Mai 012010
 

01052010002.jpgAls kreuzbrav-kleinbürgerlicher Kreuzberger mied ich heute sinnleere Katz-und-Maus-Spiele in meinem von auswärtigen Truppen eroberten Heimatbezirk  und begab mich stracks in den Nachbarbezirk Tiergarten. Dort verfolgte ich ein sehr ansprechendes Sprechstück über den Kampf um Arbeitsplätze: „RAUS BIST DU NOCH LANGE NICHT“. Das Weber-Herzog-Musiktheater spielt, trommelt und musiziert das Hin und Her zwischen Kündigungsdrohung, gnadenloser Effizienzmaximierung und dem Aufbegehren der Arbeiterinnen und Arbeiter in einer italienischen Fabrik. Die Fabrikbesetzungen waren eine Zeit lang in Italien sehr im Schwange. Gut gemacht, überzeugend dargeboten.

Ich gerate ins Gespräch mit  Zuschauern und Darstellern: „Wer von euch ist oder war Arbeiter?“, frage ich. Keine Hand regt sich. Das Stück, von dem ihr einen Teil hier auf Youtube sehen könnt, steht windschief zur Realität des heutigen Arbeitsprozesses in Berlin.

Bewegend ist auch der Rap einiger türkischer junger Männer vor dem Brandenburger Tor: harte, stoßartig hervorquellende Anklagen: das Leben im Knast ist hart. Überall Gitterstäbe. Das Leben ist verbarrikadiert. Dieser Gangsta-Rap, den ich hier auf Youtube hochgeladen habe, ist die Kehrseite des Raps, den ich gestern in der Fanny-Hensel-Grundschule hörte. Im Musiksaal der Schule hatten die Kinder versucht, den Sinn der Goetheschen Gedichte in ihren eigenen Worten für heutige Ohren zu formulieren. Sie traten auf Hochdeutsch in einen Dialog mit der scheinbar vergangenen Welt der Goetheschen Poesie, die doch unglaublich aktuelle Themen behandelte: Der Erlkönig das Thema des Kindesmissbrauchs, Der Fischer die Verführung durch Ausbeutung der Natur, der Zauberlehrling die Macht einer nicht mehr beherrschbaren Technik. Die Botschaft lautete: ich bin frei durch die Bindung an die Dichtung.“Wenn ich reim, werd ich frei …“ Durch die Auseinandersetzung mit der großen Tradition gewinnen die Kinder der Fanny-Hensel-Schule ihren eigenen Freiheitsraum.

Der Gangsta-Rap der 17-20-jährigen Jungs hingegen erzählt mir von Einsamkeit, von Knechtschaft, von Isolation, von Gewalt. Das ist die Welt der Straßen. In dieser Welt wachsen unsere muslimischen Jugendlichen in Berlin-Innenstadt auf. Dieser Rap kommt in jenem besonders gefärbten Türkdeutsch daher, das sich hier in Kreuzberg, Wedding und Neukölln als lingua franca der jungen Männer herausgebildet hat. Eine abgerundete, stärker zischende, weiter vorne gebildete Artikulation kennzeichnet unsere Jugendlichen als eindeutiges Produkt einer typischen Berliner Jugend. Das sind unsere Jugendlichen, das ist die nächste Generation, die hier in Berlin heranwächst.

Ich mache mir Sorgen. Hinten am Heinrichplatz toben sich unsere maßlos verwöhnten  Wohlstandskinder aus. Dort vor dem Brandenburger Tor äußerten sich andere Kinder, die Kinder der Schattenwelt. Meine stärkste Sympathie gilt an diesem Tag den arabischen und türkischen Rappern. Sie haben ihr Herz in die Hand genommen. Sie machen Kunst. Sie erzählen und halten uns den Spiegel vor.

 Posted by at 23:21

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