Okt 312015
 

Eine Riesendebatte hatte, wie mir Bürger der wunderschönen lippischen Stadt erzählten, das reizvolle Blomberg erschüttert: Sollte der Hindenburgplatz umbenannt werden? Hatte Reichspräsident Hindenburg nicht als Steigbügelhalter und Wegbereiter Hitlers gedient?

Nun, ganz so war es nicht. Hindenburg war zwar sicher kein Anhänger der parlamentarischen Demokratie; er versuchte aber auch jahrelang, den berüchtigten „österreichischen Gefreiten“, mit seinen paramilitärischen Horden, von der Regierung fernzuhalten. Hindenburg wollte eine Art autoritäre, zentralistische Staatsführung, eine echte Präsidialverfassung mit Tolerierung durch den Reichstag. Heinrich August Winkler sagt, Hindenburg und seine Umgebung strebten einen „stillen Verfassungswandel“ an. Und das scheint mir eine sehr treffende Formulierung!

Die Blomberger haben sich für die Formulierung entschieden, Hindenburg habe die NS-Machtübernahme „aktiv unterstützt“, und sie haben die Umbenennung nach ausführlicher Debatte durchgesetzt. Der frühere Hindenburgplatz heißt nun „Am Martinsturm“. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.

Sie, die Blomberger – oder irgendein Blomberger – sind aber noch ein paar Schritte weitergegangen, denn sie haben das Adjektiv „deutsch“ aus dem Denkmal zur Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 am ehemaligen Hindenburgplatz, dem jetzigen Platz „Am Martinsturm“ weggehämmert. Nur noch mit dem Fingern lässt sich das ehemalige Adjektiv „deutsch“ ertasten. Wo jetzt nichts mehr ist, stand einmal „deutsch“. Eine echte Gedächtnisauslöschung des Deutschen. Id est vere damnatio memoriae nationis germanicae! So machten es schon die Pharaonen und die Cäsaren der Antike! Was ihnen nicht mehr in den Kram passte, wurde vom neuen Herrscher aus den Stelen und Säulen weggehackt.

Und mit dem Weghacken des Deutschen aus der deutschen Geschichte, wie es hier durch die Denkmalshacker in Blomberg oder auch anderswo vorexerziert wird, hätte Hitler postum sein finales Ziel erreicht: die Vernichtung des deutschen Volkes. Denn Hitler war der Meinung: „If one day the German nation is no longer sufficiently strong or sufficiently ready for sacrifice to stake its blood for its existence, then let it perish and be annihilated…“ (Bemerkung vom 27.11.1941). Die antideutsche Ideologie der Jetztzeit („Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“) erweist sich einmal mehr als reinrassige Testamentsvollstreckerin Hitlers.

Belege:
H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933. Bonn 2002, S. 489
Zweites Zitat (Hitler) hier in Übersetzung wiedergegeben nach: Martin Amis, The Zone of Interest, Verlag Jonathan Cape, London 2014, S. 307

Foto: das Kriegsdenkmal für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im lippischen Blomberg, Aufnahme vom 24.10.2015Damnatio 20151024_092415

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Was hat der Mutmacher gesagt: „In verità“, oder „wahrhaftig“ oder „for truly“? Zu Mt. 18,3

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Okt 312015
 

Martin Walser schreibt heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf S. 18: „Nur Jesus beginnt seine Sätze mit Wahrlich.

Ist das wahr? Hat Jesus seine Sätze echt mit „Wahrlich“ begonnen? Sprach er echt so gut deutsch? Ich schlage die von Walser zitierte Stelle im Evangelium nach Matthäus 18,3 in verschiedenen Fassungen des Neuen Testaments auf und finde folgende Wörter, die Jesus in echt gesagt haben soll, wobei ich hier jeweils in Klammern Ort und Jahr der Erscheinung des Buches beifüge: „In verità“ (Roma 1974), „warlich“ (Wittenberg 1545), „Amen“ (Freiburg 1980), „Wahrhaftig“ (Gütersloh 2006), „Truly“ (Stonehill Green 1971), ἀμὴν (Stuttgart 2012).

7 unterschiedliche Worte, die Jesus gesagt haben soll! Ja was denn nun? Wer hat nun recht? Wer sagt uns denn endgültig die volle Wahrheit über Jesus Christus? Martin Walser am 31.10.2015, Martin Luther im Jahr 1517, Holger Strutwolf im Jahr 2012, die Conferenza Episcopale Italiana im Jahr 1974, die Katholische Bibelanstalt im Jahr 1980, The Bible Societies im Jahr 1971, das Projekt Bibel in gerechter Sprache im Jahre 2006?

Eine Entscheidung muss gefällt werden! Und ich entscheide … als guter Demokrat … mit der Mehrheit! Gewinner sind: Stuttgart 2012 und Freiburg 1980! Also „Amen“ bzw. „ἀμὴν“. Hurra! Diese beiden Wörter – so glaube ich – hat Jesus ausgesprochen.

Meine sachliche Begründung dafür lautet: Da Jesus (trotz rudimentärer Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen, die wir annehmen dürfen) meist in Aramäisch gepredigt und sicher auf Hebräisch aus den Schriften zitiert hat, dürfte er wohl auch die aramäische bzw. hebräische Bekräftigungsformel Amen verwendet haben. Offen muss bleiben, wie er dieses Amen genau ausgesprochen hat; aber dass Jesus genau diese Formel „Amen“ verwendet hat, glaube ich fest.

Amen (auch „aman“, „amin“ lautend) ist eine Formel, mit der damals ein festes Vertrauen, eine persönliche Gewissheit ausgedrückt, besser „gesetzt“ oder auch „eingesetzt“ wurde. Durch Amen, eine mündliche Bestätigungsformel, wurde eine sprachliche gegebene Gewissheit bekräftigt. Jesus verwendet Amen stets, bevor er seine höchst persönliche Lehre, also die „Lehre Jesu Christi“, wie wir heute sagen dürfen, in Wahrheit in der Ich-Form verkündet. „Ich sage euch…“ folgt dann, „Ego de… “ auf griechisch, … und dann folgt stets eine ganz bestimmte, durch das Ich Jesu bekräftigte Behauptung. Jesus verkündet also die Wahrheit im Lichte des Ich.

Amen, zu deutsch also „so sei es“, „so ist es“, „so will ich es“, ist also Wahrheit im Lichte des Ich!

O ihr Lehrlinge Jesu Christi, o ihr deutschen Martins und Friedrichs, tilgt nun einige Buchstaben nach und nach weg! Schrumpft sie auf das Mindestmaß! Magert die sieben Übersetzungen des griechisch verfassten neuen Testaments auf Gerippe und Knochen ab! Entschlagt euch für einen Augenblick eurer Kenntnisse aus Theologie, Kirchen- und Literaturgeschichte! Vergesst ein winziges Nu lang die gesamte Kirchengeschichte! Seid oder werdet wie er!

Dann, Martin, Friedrich bzw. Fritz (darf ich dich so nennen?), Hans, Hermann, Hinz und Kunz, Lehrling Jesu Christi, nimm diese abgemagerte Fassung herab vom Kreuz deines philologisch-theologischen Seziertisches. Gib dem komplett abgemagerten Jesus, diesem überragenden, großartigen Muthmacher, dem Mutmacher und Bekräftiger Raum in dir. Und dann hast du auch die beste Übersetzung des hebräischen Amen, das es dich drängt – wie sagtest du doch? – „in dein geliebtes Deutsch zu übertragen“.

WAHR (heit im) L (ichte des) ICH

Amen, warlich (Martin Luther), wahrlich (Martin Walser).

Die beiden Martins haben recht. Das „Wahrlich/warlich“ der beiden Martins ist die Übersetzung, die Inhalt und Botschaft des hebräischen bzw. aramäischen oder auch jesuanischen Amen am besten wahrt und bewahrt.

Beleg:
Martin Walser: Der Muthmacher. FAZ, 31.10.2015, S. 18

Bild:
Kreuzabnahme. Ein tiefes Relief, tief tief verborgen im Teutoburger Wald, 11 km Fußmarsch vom Hermannsdenkmal bei Detmold entfernt. Eigenes Smartphone-Foto des Bloggers vom 25.10.2015
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Die asymmetrische Kriegsführung Hermanns des Cheruskers

 Antike, Cheruskerpark, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Die asymmetrische Kriegsführung Hermanns des Cheruskers
Okt 302015
 

Τά τε γὰρ ὄρη καὶ φαραγγώδη καὶ ἀνώμαλα καὶ τὰ δένδρα καὶ πυκνὰ καὶ ὑπερμήκη ἦν, ὥστε τοὺς Ῥωμαίους, καὶ πρὶν τοὺς πολεμίους σφίσι προσπεσεῖν, ἐκεῖνά τε τέμνοντας καὶ ὁδοποιοῦντας γεφυροῦντάς τε τὰ τούτου δεόμενα πονηθῆναι.20151025_151221

„Denn die Berge waren schluchtenreich und unübersichtlich, die Bäume mächtig und überaus hoch, so dass die Römer, noch ehe die Feinde sie überfielen, durch das Baumfällen, den Wegebau und das Brückenschlagen, wo immer dies nötig war, erschöpft waren.“ Das zutiefst Unwirtliche der hochgewachsenen, struppigen, unwegsamen und feuchten germanischen Wälder schlägt einem entgegen, wenn man Dio Cassius liest, einen der wohl weitgehend verlässlichen Historiker, der sich mit analytischem Scharfsinn zum Verlauf der Verschwörung des cheruskischen Söldnerführers Arminius gegen seinen Oberbefehlshaber Varus äußert, übrigens weit ausführlicher als die heute erhaltenen zeitgenössischen Historiker des 1. Jahrhunderts. Mit unbestechlichem Auge legt Dio Cassius die zutiefst heimtückische Vorgehensweise des germanischen Milizenführers dar: häufig aß und trank Arminius mit Varus gemeinsam an einem Tisch; warnende Stimmen, die die Doppelzüngigkeit, die mangelnde Loyalität der germanischen Truppenteile anprangerten, verhallten ungehört, so schreibt es Dio Cassius. In offener Feldschlacht hätten die Germanen unter der Führung „Hermanns des Cheruskers“ – glaubt man dem griechischen Historiker – keine Chance gehabt. List, Täuschung, Verrat und das unwirtliche Umfeld spielten Arminius in die Karten.

Ein herrlicher weiter Blicke vom Umlauf des stolz aufragenden Hermannsdenkmals bezeugte uns am 25.10.2015 das Dumpfe, nebelhaft Lastende, zugleich mystisch Wabernde des Teutoburger Waldes; ob sich die Schlacht im Teutoburger Wald genau hier abgespielt hat? Die meisten Historiker halten heute die Gegend um Kalkriese für wahrscheinlicher. Liest man aber die entsprechenden Passagen bei Dio Cassius nach, so dürfte sich die Clades Teutoburgensis in mehreren Scharmützeln angekündigt haben, die heute kaum mehr genau zu lokalisieren sind. Ich glaube, es handelte sich bei der Expedition des Varus im Jahre 9 um eine Art Guerillabekämpfungskrieg, einen asymmetrischen Krieg, eine Abfolge von Nadelstichen, die dann in der berühmten großen „Schlacht im Teutoburger Wald“, die wohl eher einem chaotischen Gemetzel glich, ihr schauriges Finale fand.

Foto vom 25.10.2015, Textstelle aus Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch 56, Kap.20 (eigene Übersetzung)

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So sanft rollt die Zugzukunft ein

 Elektromobilität, Singen  Kommentare deaktiviert für So sanft rollt die Zugzukunft ein
Okt 292015
 

Gesehen in Hannover vor drei Tagen: ein mit Elektronik vollgestopfter Prototyp des neuen ICE! Unangekündigt, unglaublich der summende, singende Sound! Sanft surrend, fast lispelnd, flüsternd, allmählich melodisch hochsteigend. So zieht die Zukunft ein. Schlank, leicht, unaufdringlich. Markant die blau lackierten Bremsbolzen. Beachtlich auch die neue aerodynamische Form der beiden Zugenden: die Schnauze ist konkav eingedrückt, offenbar entstehen so weniger Verwirbelungen. Der Erlkönig in der Oberklasse der Bahntechnik – wir haben ihn gesehen und gehört.

Ich bin schon gespannt, was daraus wird!

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Linde am Blomberger Burgtor: die Lehre des Hundes

 Unverhoffte Begegnung  Kommentare deaktiviert für Linde am Blomberger Burgtor: die Lehre des Hundes
Okt 282015
 

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Gute, schöne, erquickende Gespräche mit mehreren Bürgern in der Stadt Blomberg im Land Lippe! Hier an diesem 300 Jahre alten Lindenbaum checkte ich nach getanem Tagwerk gerade die Nachrichtenlage, als mich ein Hund neugierig beschnüffelte und anstupste. Ich schaute auf von dem Smartphone. Da kam schon Herrchen und entschuldigte sich für das Hunderl. Ich erwiderte: „Bitte keine Entschuldigung! Ich danke Ihrem Hund! Er hat mich dazu gebracht, den Blick zu erheben! Er hat mich dazu gebracht, diese Linde und das herrliche Panoramna im Abenddämmerschein zu bestaunen. Er bringt mich dazu, mit Ihnen zu reden. Ein Hund! Ein lebendes Wesen! Alles, was lebt, atmet, knurrt und Laute von sich gibt, ist mir lieb! Es fordert uns heraus. Danke, du Hund!“

„Sie haben recht“, erwiderte der Blomberger Bürger. „Ich bin im Vorstand eines zivilgesellschaftlichen Vereins hier in Blomberg, und wenn wir uns treffen, sprechen viele oft nicht mehr miteinander, sondern starren auf die Displays ihrer Handys.“

Wir plauderten noch dies und das. Ha! Der Hund hatte uns zusammengebracht. Am Fuße der uralten mächtigen Linde vor dem Burgtor des Burghotels Blomberg im Lippischen Lande.

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Steuern wir auf eine „parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung“ zu?

 Europäische Union, Grundgesetz, Parlament, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für Steuern wir auf eine „parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung“ zu?
Okt 272015
 

Es gelten in Europa keine Gesetze mehr„, so klagte gestern im Fernsehen bei „Hart aber fair“ der amtierende Präsident des Bayerischen Landkreistages. Ferner: „Wir sind hier in einem völlig rechtlosen Zustand„, beschwerte sich vor wenigen Tagen in Günter Jauchs Sendung aus dem Schöneberger Gasometer ein praktizierender Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter. Ein Richter an einem Bundesgericht, mit dem ich am Rande einer privaten Feier in kleinem Kreis zu plaudern Gelegenheit hatte, vertraute mir wiederum vor geraumer Zeit bereits einmal an, dass die Bundesgerichte sich seit langem schon in einem Limbus der Rechtsungewissheit bewegten; das durch die EU gesetzte Recht sei über weite Strecken methodisch, sprachlich und vor allem begrifflich nicht kompatibel mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch seien die Obersten Bundesgerichte gehalten, die Rechtsakte der EU bei der Urteilsfindung „ständig zu berücksichtigen“. Im Grunde bewegten sich die Richter der Obersten Gerichtsbarkeit des Bundes (Art. 95 GG) im Kleinen wie im Großen ständig auf einem schmalen Grat der „Rechtsunsicherheit nach beiden Seiten hin“; man wisse als amtierender Bundesrichter schlechterdings nicht, welche der Rechtsordnungen – die der EU oder die der Bundesrepublik – Vorrang habe, so ungeheuerlich das auch erscheinen möge. Ein juristisches Niemandsland, auf das man als Bundesrichter/als Bundesrichterin in keiner Weise vorbereitet sei!

Drei zufällig eingefangene Stimmen von ganz unten und von ganz oben in der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dazu kommt noch als I-Tüpfelchen: Durch Weisung der Exekutive – also durch eine Art „Notverordnung“ – wurden in diesen Wochen die geltenden Gesetze über die Kontrolle der Staatsgrenzen Deutschlands außer Kraft gesetzt. Jeder einzelne Bundespolizist steht also in einer Art Konfliktzustand. Was soll er durchsetzen: das Gesetz oder den Willen der Bundesregierung?

Herrscht also derzeit tatsächlich „Anomie“, „Chaos“, „Rechtlosigkeit“ in der Bundesrepublik Deutschland? So weit würde ich nicht gehen.

Für den in den drei Stimmen beschriebenen Zustand schlage ich stattdessen den Begriff der „methodischen Rechtsungewissheit“ vor; in der Politikwissenschaft hat sich für eine derartige schleichende Aushöhlung der geltenden Verfassung, wie sie beispielhaft ab 1930 in der Weimarer Republik zu beobachten war, der Ausdruck „Präsidialkabinett“ eingebürgert; angesichts eines andauernden krisenhaften Zustandes wurde damals allmählich, sicherlich jedoch ab dem Kabinett Brüning I (30.03.1930), die Legislative, also der Reichstag, zunehmend entmachtet, die Exekutive regierte gestützt auf die überragende Stellung des direkt gewählten Reichspräsidenten; das Recht der Ernennung des Reichskanzlers, das Recht der Notverordnungen und die ständige Drohung mit dem Recht der Reichstagsauflösung – die alle dem Reichspräsidenten zustanden – ließen den Reichstag schleichend zu einem Akklamations- und Abnickorgan herabsinken.

Wollen wir so etwas noch einmal erleben? Nein! Ich meine deshalb, in der jetzigen Lage sollten folgende, bisher in dieser Klarheit meines Wissens nirgendwo geforderten Grundsätze gelten:

1) Bundesrecht bricht Europarecht. Das EU-Recht ist im wesentlichen nur zwischenstaatliches Vertragsrecht. Das Recht der Bundesrepublik Deutschland ist stärker; es ist hoheitlich gesetztes, durch das Grundgesetz und den repräsentativ über Organe geäußerten Volkswillen gestütztes Recht. Das Grundgesetz und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland genießen somit methodisch Vorrang vor allfällig entgegengesetzten Bestimmungen des EU-Rechts. Im Zweifelsfall bricht deutsches Recht Europarecht, so wie im Zweifelsfall Bundesrecht Landesrecht bricht (GG Art. 31).

2) Die Gesetzgebung und die Rechtssprechung gehen im Zweifelsfall der vollziehenden Gewalt vor, ebenso wie auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes den Gesetzen vorgehen (Art. 25 GG).

3) Die Exekutive, also die jeweilige Regierung, führt im wesentlichen nur aus, was die Legislative, also das jeweilige Parlament vorschreibt. Die Exekutive hat nicht das Recht, vom geltenden Recht abzuweichen oder Gesetze ohne rechtssicheren Grund außer Kraft zu setzen.

4) Zur Bewältigung der gegenwärtig drohenden Staats- und Verfassungskrise sind vorrangig die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu wahren. Nachrangig sind auch die vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben.

Bibliographischer Hinweis:
„Das System der Präsidialkabinette“, in: Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Aufl., Freiburg 2008, S. 965

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„Was will das Volk?“ Pelasgos‘ Einsicht in das Wesen der Demokratie

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Okt 222015
 

ὑμῖν δ᾽ ἂν εἴη δῆμος εὐμενέστερος
τοῖς ἥσσοσιν γὰρ πᾶς τις εὐνοίας φέρει.

„Euch mög das Volk nun zugeneigter sein
Den Schwächren will doch jeder wohl.“
(Hiketides, Vers 488-489, eigene Übersetzung des Vf.)

Ein bis heute ergreifendes Zeugnis echter Humanität und echter Barmherzigkeit bietet der mythische König von Argos, Pelasgos, in Aischylos‘ Tragödie „Flehende“ (Hiketides). „König“ Pelasgos? Nun, Herrscher war Pelasgos zweifellos. Herrscher? Nicht wirklich! Ehe er die schutzlosen 50 jungen Frauen vor den bewaffnet heranstürmenden jungen Männern rettet und ihnen Asyl gewährt, befragt er das Volk (δῆμος). Er ruft eine Volksversammlung ein und lässt per offenem Handzeichen darüber abstimmen, ob die 50 Töchter des Danaos unter den Schutz der heimischen Götter gestellt werden sollen. Und er gewinnt den Volksentscheid triumphal!

Kurz und gut: Pelasgos entscheidet nicht im Alleingang. Er lässt sich nicht erweichen und erpressen, etwa durch den bühnenwirksam angedrohten Suizid der 50 Jungfrauen, obwohl tatsächlich Gefahr im Verzuge ist. Stattdessen fragt er: Was will das Volk?

Ja was ist denn das für ein König, der sein Volk befragt, ehe er die Landesgrenzen öffnet? Ist das dargestellte Geschehen glaubwürdig? Antwort: Aischylos blendet die politische Realität seiner Zeit mit in den mythischen Stoff ein. Ihm ging es nicht darum, nur eine spannende Sage dramatisch auf die Bühne zu bringen, nein, er inszenierte ganz bewusst eine politisch-moralische Streitfrage der Gegenwart in mythischer Einhüllung.

Und die Gegenwart, das war nun einmal die damals (ca. 470-460 v. Chr.) noch junge, noch ungefestigte Demokratie. Athen war zweifellos seit den Reformen des Kleisthenes (509 v. Chr.) im echten Sinne, auch in unserem Sinne eine Demokratie, wahrscheinlich die erste in Europa überhaupt; Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Aufnahme oder Abweisung fremder Volksgruppen, über Steuerfragen durften seitdem nicht mehr durch einen obersten Herrscher alleine getroffen werden. Träger der Souveränität, ja der Souverän selbst, war nunmehr das Volk (Demos), das durch Wahl und durch Los Körperschaften zu seiner Vertretung schuf (den „Rat der 500“, die 9 „Archonten“, das „Volksgericht“), aber zugleich noch durch Volksabstimmungen starke Züge der „direkten“, nicht-repräsentativen Demokratie beibehielt.

Die Athener Bürger hatten also bei allen wesentlichen Entscheidungen Mitspracherechte. Gegen und ohne das Volk lief nichts. Es gab keinen Platz für einsame Entscheidungen eines Königs oder einer Großherrscherin mehr.

Was lernen wir für die Bundesrepublik Deutschland daraus? Nun, wir sind auch eine Demokratie. Wir haben heute kaum mehr die direkte, sehr wohl aber die repräsentative Demokratie. Und das bedeutet, das Volk, der Souverän, wird durch gewählte Abgeordnete in Parlamenten vertreten. Träger der staatlichen Souveränität und der Daseinsvorsorge sind zunächst einmal bei uns im Alltag die 16 Bundesländer. Sie sind gefragt, wenn es um die Unterbringung der aus allen Richtungen regellos Zuwandernden geht. Der Bund hat keine Berechtigung, den Bundesländern Aufgaben der Daseinsvorsorge ohne deren Zustimmung zuzuweisen, insbesondere ohne ihnen die nötigen Sach- und Finanzmittel zur Verfügung zu stellen (vgl. Artt. 28 und 30 GG).

Die 16 Landesparlamente und der Bundesrat sollten also – so meine Meinung – auch jetzt Herren des Verfahrens werden. Die 16 Landesparlamente müssen bei so weitreichenden Entscheidungen wie der nunmehr faktisch verkündeten völligen Öffnung der deutschen Grenzen für ausnahmslos alle Zuwandernden vorher gefragt und vorher einbezogen werden. Auch der Bundestag sollte vor allen vorschnellen Entscheidungen intensiv gefragt und einbezogen werden. Die 16 Länderkammern, der Bundesrat und auch der Bundestag müssen nun entscheiden, wohin die Reise geht. Sie – die 16 Länderparlamente, der Bundesrat, der Bundestag müssen das Heft des Entscheidens in die Hand nehmen. Von ihrem Willen hängen die Regierungen der 16 Bundesländer ab. Ein bundesweiter Volksentscheid ist dann unnötig, zumal er sowieso rechtlich nicht zulässig ist.

Denn staatliches Handeln muss auch in Krisenzeiten weiterhin an Recht und Gesetz gebunden bleiben.

Durch intensive gemeinsame Entscheidungsfindung, durch offenes Ringen und Austauschen der Argumente in Rede und Gegenrede wird die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland ihre Stärke und ihre Humanität beweisen!

Es ist möglich, so glaube ich, eine Lösung der Zuwanderungsfragen und der Flüchtlingskrise zu finden, wenn zu dem humanitären Impuls der sittlich gebotenen Nothilfe für Schwache, Kranke, für schutzlose Frauen, Kinder, Arme und Notleidende eine rechtlich gebotene Besinnung auf das Wesen und die Eigenart der parlamentarischen Demokratie hinzutritt.

Und Wesen der Demokratie ist es nun einmal, dass das Volk Träger der Souveränität ist.

Ich meine: Schwache, Arme, Kranke, Kinder, Witwen und Waisen, schutzlose verfolgte Frauen, Hilflose, die sich bei uns innerhalb unserer Grenzen aufhalten, verdienen unser Mitgefühl. Ob wir die Hunderttausenden voll arbeitsfähiger, voll mobiler junger Männer aus aller Herren Länder weiterhin wie bisher unterschiedslos bei uns aufnehmen wollen, darüber sollten wir uns in Rede und Gegenrede unterhalten.

Letztlich sollte diese Fragen das Volk (der Demos) über die gewählten Parlamente entscheiden.

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„Selbstgleichschaltung“ bis zum „Kadavergehorsam“ in Deutschlands Parlamenten?

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Okt 202015
 

Vor der Gefahr einer neuen „Selbstgleichschaltung bis zum Kadavergehorsam“ spricht Peter Steinbach in seinem neuen Buch „Nach Auschwitz“. Die Kolonialgreuel im Kongo, die Greueltaten der russischen Oktoberrevolution, der Holodomor in der Ukraine, die Shoah in den Ländern Osteuropas (fälschlich mit „Auschwitz“ gleichgesetzt), die Massaker in Ruanda … die Liste der einzigartigen, erschütternden Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts ist lang! Stets funktionierten solche Massenverbrechen im Zusammenwirken vieler Befehlsempfänger und vieler williger Vollstrecker.

Kadavergehorsam auch heute? Ich denke, an der Warnung Steinbachs ist vielleicht schon etwas dran, aber von Selbstgleichschaltung oder Kadavergehorsam der Parlamente kann man heute in der Bundesrepublik nicht sprechen. Unsere Demokratie lebt, die Freiheitlich-Demokratische Grund-Ordnung gilt es zu schützen und zu hegen!

Ich sehe eher die Gefahr einer Selbst-Entmachtung der parlamentarischen Demokratie. Was sich derzeit abspielt, „geht an die Substanz der parlamentarischen Demokratie“ (Stefan Marschall).

Die Parlamente der Bundesländer und der Bundestag sind eigentlich die Herzkammern der Demokratie – oder sollten es sein. Aber heute werden sie immer mehr in den Schatten gestellt von der Bundesregierung, die eigentlich fast schon eine Zentralregierung geworden ist, und vor allem in den Schatten gestellt von der EU. Insbesondere die Fraktionen der CDU und SPD begreifen sich offenkundig immer mehr als Wasserträger und gehorsame Stützen ihrer Regierungen und Abnickorgane der EU-Behörden. „Vorgaben der EU wollen wir eins zu eins umsetzen“, heißt es im geltenden CDU-SPD-Koalitionsvertrag für den Bundestag. Was brauchen wir noch mehr? Das ist der brave Gehorsam von Schuljungen! Man vergleiche nur etwa einmal anhand der amtlichen Datenhandbücher des Bundestages die Zahl der Vorlagen und der Gesetzentwürfe, die die Bundesregierung einbringt, mit der viel geringeren Zahl an Vorlagen, die aus dem Bundestag selbst kommen!

Nein, Herr Steinbach, es droht nicht der Kadavergehorsam, sehr wohl aber die Gefahr der schleichenden Aushöhlung der Macht der Bundesländer und der Macht der Parlamente! In der 17. Wahlperiode betrug die Zahl der EU-Vorlagen im Bundestag atemberaubende 4258 – gegenüber noch 946 in der 6. Wahlperiode (1969-1972)! Und sehr oft begreifen die Bundestagsabgeordneten nicht, was sie da abnicken und durchwinken. Die Gesetze und Vorlagen sind ganz bewusst derart kompliziert, dass sehr oft nur eine winzige Handvoll Fachpolitiker deren Sinn und Zweck einschätzen kann.

Und das berühmt-berüchtigte Volk? Tja, das Volk – oder sagen wir besser die Bevölkerung – kriegt das natürlich irgendwie mit. Und es, das Volk, wird sauer.

Ich würde von einem schleichenden Übergang, einem Trasformismo (wie im Italien des späten 19. und 20. Jahrhunderts) sprechen, mit dem die parlamentarische Demokratie allmählich in eine zentral gesteuerte Apparatur der Machtausübung in den Händen der Exekutive umgewandelt wird. Der Wandel geschieht unmerklich, ist aber konkret an neuralgischen Themenfeldern wie etwa Flüchtlingspolitik und Finanzpolitik (Euro-Politik) nachweisbar. Diese Gefahr lässt sich meines Erachtens nicht leugnen.

Es ist noch nicht zu spät, um dieser Gefahr zu steuern.

Beleg:
Ulrike Nimz: Gedanken über Gedanken. Süddeutsche Zeitung, 20.10.2015, S. 15 [= Rezension von:
Peter Steinbach: Nach Auschwitz. Die Konfrontation der Deutschen mit der Judenvernichtung. Dietz Verlag 2015]

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Nicht Einheit, sondern Einigkeit prägt den Staatsgedanken der Bundesrepublik

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Okt 162015
 

Nicolò Machiavelli (1469-1527), Thomas Hobbes (1588-1679), Samuel Pufendorf (1632-1694) – diese drei frühen Staatsrechtrechtslehrer und einige andere haben wohl den Begriff der Souveränität des Staates nach und nach aus der Taufe gehoben. Wir fassen grob zusammen: Staaten in diesem neuzeitlichen Sinn sind durch Ortsfestigkeit eines Territoriums, durch Souveränität nach außen und durch Legitimität nach innen gekennzeichnet.

Als solches sind Staaten in diesem heutigen Sinne keineswegs selbstverständlich. Es gab und gibt nämlich sehr wohl menschliche Gesellschaften ohne Staatlichkeit, z.B. die Sippe oder den Stamm, das Imperium Romanum bis etwa 300 n. Chr. oder die alte griechische Polis. Es gibt kulturell und sprachlich weitgehend einheitliche Völker ohne Staaten, andererseits Staaten ohne einheitliche Sprache, ohne einheitliche Kultur oder einheitliche ethnische Zugehörigkeit.

Staaten in unserem neuzeitlichen Sinne erstrecken sich auf ein bestimmtes, geographisch angebbares Gebiet. Sie sind übergeordnete Träger der Gewalt in ihrem Gebiet und setzen diesen Anspruch gegen den Einzelmenschen durch. Und sie beanspruchen für sich, als rechtssetzende Macht anerkannt werden zu müssen. Sie dulden prinzipiell auf ihrem Gebiet keine Konkurrenz. Sie üben eine „Einlasskontrolle“ aus, denn sie beanspruchen in der Regel, Menschen auch abweisen oder ausweisen zu können – von Fällen offenkundiger Not und offenkundiger Gefahr für Leib und Leben abgesehen. Staaten wollen bestimmen, wer dazu gehört und wer nicht. All das, also die Grundmerkmale neuzeitlicher Staatlichkeit, werden durch die andauernde unkontrollierte Öffnung der gesamten Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland, die wir in diesen Tagen erleben, in Frage gestellt.

Von erheblichem Belang ist auch der zweistufige Aufbau der Staatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Auch die 16 Bundesländer sind mit Staatlichkeit ausgestattet! Die „Bundes“-Republik ist ausweislich des Grundgesetzes ein auf Dauer angelegter Bund freier Staaten. Die Bundesländer sind der Bundesrepublik nicht unter- oder nachgeordnet, vielmehr entsteht die Bundesrepublik Tag um Tag erst durch das Mitwirken und Zusammentreten der Bundesländer. Die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben, insbesondere die Daseinsvorsorge, ist in Deutschland grundsätzlich Sache der Bundesländer. „Der Bund darf nur staatliche Befugnisse übernehmen, Aufgaben erfüllen oder Gesetze erlassen, wenn dies das Grundgesetz ausdrücklich zulässt“ (Reinhard Müller). Die Regierung des Bundes stützt sich somit auf die Länder und auf deren freiwillig erfolgte Abtretung von Teilen der Eigenstaatlichkeit an den Bund. Dies hat vor wenigen Tagen der Berliner Staatsrechtslehrer Michael Kloepfer erneut hervorgehoben.

Die Bundesrepublik ist also durch den Bundesgedanken, nicht durch den Unionsgedanken bestimmt! Nicht EINHEIT, sondern EINIGKEIT ist die Leitidee der Bundesrepublik Deutschland. Nicht eine „immer engere Union“ (wie es etwa emphatisch in den EU-Verträgen heißt) ist Sinn und Zweck der Bundesrepublik, sondern die Wahrung des Rechts und der Freiheit jedes einzelnen Staatsbürgers, der Handlungsfähigkeit und Staatlichkeit jedes einzelnen Bundeslandes. Freiheit, Recht, Einigkeit sind die Grundpfeiler des bundesrepublikanischen Staatsgedankens, nicht Risikovorsorge, Wohlstand, nicht Einheit.

Bezug:
„Den Bund notfalls zwingen“. Von Reinhard Müller. FAZ 14.10.2015, S. 8

 Posted by at 23:36
Okt 132015
 

„Je weiter du weggehst, desto weiblicher wird Jesus.“ Navid Kermani, der dies schreibt, hat etwas in Worte gefasst, was mich insbesondere an den Zeichnungen Sandro Botticellis immer wieder berührt und berückt: das Weiche, das Gelinde, Fließende seiner Liniengebung, besonders gut fassbar in seinen Zeichnungen zu Dantes Göttlicher Komödie, die ja ab übermorgen wieder im Berliner Kupferstichkabinett meinen ungläubig staunenden Augen geboten werden. Ich freue mich schon darauf. Wiedersehen macht Freude.

Es ergeht mir schließlich bei Botticellis Gemälden, mehr aber noch in Botticellis Zeichnungen so, dass jeder strenge, richtende, urteilende, verurteilende Blick geschmeidiger wird, man könnte sagen: das strenge Auge löst sich, es fühlt sich mild und weich. Man glaubt an diesen affetto, an diese unwillkürlich anrührende Gefühlsregung. Ich glaube, ein Lächeln zu sehen, ein Tränen des Auges, hinter dessen Schlieren alles Grobkantige ins Schwingen gebracht wird. Dante beschreibt das hier Angedeutete so (Paradiso VI, 121-123):

Quindi addolcisce la viva giustizia
in noi l’affetto sì, che non si puote
torcer già mai ad alcuna nequizia.

Selbst noch in Botticellis Kreuztragung, in der Pinakothek von Kermani alleine vierzig, fünfzig Minuten lang ungläubig bestaunt, verliert der härteste, der letzte Gang, der Weg des Kreuzes viel von seiner Härte, von seiner eklatanten, schreienden Ungerechtigkeit, seiner krassen nequizia! Er wird zum Tanz der herannahenden Befreiung.

Und so fand ich soeben auch nach einigem Nachdenken (40, 50 Minuten lang) die richtige Übersetzung für Jesu Wort (Matthäus 11,30):

ὁ γὰρ ζυγός μου χρηστὸς καὶ τὸ φορτίον μου ἐλαφρόν ἐστιν

Denn mein Joch ist wohltuend und meine Last ist geschmeidig.

Hinweise:
Der Botticelli-Coup. Schätze der Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett. Eröffnung der Ausstellung am Donnerstag, 15.10.2015, 19 Uhr (Eintritt zur Eröffnung frei). Kupferstichkabinett. Ausstellung. Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum, Matthäikirchplatz, 16.10.2015 bis 24.01.2016, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr

Sandro Botticelli: Kreuztragung. Tempera auf Leinwand. Pinacothèque de Paris.

Zu diesem Bild:
Navid Kermani: „Schönheit“ in: ders., „Ungläubiges Staunen“. Über das Christentum. C.H. Beck Verlag, München 2015, S. 44-49

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Okt 122015
 

Im Gränzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelstaat verschwinden,
Sich aufzugeben, ist Genuß!

So mag es einem wohl spielerisch in den Sinn kommen, nachdem man mit Hochgenuß die späten politisch-moralischen Gedichte Goethes durchgelesen hat.

Von „entgrenzter Demokratie“ schreibt sehr packend, sehr überzeugend der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall. Er erkennt, dass Phämomene wie „Europäisierung“ (gemeint ist jedoch nur der absolute Vorrang der EU-Rechtsakte vor den Rechtsakten der EU-Mitgliedsstaaten) und „Globalisierung“ den herkömmlichen westlichen Staatstypus zunehmend ins Abseits manövrierten und potenziell handlungsunfähig machten; in der Tat, so meine ich, Altertümlichkeiten wie etwa die Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender, ausführender und rechtssprechender Gewalt werden in modernen Zeiten zunehmend außer Kraft gesetzt; gefragt ist in unseren Zeiten der wachsenden Anomie, der Widersprüchlichkeit unvereinbarer Rechtsordnungen wie etwa derjenigen der EU einerseits und der Nationalstaaten andererseits heute rasches, kühnes Zupacken, Raffen und Schaffen, auch wenn dieses „Schaffen“ oft nur ein „Abschaffen“ oder auch ein „Sich-Aufgeben“ ist, in diesem Fall also ein Abschaffen des herkömmlichen Souveränitätsgedankens der Territorialstaaten.

Wir zitieren Stefan Marschall (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„In der Gesamtschau spricht vieles dafür, dass die Globalisierung der Gesellschaften und staatlicher Politik einen Beitrag zur Entparlamentarisierung, zur Schwächung des Bundestages im politischen System Deutschlands leistet und damit an die Substanz der parlamentarischen Demokratie geht.“

In scharfen Tönen, die nicht frei von Polemik sind, spricht der hochangesehene ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust am 9.10.2015 von der „Kanzlerin ohne Grenzen“; der europäische Politiker Guy Verhofstadt wiederum geißelte kürzlich im EU-Parlament die derzeitige europäische Anomie als reinstes Chaos, in dem es nicht eine, sondern „mindestens zehn Unionen“ gebe.

Nun, ich meine: Die zutreffend erkannte „Entgrenzung“ oder auch Regellosigkeit der hohen Politik macht uns einfachen Bürgern zunächst einmal Angst. Wir einfachen Bürger wissen derzeit oft nicht mehr, woran wir sind – was gilt, beispielsweise in der Euro-Staatschuldenkrise, in der wirtschaftlichen Dauerkrise der Eurozone und der Massenmigration in die verschiedenen europäischen Sozialsysteme? Was hat Vorrang? EU-Recht? Deutsches Recht? Das Recht des Stärkeren? EZB-Recht? Eine Art permanentes Notfallrecht? Oder brauchen wir gar in Europa endlich wieder einmal eine starke Frau, die vernünftigen Sinnes alles lenkt und leitet, „legibus absoluta“, also oberhalb der Gesetze stehend, wie etwa Kaiserin Maria Theresia oder Zarin Katharina II.? Oder ist alles letztlich sowieso eins, im Sinne eines Goethe’schen „Eins und Alles“? Fragen über Fragen!

Hier meine ich: Wenn man manche Zuspitzung und im Eifer des Gefechts unterlaufende Übertreibung abzieht, sollte und müsste man die Bemerkungen und Einwürfe eines Johann Wolfgang Goethe, eines Stefan Marschall, eines Stefan Aust und eines Guy Verhofstadt durchaus ernst nehmen. Sind letztlich doch alles besonnene, welterfahrene Menschen!

Belege:

Stefan Marschall: „Die entgrenzte Demokratie – Europäisierung und Globalisierung“, in: Stefan Marschall: Das politische System Deutschlands. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, S. 234-259, hier bsd. S. 247, S. 255, S. 257

Rede Guy Verhofstadts im EU-Parlament vom 07.10.2015
https://www.youtube.com/watch?v=D_VbHfgPVlg (hier besonders 4:47)

Stefan Austs Artikel vom 09.10.2015:
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147423831/Angela-Merkel-Kanzlerin-ohne-Grenzen.html

Goethes Gedicht „Eins und Alles“ (mit einigen schweren Schreibfehlern!):
http://gutenberg.spiegel.de/buch/johann-wolfgang-goethe-gedichte-3670/243

Bild:
Lascia dir la gente
e va per la tua strada (Dante). Bild vom Havelland-Radweg, unterwegs zu dem Ribbeck von Ribbeck auf Havelland.
20151004_090713

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Er hat uns noch was zu sagen

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Okt 102015
 

Eines der polnischen Lehnwörter in unserer schönen deutschen Muttersprache ist das Wort „Grenze“. Es stammt vom polnischen Wort „granica“ ab. Goethe selbst, der große Hochachtung für die slawischen Sprachen hegte, schrieb folgerichtig meist eigenhändig „Gränze“, so etwa in „Im Gränzenlosen sich zu finden“, obgleich schon damals die Schreibung „Grenze“ sich durchzusetzen begann. Säße der Knabe Goethe heute in einer Grundschule, dürfte er ebenfalls schreiben, wie er wollte, denn wer wollte einem Goethe vorwerfen, dass er kein richtiges Deutsch schreibe? Kaum ein Schüler lernt ja heute noch die deutsche Rechtschreibnorm zuverlässig. Wer vermöchte es ihm auch zu verdenken bei all der Anomie, die uns umgibt?

Entscheidend ist doch, daß wir die Gedichte Goethes wieder fleißig lesen, sie laut den Kindern vorlesen, sie selbst auswendig lernen und sie laut und deutlich, klingend und singend vortragen in Trepp und Kammer, in Kita und Schul und wer weiß sogar am Goethe-Gymnasium, in Aula und Saal, auf Schritt und Tritt.

Hören wir den greisen Goethe selbst. Er hat uns noch was zu sagen. Das Bild weiter unten zeigt das Arbeitszimmer Goethes in Weimar, wie wir es am 19. Juli 2015 vorfanden.

 Posted by at 17:13

Im Gränzenlosen sich zu finden: Goethes ursprüngliche Einsicht

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Okt 102015
 

Eins und Alles

Im Gränzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben, ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Theilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu Dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich’s nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebend’ges Thun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farb’gen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht’s Momente still.
Das Ew’ge regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.