Apr 212010
 

Einer der wenigen Denkenden, die Europa wirklich von der Wurzel her begreifen, ist Jacques Attali.  Der aktuelle italienische Focus bringt auf den S. 137-140 ein bemerkenswertes Interview.

Focus intervista Attali sull’Europa – Focus.it – Video e Filmati

Europa, wie wir es heute verstehen, entsteht zunächst nicht durch das Christentum, sondern  durch die Hochzeit zwischen dem antiken Griechenland und dem alten Israel.  Aus dieser Begegnung sind viele andere Entwicklungen hervorgegangen, unter anderem das Christentum und der Islam. Attali sagt: „Zu glauben, dass Europa durch das Christentum definiert sei, ist ein Irrtum. Die wahren Väter Europas sind das antike Griechenland und das Judentum, aus deren Wechselwirkung vieles geboren worden ist, darunter das Christentum und der Islam.“

Dieser Auffassung schließe ich mich an. Wer Homer, Aischylos, Herodot, Platon nicht kennt, wird sich nicht kundig zur Frage äußern können: Was macht Europa aus? Warum gehört Rumänien in die EU? Wer Levitikus und die anderen, die 5 Bücher Mosis, wer die Propheten der hebräischen Bibel wie Jeremias oder Jesaias für Humbug erklärt oder nichts dazu sagen will, wird zu Karl Marx und Atatürk, aber auch zum Mieterschutz für ehemalige Kreuzberger Sozialmieter im Fanny-Hensel-Kiez verstummen.

Attalis Meinung hat erhebliche Konsequenzen für unseren Umgang mit dem Islam insgesamt, mit der Türkei insbesondere. „Der europäische Traum wird sich nur durch die Modernisierung des Islam verwirklichen lassen, der seinerseits nur dann überleben wird, wenn er die Botschaft der Moderne, die aus Europa stammt, aufzunehmen vermag.“

Das sind kühne, mutige Sätze. Attali denkt an die Zukunft. Er wünscht sich ein einiges, starkes Europa, ein Europa, das sich als „Nation“ begreift. Nur als Nation Europa wird Europa gegenüber den alten und neuen Ländern USA, Russland, China und Indien bestehen können. Damit greift Attali 50 Jahre in die Zukunft hinein. Er überspringt das Klein-Klein des EU-Alltags. Er überwölbt die Wirtschaftsgemeinschaft mit einigen starken, glanzvollen Tragwerken. Diese Tragwerke sind geistiger Art.

Zurück zur Türkei! Das Gebiet der heutigen Türkei ist Kernland für die Entstehung Europas gewesen. „Griechen“ und „Juden“,  „Heiden“ und „Christen“, Osten und Westen sind hier, im alten Asia minor, in Lydien, Kappadokien, Phrygien, Bithynien, Armenien zusammengetroffen. Einige Jahrhunderte später trafen die Türken ein, übernahmen, griffen auf, siedelten, trugen hinzu.

Auch der im 7. Jahrhundert n. Chr. entstehende Islam hat diese Begegnung zwischen Osten und Westen, zwischen Juden, Christen, zwischen Griechen und Heiden in seine Geburtsurkunde hineingeschrieben. Koran sagt etwa: „Gottes ist der Osten und der Westen. Wohin ihr euch auch wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes“ (Sure 2,115).

Etwa 1100 Jahre später sagt Goethe:

Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.

Denkende, in tiefen Brunnen schöpfende Menschen wie Attali oder Goethe, aber auch ins Wesentliche schauende Politikerinnen wie etwa Aygül Özkan legen den Blick auf die gemeinsame Grundlagenarchitektur dessen frei, was wir das geistig-geistliche Tragwerk Europas nennen können.

Diese Tragwerk bietet Platz für alle, die sich ihm anvertrauen.

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