Apr 032014
 

2014-03-02 13.02.56

Zu den verblüffenden Einsichten aus der gegenwärtigen Ukraine-Russland-Krise wird es einmal gehören, dass fast die gesamte geistige und publizistische Meinungsführerschaft im alten Westen Europas staunend gewahr werden muss, dass sie fast den gesamten Osten Europas – also alle Länder, die früher einmal zum Warschauer Pakt gehört hatten, nahezu komplett aus dem politischen Kalkül herausgehalten hatte: Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Litauen, Russland, Polen, Estland … die Liste der Länder ist lange!

Mit einer nur noch ideologisch, wo nicht gar verbohrt zu nennenden Besessenheit reitet der ehemalige europäische  „Westen“ auf der Zentralität, auf der Haupt- oder gar Alleinschuld Deutschlands an allem Bösen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert herum, ergötzt sich wieder und wieder an deutscher Schuld und deutscher Schande. Die tragende Hauptthese dieser germanozentrischen Besessenheit ist: Deutschland trage die Alleinschuld oder doch die Hauptschuld daran, dass Europa zwei Mal im 20. Jahrhundert in den beiden Weltkriegen zerstört worden sei.

Hierfür stellvertretend für tausende und abertausende  andere Beispiele nur zwei sprechende, mehr oder minder zufällig ausgewählte Belege:

Beleg 1: „Im 20. Jahrhundert hat Deutschland zweimal mit Krieg bis hin zu Verbrechen und Völkermord sich selbst und die europäische Ordnung zerstört, um den Kontinent zu unterjochen. Es wäre eine Tragödie und Ironie zugleich, wenn jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das wiedervereinigte Deutschland, diesmal friedlich und mit den besten Absichten, die europäische Ordnung ein drittes Mal zugrunde richten würde.“ So der deutsche stellvertretende Bundeskanzler Joschka Fischer im Juni 2012 in der Süddeutschen Zeitung. Eine typisch deutsche Aussage eines typisch deutschen Politikers! Historisch fragwürdig, vielleicht sogar grundfalsch ist diese These, dass Deutschland und nur Deutschland zwei Mal – zuerst im ersten Weltkrieg und dann im zweiten Weltkrieg – den gesamten Kontinent und sich selbst zerstört habe. Es handelt sich um einen reinen Glaubenssatz neben anderen denkbaren Glaubenssätzen.

Beleg 2: „… tocca ai tedeschi assumersi la responsabilità storica di salvare l’Europa, dopo averla affondata due volte in passato„, zu deutsch: „Den Deutschen kommt es zu, die historische Verantwortung für die Rettung Europas zu übernehmen, nachdem sie es in der Vergangenheit zwei Mal zugrunde gerichtet haben.“ Anonymer Klappentext ohne Quellenangabe zu dem ansonsten überaus scharfsinnigen, ja genialen Buch: „Cuore tedesco“, erschienen bei Donzelli editore im Jahr 2013.

Überall wird pathetisch beschworen die Zentralität Deutschlands für Wohl und Wehe des Kontinents, ja wohl noch gar Wohl und Wehe der Weltwirtschaft! Keine Rede mehr ist vom Zusammenprall und Zusammenspiel der europäischen Großmächte oder besser Großreiche Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal, Russland, Deutschland, Italien, Osmanisches Reich .. kopfschüttel, wie es wohl in einer Graphic Novel heißen würde   …  Leute, Freunde! Man ist versucht, den Freunden in den Arm zu fallen und auszurufen: „Zuviel der Ehre bzw. der Unehre für Deutschland!“ Deutschland ist nicht der Urquell alles Bösen und Guten in der Weltgeschichte und Weltwirtschaft.

Russland, die Sowjetunion, die Oktoberrevolution von 1917, die Angst der Völker vor der Unterjochung des gesamten europäischen Ostens unter der russisch-sowjetischen Knute, diese Angst, die ab 1917 überall in der Publizistik greifbar ist,  also eigentlich die Osthälfte Europas,  kommt schlechterdings im Bewusstsein der Mehrzahl der gebildeten Westeuropäer nicht mehr vor, sofern diese Länder denn je Interesse und Aufmerksamkeit gefunden hätten.  Gerade die westeuropäische und insbesondere die deutsche, die italienische, die spanische und griechische  Linke vergisst völlig, dass sie einmal für Marx und für den Diktator Mao, für den Diktator Lenin und den permanenten Revolutionär Trotzkij – wenn auch nicht mehr so sehr für den großen Führer Stalin – schwärmte. Aber auch die europäischen faschistischen Regimes, der Pater Tiso der Slowaken, ein Horthy der Ungarn, der Finne Mannerheim, der Ukrainer Bandera sind in den westlichen Ländern Europas aus dem historischen Gedächtnis nahezu verschwunden. Die verschwindend winzige Schar der antifaschistischen Kämpfer in den westlichen Ländern muss dazu dienen, die Terrorherrschaft sowohl der zahlreichen linken Terror-Regimes wie der zahlreichen rechten Terror-Regimes in den europäischen Staaten nach dem 1. Weltkrieg bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein zu verschleiern.

Wenn man aber nicht mit Franzosen, Italienern, Briten, Belgiern, Deutschen, Niederländern, Spaniern, sondern mit Finnen, Esten, Russen, Polen, Ungarn, Letten, Litauern, Ukrainern, Slowaken, Türken, Griechen, Kroaten … spricht, ergibt sich ein völlig anderes Bild von Deutschlands Rolle im 20. Jahrhundert. Die Völker, die im Schatten Russlands bzw. der Sowjetunion lebten, die sich häufig zwischen den zwei großen gewalttätigen Diktaturen Deutschland und Russland bedroht oder zerrieben fühlten, würden niemals, nie im Traum Deutschland und nur Deutschland die Alleinverantwortung für Wohl und Wehe Europas, für Vergangenheit und Zukunft Europas zuschreiben. Sie würden neben dem in allen Ländern der Welt rituell wieder und wieder beschworenen und verfluchten Deutschland des Nationalsozialismus niemals die prägende, gestaltende, die tiefsitzende Angst einbrennende Rolle der russisch bestimmten Sowjetunion Lenins, Berijas, Stalins, Jeschows und Chruschtschows mit ihren Millionen und Abermillionen Terroropfern unterschlagen. Sie werden neben dem „Deutschen“ und „was er ihnen angetan hat“ niemals „den Russen“ vergessen und „was er ihnen angetan hat“. Vielmehr werden sie gerade in der übermäßigen Konzentration auf deutsche Schuld und deutsche Schande, im Starren nur auf deutsches Geld – „Deutschland muss den Euro und damit Europa retten!“ –  und im Starren auf deutsche Verantwortung ein Haupthindernis für echte Kooperation und echte Gemeinschaft der gleichberechtigten europäischen Völker erkennen.

Diese erstaunliche Blindheit des ehemaligen „europäischen Westens“ für die im ehemaligen „europäischen Osten“ ab den Jahren 1917/18 ablaufenden Geschehnisse wird nun aus Anlass der Russland-Ukraine-Krise erneut überdeutlich klar. Wer es immer noch nicht wahrhaben will, dass große Teile der europäischen Vergangenheit schlechterdings nicht aufgearbeitet sind, der ist der Blindheit zu zeihen. Die Nebel beginnen sich zu lichten. Möge die Russland-Ukraine-Krise ein Ansporn sein, endlich mutige, wahrhaftige Schritte zu einem gesamteuropäischen historischen Bewusstsein zu unternehmen und dabei auch dem ehemaligen Großreich Russland, dem großen russischen Volk einen würdigen, einen ebenbürtigen, von Achtung und gegenseitigem Respekt geprägten Platz – keine russische Sonderrolle, keinen russischen Sonderweg, kein russisches Großreich, aber auch keinen russischen Platz am Katzentisch! – im Konzert der vielen europäischen Völker einzuräumen.

Quellennachweise:

Zitat des ehem. Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland Joschka Fischer hier wiedergegeben nach: George Soros im Gespräch mit Gregor Peter Schmitz: Wetten auf Europa. Warum Deutschland den Euro retten muss, um sich selbst zu retten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, S. 10

Anonymer Klappentext von „Cuore tedesco“ wiedergegeben nach: Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello tedesco, l’Italia e la crisi europea. Donzelli editore, Roma 2013 (hintere Umschlagseite)

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