Jul 262011
 

Eine uralte, von Sigmund Freud wiederbelebte Einsicht der Psychoanalyse lautet: Die eigenen, versteckten, nicht eingestandenen oder verdrängten seelischen Regungen werden unbewusst häufig einem  verteufelten Anderen, einem geschmähten Gegenüber, einem Sündenbock zugeschrieben. Salopp gesagt: „Die schärfsten Kritiker der Elche sind selber welche.“ Was man sich selber nie eingestehen würde, das wird einem Sündenbock aufgeladen. Der Sündenbock wird dann rituell verjagt und in die Wüste geschickt.

So erleben wir hier seit vielen Jahren, wie die deutschen Familien aus Kreuzberg wegziehen, sobald die Kinder das Schulalter erreichen. „Wir sitzen auf gepackten Koffern.“ So formulierte es vor wenigen Jahren eine private Elterninitiative, die sich anschickte, eine Grundschule zu errichten.

Grund: Man hat Angst vor den vielen deutschen Kindern und Jugendlichen, deren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern vor vielen vielen Jahren dereinst aus den islamischen Ländern zugezogen sind. Man will die eigenen Kinder nicht zu diesen anderen Kindern schicken. Alle wissen ja, und die taz hat es gestern auf S. 18 breit bekräftigt: „Einmal Moslem, immer Moslem.“ Das heißt: Auch wenn Menschen die islamischen Länder verlassen, dürfen sie ihren Ursprungsglauben nicht ablegen. Der Islam gestattet es den Gläubigen grundsätzlich nicht, die Herkunftsreligion abzulegen. Diese muslimischen Kinder und Jugendlichen stellen hier in Kreuzberg ebenso wie in zahlreichen anderen Bezirken des ehemaligen West-Berlin die Mehrheit an den staatlichen Grundschulen. Die Vorbehalte gegenüber den neuen islamischen deutschen Mehrheiten gesteht man selbstverständlich nicht offen ein. Denn dann würde sofort das Klappmesser Islamophobie, also Angst vor dem Islam, herunterfallen. Angst vor dem Islam ist tabu. Islamophobie ist böse. Angst vor Überfremdung ist böse. Ein Reizwort, das sofort die Gegenreaktion des Rassismus-Vorwurfes auslöst.

Wie es den wenigen einzelnen nichtmuslimischen, also den christlich, jüdisch oder gar atheistisch erzogenen Kindern ergeht, die sich allein an den Grundschulen unter den muslimischen Mehrheiten bewegen, wird gar nicht gefragt. Ein weiteres unbefragtes Tabu!

Es wird stattdessen immer taktvoll gemurmelt oder gebetsmühlenhaft geleiert von „sozialen Ursachen der Bildungsarmut“ usw. Und dankbar ergreift man jede Gelegenheit, die eigene, nicht eingestandene Angst vor dem Islam auf einen Dritten zu verschieben.

Ein typisches Beispiel für diese Verteufelungsmechanismen eines bösen Gegenüber lieferte vor wenigen Tagen  wieder einmal der SPIEGEL! Alles Böse, das in der eigenen Seele kocht und brodelt, wird einem verteufelten Gegenüber in die Schuhe geschoben. Ob er dies oder jenes gesagt oder geschrieben hat, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass es möglich wird, ihm die eigenen, als böse oder gefährlich erlebten Gedanken oder Wünsche zuzuschreiben. Die Grundregung scheint zu sein: „Er hat es zwar nicht gesagt oder geschrieben, aber er könnte es gedacht haben!“ Lest selbst:

Kreuzberg-Dreh des ZDF: Kritik an Provo-Tour mit Sarrazin – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Kultur
„Belastbare empirisch-statistische Analysen, ob die Gastarbeiter und deren Familien für Deutschland überhaupt einen Beitrag zum Wohlstand erbracht haben oder erbringen werden, gibt es nicht“ hatte Sarrazin in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ geschrieben, der im Sommer 2010 erschienen war. „Für Türken und Marokkaner wird man sie sicher verneinen können. Zu groß ist das Missverhältnis zwischen der Zahl der ursprünglichen Gastarbeiter und dem dadurch ausgelösten Nachzug großer Familienverbände.“

Die Bewohner Kreuzbergs schienen nur darauf gewartet zu haben, dem prominenten Autor, der ihnen auf diese Weise das Existenzrecht in Deutschland abspricht, endlich die Meinung zu geigen. Vor dem Restaurant „Hasir“ im Herzen von Kreuzberg konfrontierte ein Mann mit Sonnenbrille den ungebetenen Besucher: „Dieser Mann hat Menschen beleidigt. Sie laufen jetzt hier, das ist unglaublich. Du kannst hier nicht sein!“

“ … der ihnen auf diese Weise das Existenzrecht in Deutschland abspricht, …?“Ein Lehrbuchbeispiel für Sündenbockmechanismen! Sarrazin hat mit keiner Silbe von „Existenzrecht“ gesprochen. Als Mann der Zahlen und Statistiken, der er zu sein scheint, hat er versucht, eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung anzustellen. Ob er recht hat, sei dahingestellt.

Eindeutig aber ist, dass SPIEGEL online dem Manne Aussagen unterstellt, die dieser weder hier noch irgendwo sonst gesagt hat, nämlich dass er den Zuwanderern das Existenzrecht in Deutschland abspreche. Ihm wird durch den SPIEGEL reflexhaft etwas unterstellt, was sich nur als Projektion aus der Psyche des schreibenden Journalisten erklären lässt. Ich meine: Der Journalist sollte in sich gehen und sich bei seinem Opfer, bei seinem Sündenbock entschuldigen.

Nichts ist gut in der Sarrazin-Debatte.

Mein analytischer Befund: SPIEGEL online erweist sich auch in diesem Artikel als deutlich islamophob, ohne es zu bemerken. Das Online-Medium lässt Gedanken und Unterstellungen einfließen, die der berichtete Vorgang nicht hergibt. Niemals hätte die Redaktion derartige Unterstellungen vor dem prüfenden Gewissen der journalistischen Redlichkeit durchgehen lassen sollen. Es grenzt an Verleumdung, was hier geschieht.

Ich persönlich bedaure übrigens, dass Sarrazin offenbar auch bei dieser Gelegenheit noch nicht gewillt oder noch nicht imstande war, wirklich frei und unbefangen auf den einen einzelnen Menschen zuzugehen, der ihm gegenübersteht. Auf diesen einen einzelnen Menschen, man könnte sagen, den Nächsten, der eben jetzt in diesem Augenblick mehr als alle Zahlen und Statistiken zählt und der von so unendlicher Wichtigkeit ist. Güner Balcı hat – soweit mir ein Urteil zusteht – wirklich alles Erdenkliche getan, um ihm diesen Schritt zu ermöglichen. Man hätte allerdings möglicherweise nicht gleich den Schritt in die Öffentlichkeit tun sollen, sondern im geschützten Raum des Hasir-Hinterzimmers die geeigneten Gesprächspartner, also den Wirt des Kreuzberger Hasir, den Vertreter der alevitischen Gemeinde, Sarrazin selbst und Balcı als bestmögliche Moderatorin zusammensetzen können.

Im Mittelpunkt: Die genannten Personen mit ihren subjektiv empfundenen Wünschen, Ansichten und Ängsten.

Der Personalismus der Mitte, wie ich ihn vertrete, scheint hierzulande leider noch in der Minderheit zu sein.

„Aber sprich nur ein einziges Wort, und so wird meine Seele gesund.“ Diesen Satz nenne ich geradezu das Merk- und Kennzeichen des „Personalismus der Mitte.“

Wer von allen Beteiligten, die da so laut ihre Stimme erhoben haben, kennt diesen wunderschönen Satz?

Mein Vorschlag: Das Kreuzberger Hasir, in dem ich selbst schon oft und gut mit muslimischen und nichtmuslimischen Freundschaften aller nur erdenklichen Herkunft gespeist habe, bietet doch ein hervorragendes Hinterzimmer mit etwa 12 Plätzen. Ich kenne es. Versucht es noch einmal – ohne Öffentlichkeit! Mit nicht mehr als 12 Personen. 12 ist eine gute Zahl.

Es ist nie zu spät für das erlösende Wort.

 Posted by at 10:58

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