Okt 102012
 

„Du mußt die Führung übernehmen!“, so schreibt Bertolt Brecht in seinem „Lob des Lernens“.

Ich glaube, dieser Aufforderung kann ich mich anschließen: „Du, du einzelner Mensch, mußt die Führung deines Lebens übernehmen. Lass dich nicht verführen!“

Brecht meinte möglicherweise: Jeder einzelne Mensch soll für sich selbst die Führung seines Lebens übernehmen. Er soll durch Lernen sein Urteilsvermögen schärfen, es soll keiner Organisation, keiner Partei, weder der Kommunistischen Partei noch der Nationalsozialistischen Partei, keiner Klasse und keiner Rasse, keiner unpersönlichen Macht die Führung seines Lebens anvertrauen. Er soll frei entscheiden, was er will oder nicht will.

Jeder Mensch soll sein eigenes Leben führen.

Allzu oft glauben die Menschen, sie seien dem Staat, der Politik, dem riesigen Steuerungsmechanismus des Finanzkapitals unterworfen. Die Strukturgläubigkeit der Menschen in Berlin fällt mir immer wieder auf. Überall jammern die Menschen:

„Der Staat sorgt nicht für uns, hindert uns am Lernen! In den viel zu großen Berliner Klassen, in den viel zu winddurchschossenen Berliner Schulen, in dem hochselektiven Berliner Schulsystem  KANN MAN NICHT LERNEN. Erst einmal muss der Staat anständige Schulen, anständige Lehrer, anständige Kitas bereitstellen, dann fangen wir zu lernen an! Und das kostet. Wenn der Staat nicht genug zahlt, können wir nicht lernen. Erst einmal muss die Politik die Bedingungen für sinnvolles Lernen schaffen, danach dann fangen wir zu lernen an!

Groteske Töne – in Dakawa in Tansania beträgt die Klassenstärke durchschnittlich 103 Kinder pro Grundschulklasse. Dennoch wird auch dort gelernt – auf dem Boden sitzend, an großen Wandtafeln. Für Bücher gibt es ja kein Geld.

Lernen kann man immer. Gerade in den heutigen Grundschulen Berlins herrscht ein unfassbar üppiges Angebot. Die materielle Ausstattung ist teurer, ist besser als je in der Geschichte.

Dennoch maulen Eltern und Kinder, Wähler und Politiker, „Bildungsforscher“ und „Bildungsexperten“ in einem fort: „Die Schulen sind nicht gut genug. Wir brauchen bessere Schulen. Wir brauchen bessere Lehrer. Erst danach werden wir zu lernen anfangen.“

Das revolutionäre Gedicht „Lob des Lernens“ von Bert Brecht verlangt hingegen jedem Einzelnen die lebenslange Anstrengung des Lernens ab – auch unter widrigsten Umständen.

Ausreden, bequemes Sich-Davonstehlen gibt es in den Augen Bert Brechts nicht. In der Mitte des Lernens steht der Lernende. Das Lernen wird gemacht und betrieben vom Lernenden.

Das ist die revolutionäre Wende zur Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein eigenes, sein selbst zu führendes Leben. Es gibt immer ein richtiges Leben, auch wenn es in den Strukturen etwas gibt, was falsch ist.

Es gibt immer ein richtiges Leben im Falschen.

Der einzelne Mensch muss lernen. Er muss sich selbst diese Anstrengung überall und immer abverlangen. Damit er sein Leben führen kann, statt von den Parteien oder von der Politik geführt zu werden.

Brecht fordert uns auf: „Lerne selbst, damit du selbst die Führung in deinem Leben übernehmen kannst!“

Bert Brecht würde sich als parteitreuer Kommunist selbstverständlich im Grabe umdrehen, wenn er diesen Eintrag des widersetzlichen Kreuzberger Bloggers läse! Aber ich meine, dass er, wenn er 125 Jahre alt würde, ebenfalls zu dieser Deutung seines Gedichts gelangen würde. Ich gehe davon aus, dass er der KPdSU und der SED, dass er dem Kommunismus, dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus nicht mehr mit dem unterwürfigen Gehorsam folgen würde, den er zu Lebzeiten gezeigt hat.

 Posted by at 14:14

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