Jan 312010
 

Die deutsche Gesellschaft zerfällt zusehends. Diesen Befund habe ich wieder und wieder in diesem Blog festgestellt, und in meinem persönlichen Leben mache ich immer wieder die bestürzende Entdeckung, dass die verschiedenen Umfelder, in denen ich mich bewege, keinen Kontakt zueinander haben. Das gilt vor allem für Kreuzberg. Die Deutschen, die Russen, die Türken, die Araber, die Linken, die Bürgerlichen  – diese Volksgruppen existieren unverbunden nebeneinander her. Es gibt fast keinen gemeinsamen Nenner, hat ihn nie gegeben. Nur in Familien wie etwa der meinen vermischen sie sich. Derselbe Befund gilt in den politischen Parteien: die Grünen, die am ehesten noch den Anspruch erheben könnten, hier eine Volkspartei zu sein, sorgen für ihre Klientel, die SPD ebenso, die Linke ebenso. Jeder sorgt für sich und seine Schäfchen.

Die Kreuzberger und die Berliner Gesellschaft ist hochgradig zersplittert. Kaum jemand sieht dies.

Ein hochinteressanter Bericht über Befindlichkeitsstudien des Sozialwissenschaftlers Heitmeyer leuchtet soeben auf meinem Bildschirm auf:

Wissenschaftler schlagen Systemalarm
„Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben“, warnt Heitmeyer. Die Konsequenz: Sie suchen nach Sündenböcken. Je größer das Empfinden ist, in Zeiten sinkender Normalarbeitsverhältnisse und sprunghaft wachsender „Mal-rein/mal-raus-Arbeitslosigkeit“ zum Opfer der Verhältnisse zu werden, desto stärker scheint auch die Bereitschaft zu einer „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zu sein, die sich gegen „die Banker“ oder „Amerika“, aber auch generell gegen Ausländer oder Muslime richten kann. Ein Drittel der Befragten gab an, in Krisenzeiten könnten nicht länger die gleichen Rechte für alle Bürger gelten, gut 20 Prozent waren der Meinung, Minderheiten dürften keinen besonderen Schutz mehr erwarten.

Liest man diesen Zeitungsartikel genau, so hat erhält man geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie Sozialwissenschaften durch geschickte Art der Fragestellungen und subtil gesteuerte Deutung das gewünschte Ergebnis erzielen können. Ein Beispiel dafür? Hier kommt es:

„Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben“, warnt Heitmeyer.

Das wird man allerdings aus der Studie nie und nimmer folgern können! Denn die Studie kann gar nicht zu Aussagen über die tatsächlichen Verhältnisse gelangen. Keine Meinungsumfrage kann tatsächliche Verhältnisse abbilden. Sie kann nur Meinungen über die tatsächlichen Verhältnisse abbilden.

Eher gilt: Die Menschen haben das Gefühl, sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren.Und dieses Gefühl ist – wie jedes Gefühl – weder widerlegbar noch rechtfertigbar. Es ist eben – ein Gefühl.

Letztlich dienen solche Studien dazu, politische Paradigmen zu stützen. Die Menschen werden im Gefühl bestärkt, sich als Opfer zu sehen. Daraus folgert dann die herrschende Umverteilungspolitik die Berechtigung, noch mehr Geld für eigene Zwecke zu vereinnahmen, um den zuvor bewusst geschürten erzeugten Anschein der Ungerechtigkeit zu lindern.

Den Menschen wird eingeredet, nichts an ihrem Schicksal ändern zu können und weitere Wohltaten für sich in Anspruch nehmen zu müssen. Ein verhängnisvoller Zirkel ist in Gang gesetzt: „Ihr seid Opfer!„, sagen die Sozialwissenschaftler und die Politik. „Wir kümmern uns um euch!“ greifen die Politiker den Ball auf. Siehe Opel-Affäre. Da der Opferstatus durch die ausgeteilten Geschenke  nie und nimmer zu beseitigen ist, werden immer neue Ausgleichmaßnahmen, Geld-Umverteilungsmaßnahmen benötigt. So wird zuletzt der Staatshaushalt gesprengt.

Perfektes Beispiel: das frühere West-Berlin und das heutige Berlin.  Schuldenstand heute: 60 Mrd Euro. Erzielt durch eine stillschweigende große Koalition der Umverteiler einschließlich der alten Berliner CDU. Bedarf an Sozialhilfe und kompensatorischer Sozialpolitik: stetig wachsend. Bewusstsein dafür, dass man Opfer ist: ständig wachsend. Zahl der Opfergruppen: stetig wachsend. Zahl derer, die sich nicht als Opfer fühlen: stark fallend.

Ich werde bald meine eigene Opfer-Minderheit aufmachen könne. Wie wäre es zum Beispiel mit: „Schweinefleischverzehrer“? Da wir in der muslimischen Kreuzberger Mehrheitsgesellschaft scheel angesehen werden, weil wir Schweinefleisch verzehren, haben wir doch Anspruch darauf, als Opfer der Verhältnisse anerkannt zu werden? Ich könnte aufschreien: „Mein nichtmuslimischer Sohn ist benachteiligt! Er ist eine ausgegrenzte Minderheit. Helft uns! Wir brauchen eine aktive Schutzpolitik für die Minderheit der schweinefleischessenden Kreuzberger Kinder. Geld her, Sozialhilfe her!“

Die Absurdität der ständig neue Minderheiten, neue Benachteiligtengruppen erfindenden kompensatorischen Sozialpolitik wird an diesem Beispiel deutlich, so hoffe ich.

Was wir vielmehr brauchen, ist ein Bewusstsein der Freiheit. „Es ist dein Leben! Mach daraus, was du willst.“

So sagte es der Imam, der Vater des deutschen Moslems Hamed Abdel-Samad. Der ägyptische Imam hat recht! Hört auf den ägyptischen Imam!

Zitat: Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland. Köln 2009, S. 165

 Posted by at 16:37

  One Response to “Wie Menschen weisgemacht wird, sie verlören die Kontrolle über das eigene Leben”

  1. Ein wichtiges Element fehlt in dieser Analyse, die mir sonst aus dem Herzen spricht. Geld und Macht konzentrieren sich heute noch stärker als früher bei einer kleinen Elite, und die kauft sich eine Politik, die sie noch reicher und mächtiger, aber die Verhältnisse für den Mittel- und Unterschicht auch ständig prekärer macht.

    Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer, die Mächtigen werden mächtiger, die Normalsterblichen ohnmächtiger.

    Das ist ein durchaus objektiver Trend, der sich in dem spiegelt, was Sie, Herr Hampel, recht gut beschreiben. Praktisch hilft uns natürlich kein Jammern, kein Schreien nach mehr Staatsknete, keine Flucht aus der Verantwortung für uns selbst.

    Sie schreiben ganz richtig: \’Was wir vielmehr brauchen, ist ein Bewusstsein der Freiheit. “Es ist dein Leben! Mach daraus, was du willst.”\‘

    Aber der Trend zur Geld- und Machtkonzentration ganz oben und die Folgen in der Mitte und unten gehört schon auch mit zur Ursachenanalyse.

    Und wenn ich mir selber und jedem anderen sage: “Es ist dein Leben! Mach daraus, was du willst.” — dann gehört dazu auch das sozialpolitische Eintreten gegen den Neoliberalismus, gegen die verantwortungslosen Bankster und Absahner, gegen die vom menschlichen Alltag abgehobenen Bewohner von \“Richistan\“, die für unsereins nur Verachtung und Missachtung übrig haben, weil wir tatsächlich arbeiten müssen.

    Manche Grundentscheidung über den Weg unserer Gesellschaft treffen in der Tat nicht wir Bürger und Wähler. Sie werden hinter unserem Rücken getroffen. Ich vermute, dass das unvermeidlich ist.

    Wir Menschen sind nicht Herr der Erde, und auch nicht Herr unserer Gesellschaft. Da gibt es Größeres, das wir erkennen und anerkennen müssen. Unsere menschlichen Gehirne sind nicht dafür gemacht, unsere Welt vollständig zu begreifen.

    Aber bei aller Bescheidenheit, die ich mir da bewusst auferlege – soviel kann man doch sagen, Herr Hampel, dass Geld Macht ist und dass da eine kleine Elite von Superreichen auch in Deutschland und Europa in den letzten Jahrzehnten eine Menge neoliberale Politik durchgedrückt hat – und immer noch durchsetzt – auf unser aller Kosten.

    Darin sehe ich die eine Ursache. Die andere Ursache der Verwahrlosungstendenz: Wenn man das Leben und die Arbeit technologisch und organisatorisch ständig beschleunigt, nimmt die Zahl derer zu, die zurückbleiben. Ich kann es verstehen, wenn immer mehr Menschen das Tempo nicht mitgehen können – und dann niedersinken, aufgeben, oder wenn sie auf Abwege geraten. Verschärft man die Konkurrenz, schafft man mehr Verlierer.

    Die besonders leistungsfähigen – oder auch durch die günstige Ausgangssituation privilegierten – Geld- und Machteliten haben da kein Problem. Aber die unteren zwei Drittel der Leute schon.

Sorry, the comment form is closed at this time.