Aug 092012
 

Zu den Zeiten des Lucius Cornelius  Sulla wurden gerne politische Gegner als Scharfmacher und Abweichler gekennzeichnet, die die Axt an die Einigkeit des Volkskörpers legen. Ihre Namen wurden dann der allgemeinen Verachtung preisgegeben und auf sogenannten Proskriptionslisten veröffentlicht, das Vermögen verfiel dem Staate, viele Volksfeinde wurden hingerichtet.

Kein Zweifel: Jeder, der ein paar unbequeme Fragen stellt, wird seit Sullas Zeiten in Diktaturen an den Pranger gestellt. Dies galt auch in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Bei meinen vielen Reisen durch Russland wandelte ich auch buchstäblich auf den Spuren des Ökonomen Кондратьев Николай Дмитриевич, jenes Nikolai Kondratjew, der durch genaues Studium volkswirtschaftlicher Daten den Beweis zu erbringen glaubte, dass die kapitalistische Marktwirtschaft in etwa 30-jährigen Zyklen krisenhafte Schwankungen durchlaufe. Nach solchen Krisen erholten sich die Marktwirtschaften aber wieder. Die zentral gelenkte Planwirtschaft sei dem Kapitalismus nicht immer und überall überlegen.

Der überzeugte Kommunist Kondratiew äußerte Zweifel daran, dass der Kommunismus eines Marx, eines Lenin, eines Stalin aufgrund unwandelbarer Naturgesetze über den Kapitalismus obsiegen werde. Damit stellte er sich quer zur wissenschaftlich gesicherten Mehrheitsmeinung. Die Kommunisten ließen ihn, den Kommunisten, gerichtlich zum gefährlichen Volksfeind erklären und einkerkern, und sie erschossen ihn durch Hinrichtung am 17.09.1938 – wie sie, die Kommunisten, dies auch mit einigen anderen Hunderttausend Abweichlern und Volksfeinden taten, darunter auch mit dem Kommunisten Trotzkij. Am endgültigen Sieg der sozialistischen Lenkungs- und Planwirtschaft durften fortan keine Zweifel geäußert werden. Die staatlich gelenkte Presse der Sowjetunion führte einen gewissenhaften Kampf gegen Tausende und Abertausende von Zweiflern und Häretikern und meinte so – gestützt auf die Maschinengewehre und Pistolen der Geheimpolizeien (Tscheka, NKWD, KGB usw.) – den unausweichlichen Endsieg des Kommunismus zu befördern. Na, und nun, liebe Freunde, wer hat recht behalten, der Abweichler Kondratiew oder die überwältigende Mehrheit?

Um wieviel besser geht es uns heute in der Freiheit! Niemand wird auf Proskriptionslisten gesetzt, niemand wird zum gefährlichen Volksfeind erklärt. Politische Abweichler dürfen Sitz und Stimme behalten.  Auch wenn es weiterhin den medialen Pranger mit seinen Listen der „gefährlichsten Politiker“ gibt, erfreuen sich doch all die gefährlichen und allergefährlichsten Politiker Europas weiterhin bester Gesundheit.

Neuestes Beispiel? Die unbeugsamen Euro-Skeptiker Markus Söder, Αλέξης Τσίπρας, Marine Le Pen und Konsorten. Ihnen wird trotz heftiger Schimpfe kein Haar gekrümmt. Gelobt seien Demokratie, Marktwirtschaft und Meinungsfreiheit. Lest das hier:

http://www.spiegel.de/politik/ausland/die-zehn-gefaehrlichsten-politiker-europas-in-der-eurokrise-a-848424.html

Na lieber Spiegel, das war aber unvollständig! Mir fehlen in dieser halbherzigen oder besser halbseidenen, osteuropäisch arg unterbelichteten SPIEGEL-Proskriptionsliste der Tscheche Václav Klaus, der Slowake Richard Sulík, der Brite David Cameron. Sie und viele andere demokratisch gewählte Politiker der EU bemängeln – aus unterschiedlichen Gründen – am Euro den fehlenden Freiheitsraum. Sie meinen, dass die Landeswährungen unter Umständen besser geeignet seien oder sein könnten, das unterschiedliche Leistungsvermögen der EU-Staaten abzubilden und abzufedern. Deshalb müsse man dem Euro auch fernbleiben dürfen bzw. aus dem Euro auch austreten können.

Ich denke, die überwältigend zahlreichen, ja geradezu zahllosen Euro-Befürworter und Euro-Retter im deutschen Bundestag und in den europäischen Parlamenten tun gut daran, die Argumente der verschwindend geringen Minderheit anzuhören und ihnen, diesen wenigen Abweichlern, mindestens ehrliche Anstrengung zu bescheinigen, die heillos verworrene Lage der Euro-Krise zu verstehen und zu bessern. Es könnte ja sein, dass sie – Sulík oder Klaus oder Cameron – ähnlich wie Kondratiew nicht völlig unrecht haben.

Erinnern wir uns: Noch im fernen Jahr 1997 meinte Arnulf Baring – ein weiterer Abweichler für die Liste!  – erklären zu müssen: „Selbst wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktionen sind häufig, wie Kenner behaupten, weder sachkundig noch erfahren. Das Parlament läßt es an wirtschaftlicher Kompetenz beklagenswert fehlen.“

Für derartige beleidigende Einlassungen wurde Prof. Dr. Baring von Bundeskanzler Dr. Kohl in Briefen an die verantwortlichen Zeitungs-Redaktionen bekanntlich mit dem epithetum ornans Schmierfink belegt.

Ich zweifle heute hingegen nicht im geringsten daran, dass die überwältigend zahlreichen, ja geradezu unzählbaren Euro-Befürworter und Euro-Retter im Deutschen Bundestag und in den europäischen Parlamenten sich vor der Abstimmung zum Euro-Rettungsschirm ESFS und ESM redlich hineingekniet haben in die komplizierte Materie. Sie haben sicherlich bis in den Grund hinein erforscht, was „Bazooka“, „Feuerkraft“ der „Dicken Berta“, „Ewigkeitsgarantie“, „Immunität des Direktoriums“ usw. bedeuten. Sie brauchen sicherlich auch die Seite 6 der heutigen FAZ nicht mehr zu lesen, in denen ausgewiesene  Verfassungsjuristen wie Mattias Kumm und Hans-Peter Schneider auf zahlreiche, völlig ungelöste Problemlagen bei EFSF und ESM hinweisen.

Aber eben dieselbe Fachkunde und dieselbe wirtschaftspolitische Vernunft wie den zahllosen deutschen Bundestagabgeordneten muss man auch den wenigen europäischen Abweichlern wie dem Tschechen Václav Klaus, dem Slowaken Richard Sulík, dem Briten David Cameron zubilligen. Es gilt hier der eherne Grundsatz des Ius Romanum, an den Sulla sich nicht hielt: Audiatur et altera pars!

Also, carissimi amici europei, bzw. Дорогие друзья im Deutschen Bundestag und im Europäischen Parlament! Hören wir einander besser zu! Machen wir das Beste aus der Krise!

Europa gelingt gemeinsam.

Zitatnachweis:
Arnulf Baring: Eine Eurodebatte mit verengter Perspektive, in: derselbe: Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997, S. 251-254, hier: S. 253

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