dies keinen Mut erforderte – eine so rabiat-radikale Opposition entstand, wie es sie eigentlich unterm Nationalsozialismus hätte geben müssen, aber eben damals nicht gab!

Heute muss ich sagen: Mein Vater hatte weitgehend recht in seinen Einschätzungen. Und Rudi Dutschke, an den in herrlich-augenzwinkernder Ironie sogar eine Straße in meinem Heimatbezirk erinnert, wozu nun ebenfalls keinerlei mehr Mut gehört, der hatte eben weitgehend unrecht in seinen Einschätzungen der Lage, ja, wenn man heute, im 40-jährigen Abstand die Schriften des SDS oder der K-Gruppen oder der RAF noch einmal liest, dann wird man sich fragen müssen: Woher diese Verblendung, dieser rabiate Dünkel, diese unglaubliche, hochgefährliche Verbarrikadierung in Welterklärungskäfigen? Glaubten die Menschen wirklich daran? Worum ging es da? Ich meine heute: Es ging eigentlich gar nicht um Politik, sondern um eine hochsymbolische Ablösung der Söhne von den Vätern. Die Politik war nur ein Spielfeld, ein Tummelplatz für nicht bewältigte intergenerationelle Schuldverstrickungen. Die Söhne setzten ein System, und das heißt ihre Väter, auf die Anklagebank.

Und wir? Unsere Gesellschaft, wir heute Erwachsenen haben es bisher nicht einmal geschafft, etwa 3 Millionen Türken so zu integrieren, dass wir wissen, dass sie wissen, woran wir sind. Dabei herrschen heute unvergleichlich bessere, materiell unvergleichlich reichere Ausgangsbedingungen als damals in der Nachkriegszeit. Es gäbe eigentlich genug Geld, um die Bildungsmisere in Berlin etwa rasch zu beenden.  Ich glaube, die Integration der zugewanderten Gruppen, die Schaffung eines neuen, gemeinsamen Selbstbildes, das ist die große Aufgabe, die vor uns liegt. Ich halte sie für nicht einmal halb so groß und halb so schwierig wie die Integration der 12 Millionen Vertriebenen nach dem Krieg, für nicht einmal halb so schwierig und nicht einmal halb  so groß wie den Wiederaufbau eines verwüsteten Landes.

Selbst hier stehen wir „Söhne und Töchter“ gegenüber den „Vätern und Müttern“ nicht so gut da: damals, in den 60-er Jahren, suchten die Studentenführer händeringend und steinewerfend nach irgendwelchen, an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen, und heute können die Väter, die jetzt schon längst Großväter sind oder gestorben sind, auf uns sehen und sagen: „Na, nun macht mal! Zeigt es uns! Messt eure Leistungen an dem, was wir damals geleistet haben!“

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Mai 182009
 

 Yussuf – so heißt ein Mitschüler meines Sohnes. In Yussuf benannte sich auch Cat Stevens nach seinem Übertritt zum Islam um. Würdet ihr glauben, dass dieser Yussuf kein anderer ist als der Joseph aus dem 1. Buch Mose, das Juden wie Christen gemein ist?

Diesem Joseph oder Yussuf begegnete ich gestern beim Spazierengehen in Würzburg. Ihr seht ihn dort oben. Es war ein herrlich leichter, hingezauberter Abend. Die alte Mainbrücke zu überschreiten, den Blick der ruhig vertäuten Kähne zu genießen und ein paar Worte unter Freunden zu wechseln, das war für mich gestern ein schöner Augenblick.

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So wie Navid Kermani oder Necla Kelek uns einen neuen Blick auf das Kreuz lehren können, so vermag es Goethe, die Eigenart des Islam genauso hervortreten zu lassen wie auch sein Strenges und Hartes. Ähnlich wie Kermani gelingt es ihm, in Anziehung und Abstoßung des Eigene und das Fremde geradezu sinnlich spürbar werden zulassen.

Goethe schreibt in seinen Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans in dem Mahomet benannten Kapitel:

Nähere Bestimmung des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplificationen aller Art, gränzenlose Tautologien und Wiederholungen  bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von Neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnöthigt.

Eine der wenigen im echten Sinne erzählenden Suren ist die Sure 12. Sie ist ganz dem Josef (ungarisch: Joschka, arabisch: Yusuf, bairisch: Sepp) gewidmet. Goethe rühmt an der koranischen Umarbeitung der biblischen Josefsgeschichte, sie sei bewundernswürdig.  Die Überlieferungen des Alten Testaments beruhen – so Goethe – „auf einem unbedingten Glauben an Gott, einem unwandelbaren Gehorsam und also gleichfalls auf einem Islam“.

So wie Kermanis Bildmeditationen das beste sind, was ich seit einigen Monaten über das Christentum gelesen habe, so stellen Goethes Meditationen über Mahomet das beste dar, was ich seit vielen Wochen aus der Feder eines Nicht-Muslims über den Islam gelesen habe. Ohne flache Multi-Kulti-Versöhnlichkeit gelingt es Goethe, sich in Lebenswelt und Schriftsinn des Koran hineinzuversetzen, sich in ihn einzufühlen, ohne die eigene, abendländische Denkart preiszugeben.

Der Goethe des West-östlichen Divans ist DER große Anreger für uns in der Bundesrepublik Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Er muss gleichberechtigt an die Seite des bekannteren Goethe gestellt werden, der den Faust geschrieben hat!

Schließen wir diese kurze Abendandacht mit einem Zitat aus der 12. Sure, Vers 92-93. Sie kann uns zeigen, wie innig verschwistert Judentum, Christentum und Islam sind und bleiben. Denn alle drei Religionen erzählen in immer neuen Abwandlungen das spannungsreiche Thema der Entfremdung zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Bruder und Bruder. Ob Cat „Yussuf“ Stevens, ob Josef „Joschka“ Fischer sich immer bewusst waren, welche Kraft in ihrem Namen lag? Ihrem hebräischen Namen, der bedeutet: ER fügt hinzu? Denn nachdem Josef von seinen Brüdern verraten und verkauft worden war und der Vater aus Gram und Kummer das Augenlicht verloren hat, führt er zuletzt die große Versöhnung herbei, indem er sein Hemd weggibt und hinzufügt und dabei seinen Brüdern sagt:

„Keine Schelte soll heute über euch kommen. Gott vergibt euch, Er ist ja der Barmherzigste der Barmherzigen. Nehmt dieses mein Hemd mit und legt es auf das Gesicht meines Vaters, dann wird er wieder sehen können.“

Das heißt: Die Versöhnung geht vom Sohn aus, nicht vom Vater. Heißt sie deshalb Ver-söhnung, also Wiederherstellung des Sohn-Seins? Etymologisch nicht, denn das Wort stammt von Sühne ab. Aber in einem tieferen Sinne stimmt dieses Brückenbild. Joseph oder Yussuf – sie stehen im Bilde gesprochen „auf der Brücke“, sie sind die großen Hinzufüger, die großen Schenkenden.

Versöhnung geht in der Josefsgeschichte von dem aus, dem Unrecht angetan wurde, nicht von den Tätern des Unrechts. Und die Versöhnung macht im vollen Umfang „sehend“.

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Quellen:

Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Mit Einleitungen von Karl Goedeke. Erster Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885,  S. 555-557

Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan. Gütersloher Verlagshaus, 4. Auflage, Gütersloh 2007, S. 185

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Mai 172009
 

Wenig Hochachtung zollten die SPD-Genossen dem Direktkandidaten Björn Böhning. Sie gaben Klaus-Uwe Benneter den Vorzug, nominierten ihn mit deutlichem Vorsprung auf die Landesliste. Eine Klatsche für Kreuzberg?

Berliner SPD: Wowereit bändigt erzürnte Genossen – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Für Böhning, der die Politik von Klaus Wowereit in der Senatskanzlei maßgeblich mitgestaltet, ist das Ergebnis eine bittere Enttäuschung – gerade für die Linken in der SPD. […]  Um das [den Einzug in den Bundestag, Anm. d. Red.]  zu schaffen, wird Böhning jetzt seinen Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg direkt gewinnen müssen. Leicht ist das nicht.

Gegen Böhning treten nämlich Vera Lengsfeld, Markus Löning, Hans-Christian Ströbele und Halina Wawzyniak an. Dabei sind Ströbele und Löning nicht über die Landesliste abgesichert, Lengsfeld liegt auf dem nicht sicheren Listenplatz 6, Wawzyniak liegt auf dem ebenfalls nicht sicheren Listenplatz 5.

Fazit: Es wird noch ein bisschen spannender in unserem Wahlkreis, da die Unsicherheit wächst.

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Mai 162009
 

16052009.jpg Gestern zitierten wir zustimmend den Katholiken Joseph Ratzinger. Heute zitieren wir zustimmend den Katholiken Joseph Fischer. Wie denn das? Spät abend sah ich – soeben in Würzburg angekommen – noch auf Phoenix die Ansprache des ehemaligen deutschen Außenministers. Sein Kampfname war Joschka. Durch die Umbenennung seines katholischen Taufnamens dokumentierte der Aktivist ganz eindeutig: „Ich möchte mich in eine zutiefst verwandelnde, streitbare Auseinandersetzung mit meiner Herkunft begeben.“ Harte Widerworte, ja sogar Pflastersteine flogen in dieser Auseinandersetzung. Diese Auseinandersetzung hat Fischer nunmehr endgültig zu einer Versöhnung vorangetrieben und lässt sie harmonisch ausklingen.

Er würdigte in der bayerischen Staatskanzlei die Verdienste der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Er hob hervor: „Wir Deutsche sind die großen Gewinner des 20. Jahrhunderts.“ Uneingeschränkt zollte er auch dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, ja der Person Helmut Kohl Anerkennung und Bewunderung. Darin ähnelt Fischer übrigens Helmut Schmidt, der in seinen Memoiren Außer Dienst ebenfalls die herausragenden Verdiente Helmut Kohls anerkennt. In vielem meinte ich die Stimme meines eigenen Vaters zu hören, als ich gestern diesem früheren Kämpfer, diesem früheren widerborstigen Sohn von der Partei Die Grünen zuhörte.

Was für eine Versöhnung! Was für eine Rückkehr des verlorenen Sohnes! Und so wie Joseph alias Joschka Fischer wird es in den nächsten Jahren Tausende, ja Hunderttausende geben. Ein weiteres Beispiel für die Rückwendung zu den Vätern, für diese umfassende Aussöhnung ist übrigens Bilkay Öney, die Berliner Abgeordnete, die die Partei der Grünen verließ, um in eine Väterpartei überzutreten. Sie sagte sinngemäß laut Süddeutscher Zeitung von vorgestern: „Mein Vater hat bei meinem Schritt eine wesentliche Rolle gespielt. Viele Tränen sind geflossen. Aber ich fühle mich – das klingt jetzt vielleicht komisch – für dieses Land, diese 80 Millionen mitverantwortlich.“

Mit den 80 Millionen meint sie – Deutschland. Tränen fließen bei jedem großen Abschied. Das finde ich bewegend! Das ist genau jener Sinn für Verantwortung, den wir unbedingt brauchen. Und diese Übernahme von Verantwortung kann, so meine ich, erst dann gelingen, wenn die streitige Auseinandersetzung mit den Vätern zu einem heilenden Abschluss gekommen ist. Für einen linken Kemalisten wie den Vater Bilkay Öneys ist sicherlich in Deutschland die SPD die politische Heimat. Ist er Mitglied der SPD? Es ist zu vermuten. Durch den Übertritt in die SPD vollzieht Öney eine hochsymbolische Geste: Sie tritt der Partei der Väter bei. Sie verlässt die Partei der ewigen Töchter und Söhne.

Ihr Vorwurf an die Grünen lautete übrigens: „Denen geht es nur noch um die Macht.“ Ich wage zu behaupten: Auch in der SPD wird sie wohl ähnliche, für sie abstoßende Erfahrungen machen können – wie in jeder anderen Partei auch. In der Politik geht es selbstverständlich immer auch um Macht. Wer dies ablehnt und meint, in der Politik sollte es vor allem und ausschließlich um Moral gehen, die sollte nicht in die Politik gehen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unser Bild zeigt den Blick auf die Mariannhiller Herz-Jesu-Kirche in Würzburg, wie er sich heute beim Verlassen des Hotels meinen Augen bot. Es ist ein strahlend schöner Morgen.

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Mai 152009
 

Allzu leicht fließt vielen Mahnern die Floskel „christlich-abendländische Werte“ über die Lippen. Dabei hätte der äußerst beachtliche Besuch des Papstes Benedikt in Israel und den palästinensischen Gebieten Anlass sein können, dem nachzusinnen, was der Papst selbst immer wieder hervorgehoben hat: dem gemeinsamen Ursprung der drei Weltreligionen aus der Wurzel des alten Israel. Das Judentum und die beiden aus ihm entsprungenen Nachfolgereligionen  Christentum und Islam sind morgenländische Religionen. Bereits am Ende des 4. Jahrhunderts dachten, glaubten und beteten die Christen im wesentlichen so, wie sie das heute noch tun. Das Christentum hat sich im Orient ausgebildet, in Palästina, in Kleinasien (also dem Gebiet der heutigen Türkei), recht bald auch in der westlichen Reichshälfte, in Rom. Von da aus trat es seinen beispiellosen Siegeszug durch Europa an, ja es hat eigentlich das Europa, wie wie wir es heute kennen, erst entstehen lassen. Den Reden des Papstes ist das Bewusstsein dieses Kulturtransfers von Ost nach West, vom Morgenland in das Abendland deutlich anzumerken. Wir sind alle Schuldner Asiens.

Das Spannendste, was ich derzeit über das Christentum lesen und hören kann, fließt aus der Feder von Muslimen. So etwa derjenigen Necla Keleks. In ihrem Buch „Die verlorenen Söhne“ (München 2007) beschreibt sie eindringlich, wie die Gestalt Jesu ihr in einer ausweglos scheinenden Situation half, die Trennung von ihrer Familie und ihrem Mann zu bewältigen. Sie schreibt auf S. 227: Jesus fordert die Menschen auf, an sich zu glauben, er ermutigt sie, keine Angst zu haben, er lehrt nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind anzunehmen.  „Glaubt an mich und an euch selbst, dann wird selbst das Unmögliche möglich.“ In den Betrachtungen Keleks wird für einen Augenblick das Befreiende, das Ungeheuerliche der christlichen Botschaft spürbar.

Aber auch Navid Kermanis in der Neuen Zürcher Zeitung erschienene Kreuzesmeditationen vor einem Bild Guido Renis bergen etwas von der Glutfülle der morgenländischen Religionen. Sie führen direkt ins Mysterium der Botschaft Jesu hinein. Sie stellen eine bewundernswerte Rede und Gegenrede dar, eine beispielhafte Versenkung in das Andersartige der anderen morgenländischen Religion. Kermani nimmt zunächst Anstoß an der Kreuzestheologie – einen Anstoß, ein Ärgernis, welches auch in den neutestamentlichen Schriften wieder und wieder behandelt wird. Die Briefe des Paulus sind eine einzige Auseinandersetzung mit dem Anstoßerregenden der Kreuzesbotschaft. Und Joseph Ratzinger fasst den Nachhall dieses Ärgernisses, wenn er schreibt: „Der Skandal des Kreuzes ist vielen unerträglicher als einst der Donner des Sinai den Israeliten“ (Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, Freiburg 2007, S. 97). Doch Kermani geht einen Schritt weiter, er verharrt nicht in der Ablehnung dieses Ärgernisses. Wir zitieren aus der FAZ:

Guido Reni führt „das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische über. Sein Jesus hat keine Wunden. Er blickt in den Himmel, die Iris aus dem Weiß des Auges beinah verschwunden: Schau her, scheint er zu rufen. Nicht nur: Schau auf mich, sondern: Schau auf die Erde, schau auf uns. Jesus leidet nicht, wie es die christliche Ideologie will, um Gott zu entlasten, Jesus klagt an: Nicht, warum hast du mich, nein, warum hast du uns verlassen?“ Vor dem Altarbild, schrieb Kermani weiter, fand er den „Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man -, ich könnte an ein Kreuz glauben.“

Navid Kermanis Meditationen über das Kreuzigungsbild Guido Renis, Necla Keleks Betrachtungen zum Gleichnis vom verlorenen Sohn, aber auch das Jesus-Buch von Joseph Ratzinger halte ich für höchst beachtliche, unbedingt lesenswerte Anstrengungen, dem Kern des christlichen Mysteriums nachzuspüren. Von ihnen, von diesen drei zeitgemäßen Unzeitgemäßen, geht befreiende Kraft aus.

Doch die Welt hat es nicht erkannt! Der Hessische Kulturpreis konnte nicht an Navid Kermani überreicht werden, weil Peter Steinacker und Karl Kardinal Lehmann es ablehnten, zusammen mit Navid Kermani den Preis entgegenzunehmen. Der Jude Salomon Korn zeigte mehr Weisheit, mehr Toleranz, mehr Einsicht in die unentwirrbar vielstimmige Gestalt der morgenländischen Religionen.

Eklat um Kulturpreis: Ein deutsches Trauerspiel – Debatten – Feuilleton – FAZ.NET
Guido Reni führe „das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische über. Sein Jesus hat keine Wunden.

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Mai 142009
 

13052009008.jpg Klare Antwort: Wer sich für so nachweislich lebensrettende, aber langweilige Sachen wie etwa das Einhalten der Straßenverkehrsordnung oder das Tragen von Fahrradhelmen einsetzt, der ist im Hintertreffen gegenüber jenen, die gegen das grausame Abschlachten von Robbenbabys oder gegen die Tötungssimulationen im Paintball kämpfen. Aber was hat mehr Sinn?

Ich habe zum Beispiel als Kind sehr gerne „Völkerball“ gespielt. Dabei schoss ich mit Wonne auf Beine, Knie und Arme meiner Klassenkameraden. Furchtbar: Ich schoss sie ab. Auch spielten wir gerne mit Bleistift und Papier „Schiffeversenken“, ohne jede Rücksichtnahme auf die Tausenden von unschuldigen Seeleuten, die dabei einen jämmerlichen Tod starben. Wir spielten Ritterle, Räuber und Gendarm, Indianer und ähnliches mehr. Wurden wir dadurch, durch diese Tötungssimulationen,  zu Tötungsmaschinen? Ich bezweifle dies.

Jahr um Jahr sterben in der EU 0 (in Worten: null) Menschen an Paintball. Jahr um Jahr sterben in der EU etwa 50.000 (in Worten: Fünfzigtausend) Menschen in Verkehrsunfällen, von denen nach Meinung der Experten etwa 90% durch mehr Vorsicht und mehr Rücksicht sowie durch Einhalten der StVO vermeidbar sind.

Durch Schusswaffenmissbrauch sterben Jahr für Jahr viele Menschen! Wie viele genau – ich weiß es nicht! An den Schusswaffenmissbrauch müsste der Gesetzgeber mal ran! Aber davor scheuen sie noch zurück.  Bitte aufwachen, Bundestag! Macht doch keine solche Schaufensterpolitik!

Gestern stand ich drei Stunden im Lichtenberger Ring-Center an unserem ADFC-Stand. Wir warben für den Slogan „Radfahren – aber sicher“. Den Slogan habe ich mir selber mal einfallen lassen, bei einer Gremiensitzung des ADFC. Ich stelle ihn hiermit sehr gerne ohne Nutzungsgebühr der Allgemeinheit zur Verfügung.

Fahrradhelme und das Einhalten der Straßenverkehrsordnung senken genauso wie Vorsicht und Rücksicht nachweislich das Risiko schwerer und tödlicher Kopfverletzungen bei Fahrradfahrern. Was für eine langweilige Botschaft! Das will doch niemand hören!

Ich bin sicher: Hätten wir für oder gegen das grausame Paintball, für oder gegen das fürchterliche Robbenschlachten geworben – unser Stand wäre weit heftiger belagert worden. Aber auch so ergab sich manches anregende Gespräch. Eine Dame (nicht die abgebildete ADFC-Kameradin Barbara!) fragte mich, ob ihr Fahrradhelm in Ordnung sei. Er sitze so weit oben, sie fühle sich irgendwie pilzartig. Ich erwiderte: Das muss wohl so sein.

Wir sehen mit Fahrradhelmen alle irgendwie pilzartig aus. Pilzartig und langweilig ist immer noch besser als ein Schädeltrauma.

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Wilder, als die Polizei erlaubt, oder: „Sind Sie Berliner?“

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Mai 142009
 

gegenverkehr14052009002.jpg Immer wieder bemühe ich mich, das zu verstehen, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht. Ich spreche mit Hinz und Kunz, lese Koran und Bibel, Grundgesetz und Rosa Luxemburg, Flugblätter der Independent-Szene und FAZ.

Ergebnis: Es ist wichtig, die Verinselung des Bewusstseins zu erkennen. Fast alle leben in ihrem hübsch zurechtgemachten, inselartigen Bewusstseins-Stübchen, pflegen ihre gut abgehangenen Vorurteile, leben so, wie sie es sich angewöhnt haben und bei anderen sehen. So sprach ich vor einer Stunde mit einem Hundehalter, der hier in der Obentrautstraße trotz gut ausgebauter Radwege mit dem Fahrrad und dem freilaufenden Hund in falscher Richtung auf dem Gehweg fuhr. „Warum machen Sie das? Es gibt hier doch Radwege“, fragte ich. Er antwortete in bestem Berliner Urdeutsch: „Das ist hier in Berlin eben so. Wir Berliner fahren überall Fahrrad und wo wir wollen.“ „Ich bin auch Berliner“, erwiderte ich unbeeindruckt und trockenen Auges.

„Sind Sie wirklich Berliner?“ frug er ungläubig zurück. Und da hatte er mich auf dem kalten Fuß erwischt! Denn da ich nahezu akzentfrei Hochdeutsch spreche, falle ich hier in Kreuzberg sofort auf. Ich bin hier nicht aufgewachsen, jeder Versuch, mich dem Kreuzbergdeutsch anzupassen, wäre zum Scheitern verurteilt. Die meisten sprechen entweder Türkdeutsch oder Berliner-Schnauzen-Deutsch oder irgend eine Mischform zwischen Szeneslang und dem, was sie für Englisch halten.

Ich versuchte auf die Unfallstatistik hinzuweisen: Falschfahrende Radfahrer werden sehr häufig in Unfälle verwickelt. Es ist eine der häufigsten Unfallursachen bei den Unfällen mit Todesfolge für den Radfahrer. Ich gab zu bedenken: „Ich kenne die Statistiken der Polizei. Demnach führt das Fahren auf nicht freigegebenen Teilen des Straßenlandes sehr häufig zu Unfällen mit Verletzten.“

Na, das sah der gute Hundehalter ein. „Dann bin ich ein potenzieller Unfallherd“, erwiderte er gutmütig. Sprach’s und fuhr weiter. In Gegenrichtung auf dem Gehweg neben dem Radweg. Mit dem guten Hunde unangeleint nebenher. Gelassen läuft’s.

Das nenne ich die Verinselung des Bewusstseins: Jeder hält das, was er gerade tut, für das Beste und das Richtige. „Bei uns ist das so. Wir sind die Berliner.“ Es herrscht der allesumschlingende Konformismus der Faktizität! Den jeweils anderen wird Ahnungslosigkeit vorgeworfen.

Ich habe wieder etwas gelernt. Allerdings werde ich weiterhin in aller Bescheidenheit dafür eintreten, dass die Radfahrer sich an die Straßenverkehrsordnung halten. Tut mir leid, Jungs! Auch wenn ich kein Berliner bin, sondern bloß ein aus Süddeutschland vor 30 Jahren zugewanderter Migrant. Und die Botschaft, die ich aus dieser Frage „Sind Sie wirklich Berliner?“ heraushöre, ist: „Sie haben keine Ahnung, was MAN in Berlin macht!“

Ganz ähnliches berichtet die Berliner Polizei laut heutiger Morgenpost:

Kult-Räder Fixies – Diese Fahrräder sind wilder, als die Polizei erlaubt – Lifestyle – Berliner Morgenpost
Rainer Paetsch, bei der Berliner Polizei für Verkehr zuständig, regt diese Einstellung auf: „Bei einigermaßen durchschnittlicher Intelligenz muss klar sein, dass ein Rad gänzlich ohne Bremsen im dichten Großstadtverkehr extrem gefährlich ist.“ Neben Sportwagen, Motorrädern und zahllosen Rollern stehen in einer riesigen Halle der Berliner Polizei deshalb inzwischen auch 17 Fixies.
Fahrradkurier Adam hält nichts von dieser Gefahrenanalyse. „Die Polizei fährt diese Räder nicht. Deswegen haben sie davon auch keine Ahnung“, meint er.

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Da muss man doch nicht gleich schmollen, lieber Herr Westerwelle!

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Mai 142009
 

14052009001.jpg O tempora, o mores! Welcher Sittenverfall, welche Untreue zu den althergebrachten sittlichen Grundsätzen! So klagten wir vor nicht allzu langer Zeit, nämlich am 24.06.2008, in diesem besinnlichen Blog. Denn die im Grunde ihres Herzens hoffentlich immer noch grüngesonnene Renate Künast hatte sich öffentlich für Millionen neuer Autos, statt – wie es die CDU tat – für Millionen neuer Fahrräder starkgemacht. Ausgerechnet einen Tag, nachdem die Presse gemeldet hatte, dass Angela Merkel und Renate Künast sich beim Italiener zum Abendessen getroffen hatten. Und am letzten Wochenende haben die Grünen insgesamt ein zutiefst patriotisches Bekenntnis zu den industriellen Kernbranchen unseres Vaterlandes – einschließlich der Chemieindustrie – abgelegt (Johannes Hampels Blog berichtete). Und die rechtgesonnenen Grünen fordern forsch: „Du musst Deutsch können!“ Die alten Trennlinien verschwimmen, die Karten werden neu gemischt, die Gewissheiten des vergangenen Jahrtausends zählen nicht mehr.

Und was für schlimme Sachen lesen wir heute? Das da:

Koalitionsdebatte: Westerwelle geht auf Distanz zu Merkel – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Westerwelle zeigte sich enttäuscht von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Erst vor kurzem habe er gesagt, dass die FDP eine „bürgerliche Regierung der Mitte“ wolle. „Daraufhin sagt die Kanzlerin, sie wolle keinen Lagerwahlkampf führen und kämpfe für eine starke CDU.“ Daraus habe er die Konsequenz gezogen: „Liberal sind wir schon, aber blöd sind wir nicht. Wir kämpfen für eine starke FDP und rennen keinem Rockschoß hinterher.“

Lieber Herr Westerwelle, bitte bedenken Sie folgendes (ich zitiere Johannes Hampels Blog vom 02.07.2008):

Wir haben hier in Friedrichshain-Kreuzberg eine neue bürgerliche Mitte aus gutverdienenden Akademikern. Sie wählen mit absoluter Mehrheit die Grünen! Die CDU und die FDP machen keinen Stich bei ihnen. Und Angela Merkel oder von der Leyen haben sich erfolgreich vom Klischee “bürgerliches Lager, bürgerliche Partei” abgesetzt! Sie haben sich eindeutig vom alten Block- und Lagerdenken verabschiedet.

Vorschlag zur Güte: Streichen wir doch den Begriff „bürgerliche Regierung“ aus unserem Wortschatz. Er bringt uns nicht weiter. Die großen Aufgaben, die kurzfristig, also in den nächsten 10 bis 20 Jahren, vor uns liegen, die lauten:

1) Ein nachhaltiges Modell der Integration der zugewanderten Volksgruppen

2) Ein nachhaltiges Modell für die Fortführung der Sozialen Marktwirtschaft

3) Ein nachhaltiges Modell des Wandels, vor allem in den Bereichen Klima und Arbeitsmarkt

Die Reihenfolge der Dringlichkeit habe ich ich hier nach den Bedürfnissen meiner jetzigen Heimat, also Friedrichshain-Kreuzbergs, erstellt. Für ganz Deutschland erkenne ich hingegen folgende Reihenfolge:

1) Ein nachhaltiges Modell für die Fortführung der Sozialen Marktwirtschaft

2) Ein nachhaltiges Modell verantwortlicher Teilhabe an Wandlungsprozessen in den Bereichen Klima und Arbeitsmarkt

3) Ein nachhaltiges Modell der Integration der zugewanderten Volksgruppen

Welche Parteien können diese Aufgaben am besten anpacken? Meine Antwort: Keine und alle! Es kommt jeden Tag von neuem darauf an. Nur wer die Aufgaben in den Mittelpunkt stellt statt eigener Machtwünsche, verdient es, an die Regierung zu gelangen. Ob er oder sie sich dann bürgerlich oder links oder ökofuzzihaft oder grün oder liberal schimpft oder beschimpft wird, ist mir herzlich egal. Tandemlösungen für jedes einzelne Problem sind gefragt. Wobei auf so einem Tandem unterschiedliche Menschen Platz finden können.

Problemlösungskompetenz zählt, nicht Ampelfarben oder Schwarzgrünmalerei, lieber Herr Westerwelle.

Und nun weinen Sie bitte nicht. Gelassen läuft’s. Kehren Sie in die Mitte zurück, der Sie doch angehören. Wir Männer müssen uns schlicht damit abfinden, dass in diesem Augenblick in dieser Republik einige weitblickende Frauen in einigen Parteien eher den Schlüssel zur Lösung des ganzen Kuddelmuddels in der Hand halten als wir Männer. Auch wenn speziell diese Frauen bekanntlich keine Röcke tragen.

Unser Foto zeigt eine schiedlich-friedliche Begegnung zwischen dem smarten Zweisitzer des hier bloggenden Hobbypolitikers und dem smarten Viersitzer eines Unbekannten. Gelassen läuft’s! Aufgenommen vor einer Stunde auf dem Rückweg von der Schule in Friedrichshain-Kreuzberg.

 Posted by at 11:15