Apr 162014
 

Zu den aufwühlendsten, aber auch schmerzhaftesten  Erlebnissen meiner Jugendzeit gehörte mein erster Besuch in einem ehemaligen deutschen Konzentrationslager, in diesem Fall  Maidanek bei Lublin. Ich war 15 damals im Jahr 1974, der polnische „Stadtleiter“, wie er sich nannte, ein ehemaliger Häftling, war 70 Jahre alt.

Die Qualen und Erniedrigungen des Lagerlebens schilderte unser Stadtleiter sehr anschaulich. An den deutschen, ukrainischen, lettischen und polnischen „Hitleristen“, wie er die Nazis nannte, ließ er  kein gutes Blatt. Und als typischer gebildeter Pole, der reichlich Erfahrung mit verschiedenen Diktaturen gesammelt hatte,  ließ er dann im vertrauten Gespräch bei sich zuhause an den russischen, polnischen, ukrainischen und deutschen Kommunisten ebenfalls kein gutes Blatt.

Mein Eindruck von den Schilderungen des polnischen KZ-Überlebenden war, dass Polen seit etwa 1772 bis in die damalige Jetztzeit (also 1974) stets von den drei  Seiten – von a) Russland bzw. der Sowjetunion,b)  Österreich, c) Preußen und von Deutschland her – das Schlimmste abbekommen hatte: Überfälle, Zerstückelungen, Unterdrückung, Ausplünderung.  Eine historische Erkenntnis, die vor 1990 öffentlich zu äußern sehr gefährlich war, die aber heute sicherlich von der Mehrheit der Polen und von der aufgeklärten Minderheit der Russen und der Deutschen so geteilt wird.

Ein gemeinsames Abendessen in der Wohnung des polnischen Stadtleiters beendete den Besuch. Nach reichlichem Essen und Trinken brachte jemand den Gedanken auf, wir sollten singen. Und so sangen wir. Die Polen sangen einige polnische Volkslieder, wir Deutsche sangen einige deutsche Volkslieder.

Die erste Wahl unserer Gruppe fiel auf das alte fränkische Studentenlied: „Wahre Freundschaft soll nicht wanken.“

Ein deutsches Volkslied, gesungen von Deutschen ausgerechnet in der Wohnung eines polnischen KZ-Überlebenden? Irgendwie passte mir das nicht. Der deutschenfeindliche Virus hatte mich selbstverständlich damals bereits wie die meisten Deutschen in meiner Generation erfasst. Ich konnte das deutsche Volkslied nicht ernstnehmen. Ich scherte aus. Ich jaulte das deutsche Volklied laut und falsch und übertrieben mit.

Ich – der jüngste Deutsche in der Runde – zerstörte mit dieser Äfferei den Zauber der Stunde, wie einige ältere deutsche Teilnehmer mir sofort und auf der Stelle zu verstehen gaben.

Ich bekam einen scharfen Verweis in Gestalt eines Rufes: „Johannes! Was machst du da! Du machst diesen Moment kaputt!“

Noch heute empfinde ich Scham, dass ich damals das von Deutschen und Polen gemeinsam gesungene Lied auf die „Wahre Freundschaft“ mutwillig störte und zerstörte.

„Wahre Freundschaft soll nicht wanken.“ Was ist schlimm an diesem deutschen Volkslied?

Das Lied „Wahre Freundschaft“ besingt nichts anderes als Liebe, Vertrauen, Freundschaft und Treue zwischen einem nicht näher genannten Ich und einem nicht näher genannten Du. Diese Werte gelten heute, sie galten damals, sie sind überzeitlich, sie wurden unter politisch-totalitärem Einfluss in den Jahren 1914 bis 1956 von den „Hitleristen“ und den „Stalinisten“ aller europäischen Nationen millionenfach geschändet.

Das deutsche Volkslied hat selbstverständlich wie das Ideal der Freundschaft alle Schändungen und Zerstörungen (einschließlich der des hier Schreibenden) überlebt.

Und gestern stimmte ich eigenmächtig mit lauter Stimme, deutlich, klar, gewissermaßen bußfertig und stolz ohne zu fragen bei einem gemeinsamen Volksliedersingen in einem Altenheim gegenüber der Kreuzberger Hölderlin-Apotheke genau dieses Lied an. Wir sangen es, durch mich intoniert,  in allen drei Strophen.

„Wenn der Tod mir nimmt das Leben…“ Diese Strophe mit dem Tod blieb gestern nicht ausgespart.

Ich will für dich Sorge tragen„, allein diese eine Zeile schon sollte diesem Lied, sollte ähnlichen polnischen, russischen, ukrainischen und deutschen Volksliedern einen Platz im Gedächtnis aller Nationen sichern, der Deutschen wie der Polen, der Russen und der Ukrainer  gleichermaßen.

1. Wahre Freundschaft soll nicht wanken,
Wenn sie gleich entfernet ist;
Lebet fort noch in Gedanken
Und der Treue nicht vergißt.

2. Keine Ader soll mir schlagen,
Wo ich nicht an dich gedacht,
Ich will für dich Sorge tragen
Bis zur späten Mitternacht.

3. Wenn der Mühlstein träget Reben
Und daraus fließt kühler Wein,
Wenn der Tod mir nimmt das Leben,
Hör ich auf getreu zu sein.

 

 Posted by at 15:39

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