Mai 212014
 

„Jeder der bei uns in der Ukraine die Wahrheit über die Vergangenheit sagte, wurde nach Magadan geschickt. Die meisten kamen nicht wieder. Diejenigen, die wiederkamen, erzählten wohlweislich nichts.“ So erzählte es mir persönlich eine Ukrainerin, mit der ich vor wenigen Wochen über die aktuelle Lage in der Ukraine sprach. Diese Worte der Ukrainerin fallen mir soeben wieder beim Lesen des Buches „Stalin’s children“ ein, das auf Deutsch unter dem Titel „Winterkinder“ erschienen ist. Das Geschehen – also die authentische Lebensgeschichte von drei Generationen einer russisch-englischen Familie, erzählt von einem Sohn dieser Familie – spielt überwiegend in der Ukraine. Das Buch bringt alle die Städtenamen, von denen  jetzt auch wieder die Tagespresse voll ist: Simferopol, Charkow/Charkiw, Odessa, Donezk … und viele mehr.

Stalin’s Children ist ein erzählendes, biographisches, mehrere Generationen umspannendes  Buch, das – wenn man so will – den historischen Hintergrund für die jetzige weltpolitische Auseinandersetzung liefert. Die Ukraine war ein entscheidendes Schlachtfeld, vielleicht das entscheidende Schlachtfeld  der eliminatorischen Vernichtungsstrategie der sowjetischen Kommunisten gegenüber ihren wirklichen oder eingebildeten Feinden, den „Kulaken“, den „Volksfeinden“, den „Schädlingen“, den Trotzkisten, den „Antisowjets“,  dem „Ungeziefer“. Insofern ist die Ukraine das mitteleuropäische Land par excellence, es liegt genau an der Nahtstelle zwischen Osteuropa und Westeuropa. Ich wage zu behaupten: Es IST die Nahtstelle. Es sind die „Bloodlands“, wie sie Timothy Snyder nennt, in denen sich die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte ereignet haben.

Eine zweistellige Millionenzahl an Todesopfern brachten diese eliminatorischen, systematisch geplanten und vollzogenen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten (und danach der Nationalsozialisten) hervor.

Und warum ist davon – von diesem „Holodomor“, der doch wesentlich mehr Opfer forderte, mindestens so eliminatorisch war wie der deutlich später einsetzende „Holocaust“, so wenig bekannt bei uns in der westlichen Hälfte Europas, während der Holocaust, der danach ebenfalls schwerpunktmäßig in der Ukraine und in Polen stattfand, in aller Munde ist?

Die Antwort ist zweifach:

1. Es gab fast keine Überlebenden bei den Auslöschungsaktionen der Sowjets in der Ukraine. Während der Terror der Nationalsozialisten sich im wesentlichen auf die Jahre 1933-1945 beschränkte, erstreckte sich der nicht minder brutale, nicht minder eliminatorische  Terror der Kommunisten, der sich davor, danach und gleichzeitig schwerpunktmäßig ebenfalls im Gebiet der Ukraine entfaltete, über mehr als 3 Jahrzehnte. Lange genug, um die wenigen überlebenden Augenzeugen zum Schweigen zu bringen, lange genug, um eine Mauer des Schweigens um die über viele Jahre sich hinziehenden Massenmorde zu errichten.

2. In der Sowjetunion galt ebenso wie in der DDR  mindestens bis 1956 ein absolutes Frageverbot, ein absolutes Schweigegebot über die eliminatorischen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten. Nur die oberen Kader der Kommunistischen Partei, also etwa Stalin oder Nikita Chruschtschow, hatten ein einigermaßen vollständiges Bild vom Umfang der radikalen Vernichtung, der Dezimierung und Auslöschung ganzer Völkerschaften, ganzer Klassen des Volkes durch die Kommunisten in den Jahren 1917-1953. Das Volk, die breiten Massen wurden belogen und betrogen nach Strich und Faden. Hätten nun die Kommunisten das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenverbrechen enthüllen und aufarbeiten können, so wie ja ab 1945 nach und nach das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten aufgedeckt worden ist und zu Recht auch weiter aufgedeckt wird?

Nein, sie wollten und konnten es nicht, denn die Offenlegung des ganzen Umfanges der kommunistischen Massenverbrechen in den Jahren 1917-1956  hätte der kommunistischen Herrschaft in den Staaten des Warschauer Pakts sofort jede Legitimität entzogen. Der Kommunismus wäre als Ideologie, als Lehre und als Praxis bereits kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nicht erst 1989/1990 zusammengebrochen, so wie der Nationalsozialismus im Jahr 1945 nach dem verlorenen Krieg nicht zuletzt durch die Offenlegung seines durch und durch verbrecherischen Charakters zusammengebrochen ist.  Die Kommunisten hätten bei Öffnung der Archive und bei echter Forschungs- und Redefreiheit trotz des gewonnenen Krieges bereits 1956 die Macht verloren, so wie die Nationalsozialisten 1945 die Macht verloren.  Bereits 1956, nicht erst 1989/1990 wäre die Mauer zwischen Ost und West gefallen.

Nicht zuletzt wäre es bei einer echten Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR zu zahlreichen gespaltenen Loyalitäten, zum Auseinanderbrechen von Familien, Ehen, Freundschaften  gekommen. Denn selbstverständlich sind nicht alle gläubigen Kommunisten „böse“. Im Gegenteil! Viele waren auch von lauteren Motiven beseelt. Selbst etliche Massenmörder glaubten wohl, die bis dahin nahezu singulären eliminatorischen Massenverbrechen in der Ukraine im Dienste der Menschheit vollbringen zu müssen.

If only there were evil people somewhere insidiuously committing evil deeds, and it were necessary only to separate them from the rest of us and destroy them. But the line dividing good from evil cuts through the heart of every human being. And who is willing to destroy a piece of their own heart?

Stalin’s children / Winterkinder – ein lesenswertes Buch. Ihm entnehmen wir dieses obenstehende Zitat. Es hinterlässt mich zutiefst betroffen.

Owen Matthews: Stalin’s Children. Three Generations of Love, War, and Survival. Bloomsbury, London / Berlin / New York 2008. Elektronische Ausgabe, hier Pos. 812 von 4397
Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg. Aus dem Englischen von Vanadis Buhr. Mit 34 Fotos. Graf Verlag (Ullstein Buchverlage), München 2014, hier S. 76

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