Mrz 062010
 

Beim Warten auf das Flugzeug las ich vorgestern das Buch „Die Frau mit dem roten Tuch“. Es geht um das Wiederfinden, entfaltet im E-Mail-Austausch zweier Liebender. Ich zitiere aus einer E-mail der schreibenden Frau, Solrun:

„Wir leben heute nur in einer durch und durch materialistischen Kultur, die den Kontakt mit dem Geistigen fast vollständig abgeschnitten hat – vom Jenseitigen ganz zu schweigen. Aber lies Shakespeare, lies die isländischen Sagas, wirf noch einmal einen Blick in die Bibel oder Homer. Oder hör dir an, was die verschiedensten Kulturen von ihren Schamanen und Ahnen erzählen.“

Nun, als Deutscher und als Kreuzberger würde ich der Aufstellung der wiederzulesenden Werke natürlich noch Goethe und den Koran hinzufügen. Aber im Kern hat Solruns Klage vieles für sich: Wir drohen uns abzuschneiden von wichtigen Strömen der europäischen Überlieferung. Wird es uns mit Kant, Goethe und Heine so ergehen wie den Griechen, die ihre Tragödien vollständig einbüßten mitsamt der Sprache – so dass wir Spätlinge heute mit größter Mühe daran arbeiten, sie wieder zu verstehen?

In der Düsseldorfer Neanderkirche entdeckte ich diese Gedenkplatte für  den Dichter Joachim Neander (1650-1680):

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Mir schießen seine Verse aus seinem Lied „Der Lobende“ durch den Sinn:

„Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet,
Der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet“

Wer versteht so eine Sprache heute noch? Die Menschen, die den Koran studieren, ganz sicher! Man lese nur etwa Sure 2, 212: „Und Gott beschert den Lebensunterhalt, wem Er will, ohne zu rechnen.“

Aber die anderen?

Nebenbei: Das Neandertal, nach dem der Neandertaler benannt ist, heißt nach dem Dichter Joachim Neander so. Er ging oft in diese schaurige Einsamkeit und gab sich dort seinen Empfindungen hin.

Lesehinweis:
Jostein Gaarder: Die Frau mit dem Tuch. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2010, hier S. 36

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