Nov 102011
 

Das Christentum entsteht ganz wesentlich aus der Übersetzung gesungener und gesprochener hebräischer und aramäischer Worte in die damalige Weltsprache Griechisch. Alle europäischen Völker haben durch Übersetzungen der Grundtexte des Christentums den Weg zur Schriftlichkeit gefunden. Nachhören, Nachtasten verschiedener Übersetzungen vermag unterschiedlichste Schichten der Bedeutung freizulegen. Erst im bewussten Wählen und Entscheiden für eine Übersetzung entsteht das aufleuchtende Nu der Begegnung des Du.

καὶ δώσεις τῷ δούλῳ σου καρδίαν ἀκούειν καὶ διακρίνειν τὸν λαόν σου ἐν δικαιοσύνῃ τοῦ συνίειν ἀνὰ μέσον ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ· ὅτι τίς δυνήσεται κρίνειν τὸν λαόν σου τὸν βαρὺν τοῦτον;

Anhand der kanonischen griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, der Septuaginta, übersetze ich die vorstehende Stelle 1 Könige 3, 9 in meine grobschlächtige, unbehauene Sprache:

„Gib deinem Sklaven ein Herz um zu hören und zu rechtleiten dein Volk in Gerechtigkeit des Vernehmens nach dem Maß des Guten und Bösen: denn wer wird können dein Volk rechtleiten dieses plumpe?“

Die Einheitsübersetzung verlautet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden weiß. Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?“

Beim Lesen einer Kinderbibel mit meinem neunjährigen Sohn erreichte mich die folgende Wiedergabe derselben Stelle: „Wenn du mir wirklich etwas schenken willst, so erbitte ich für mich ein Herz, das auf dich hört und das versteht, was du wünschst. Denn deine Hilfe und deinen Rat werde ich brauchen, wenn ich dein Volk weise und gerecht führen und regieren soll.“

Martin Luther übersetzt:

So woltestu deinem Knecht geben ein gehorsam hertz / das er dein Volk richten müge / vnd verstehen / was gut und böse ist / denn wer vermag dis dein mechtig Volk zurichten?

Das griechische τὸν βαρὺν τοῦτον gebe ich eher sinnlich-wörtlich, deutlich anders wieder als der Hauptstrang der europäischen Übersetzungen: Salomon lässt sich hier heftig anklagend über dieses „schwere“, „schwierige, widerspenstige, unregierbare“ Volk aus. Das Substantiv Rechtleitung, das Verbum rechtleiten wiederum entnehme ich geläufigen deutschen Übersetzungen anderer Grundschriften anderer Religionen. Es scheint mir das gemeinte Amt des Richter-Königs am besten zu treffen.

Ein unregierbares Volk! Nicht umsonst geht’s ja gleich im ersten Gerichtsverfahren um zwei Huren, die einander das Kind wegnehmen wollen. Und so etwas soll das Volk Gottes sein!

Die hier soeben entstandene Übersetzungsvariante setzt sich ab von der eingeführten Auffassung der früheren Deuter. Das Volk wird in der hier vorgeschlagenen Übersetzung als unregierbare, unsteuerbare Menge geschildert, die jederzeit bereit ist, den Einflüsterungen der umgebenden Religionen und Kultstätten zu folgen, „da dem Namen des Herrn noch kein Haus gebaut war“. Multiple Kulte, Multikulti statt Monotheismus! Ein buntes Treiben.

Für kanonisch, für prägend halte ich jedoch die Wendung“Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz“.

Großartig ist da der weise salomonische Ratspruch: Gut ist das, was dem Kind dient. Welchen rechtlichen Status das Kind hat, wird unerheblich, solange es ihm nur gut geht. Ein großartiges Zeugnis, ein bezwingendes Zeignis für den überragenden Rang des einzelnen Lebens, das seine Würde unabhängig von rechtlicher Eindeutigkeit behauptet.

Quellen:
Septuaginta, ed. Rahlfs, Stuttgart 1979, S. 633
Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Stuttgart 1980, S. 417
D. Martin Luther. Die gantze Heilige Schrifft. Wittenberg 1545. Nachdruck im dtv Verlag, München 1974, S. 629
Sabine Rahn: Die Kinderbibel zum Vorlesen. Bilder von Britta Gotha. Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg 2009, S. 71

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