„Njewjedź nas do spytowanja“, oder: Können Verbrecher Menschen sein?

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Feb 262016
 

„Das sind keine Menschen, die sowas tun, das sind Verbrecher!“ So wird der deutsch-sächsisch-sorbische Stanislaw Tillich vielfach in den Leitmedien zitiert (zitiert wie gedruckt, z.B. FAZ, 24.02.2016, S. 3). Durch ihre Verbrechen (in diesem Fall also Brandstiftung, Behinderung des Straßenverkehrs, häßliche Sätze, Fremdenfeindlichkeit, asylpolitikfeindliche Parolen) verlören die Verbrecher von Sachsen also ihr Mensch-Sein – mindestens spricht der sächsische Spitzenpolitiker den Verbrechern von Sachsen das Menschsein ab.

Muß man wirklich so denken und reden wie der sächsisch-sorbische Christdemokrat, der sich selbst offenkundig auf die Seite der Guten, auf die Seite der Menschen stellt – während er die anderen, die Verbrecher auf Seiten der Nichtmenschen stellt?

„Siamo tutti peccatori, lasciamoci trasformare … “ diese Äußerung wird auf Twitter glaubhaft berichtet vom amtierenden Bischof der Stadt Rom, Franziskus. Aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt: „Wir sind alle Sünder, lassen wir uns verwandeln.“ Dieses Wort wirft ein gänzlich anderes Licht auf die Verbrecher. Die Verbrecher sind im Grunde Menschen wie wir. Der Verbrecher, ob nun Brandstifter oder Fremdenfeind, ist also genauso ein Mensch mit seiner Würde wie wir alle auch. Unsere Aufgabe wäre es, den Verbrecher vom Verbrechen wegzuleiten, indem wir ihm zu verstehen geben: Du bist für mich kein Fremder, Verbrecher! Du bist ein Mensch wie ich auch, du Verbrecher! Auch ich erlebe derartige Versuchungen, denen du Verbrecher erlegen bist. Lass mich versuchen, dich und mich durch die verwandelnde Kraft des Wortes von der Versuchung zum Verbrechen wegzuführen. Ich bitte dich darum.

Auf gut Niedersorbisch könnte man auch sagen:

A njewjedź nas do spytowanja,
ale wumóž nas wot złeho.

Wörtlich aus dem Sorbischen ins Deutsche übersetzt:
„Und nicht führe uns zu Versuchung,
sondern rausleite uns aus Bösem.“

„UNS“ heißt es im Vaterunser – nicht „die da“, die Nichtmenschen.

Wer hat nun recht, der mächtige Ministerpräsident Sachsens oder der Bischof Roms? Beide vertreten einen entgegengesetzten Blick auf das, was den Menschen ausmacht. Für den Bischof Roms tritt das Menschliche gerade in seiner Fehlbarkeit zutage. Der mächtige Spitzenpolitiker, der Ministerpräsident Sachsens hingegen spricht den Verbrechern (wie er sie nennt) ihr Menschsein ab.

Auf wessen Seite schlägst du dich, Leserin und Leser?

Nachweise:


Stefan Locke: Büroklammer im Würgegriff. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2016, S. 3

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„Fort mit mir!“ Woher dieser Selbsthaß?

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Feb 242016
 

Martinus dixit: „Odium sui rimanebit usque ad introitum caelorum!“
Ego ex eo quaesivi: „Unde istud odium tui christianum, o Martine?“

„Woher kommt dein christlicher Selbsthaß, Martin?“ So fragt‘ ich, als ich vor einigen Wochen in einer 1-tägigen Sonderausstellung der Berliner Staatsbibliothek Martin Luthers vierte, erstmal lateinisch zu Wittenberg niedergelegte These in einem frühen Nürnberger Originaldruck des Jahres 1517 erblickte. Die vierte Wittenberger These sprang mich mit Macht an! Da läuteten alle Glocken in mir!

Denn Theodor Lessing veröffentlichte 1930 in deutscher Sprache ein Buch des Titels „Odium sui hebraicum“, zu deutsch also „Der jüdische Selbsthaß“, erschienen im Jüdischen Verlag zu Berlin. Dies ist die erste Glocke!

„Deutschland verrecke!“, „Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“, so habe ich es im 21. Jahrhundert jahrelang in Berlin-Friedrichshain gehört und gelesen, und zwar im öffentlichen Raum, ungestraft, ungescheut las ich es und hörte ich es, niemand machte darob ein Aufhebens. Der deutsche Selbsthaß ist keine Legende, nein, er ist eine Tatsache, die einen geradezu mit Macht anspringt. Durch die Zerstörung Deutschlands meinen die deutschen Antifa-Aktivisten den Krieg abzuschaffen. Der Selbsthaß feiert fröhliche Urständ! Weder deutsche Polizei noch deutsche Justiz kümmern sich um diese Manifestationen des deutschen Selbsthasses. Dies ist die zweite Glocke!

Antony Lerman wiederum entzauberte 2008 in der Jewish Quarterly in einem noch heute sehr lesenswerten Beitrag unter dem Titel Jewish Self-Hatred : Myth or Reality? Rätsel, Legenden, Fakten und Fiktionen des Redens vom angeblichen jüdischen Selbsthaß. Erstaunlicherweise wirft er nach sorgfältiger Prüfung den Begriff des jüdischen Selbsthasses in den Mülleimer der Geschichte. Er ver-wirft den jüdischen Selbsthaß. Er lehnt den Begriff ab. Lest selbst: „It is too much to hope that by revealing just how bankrupt a concept ‘Jewish self-hatred’ is, discourse among Jews on Israel and Zionism could become more productive, both for Jews themselves and for the sake of achieving justice in the conflict between Israelis and Palestinians. Too much is currently invested in this demonising rhetoric. But if we could edge it closer to the rim of the dustbin of history, we’d be making a start.“

Dies ist die dritte Glocke, gewissermaßen das Sterbeglöcklein des jüdischen Selbsthasses.

Der christliche Selbsthaß Martin Luthers von 1517, der deutsche Selbsthaß der Friedrichshainer Antifa von 2014, der jüdische Selbsthaß Theodor Lessings von 1930, der jüdische Selbsthaß Trotzkis von 1917 … haben sie eine gemeinsame Wurzel?

Woher kommt diese absolute Ablehnung des eigenen Selbst, die wütende Selbstanklage, dieses Gefühl: „Ich bin nichts, ich tauge nichts. In mir ist nichts Gutes, drum besser wär’s, es gäb‘ mich nicht! Fort mit mir!“?

Früheste Belege dieses Gefühls „Fort mit mir!“ scheinen mir ins Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückzureichen, also ins biblische Buch Bereschit (Buch Genesis). In Kapitel 4, Vers 13 hebräisch sagt es Kain so:

וַיֹּ֥אמֶר קַ֖יִן אֶל־יְהוָ֑ה גָּדֹ֥ול עֲוֹנִ֖י מִנְּשֹֽׂ׃

In rohes unbehauenes ungeliebtes Deutsch übersetzt also:
Und sprach Kajin zu JHWH : Groß meine-schuld aufheben

Kain traut sich nicht mehr aufzuschauen. Es ist, als würde er sagen: „Nach allem, was ich getan habe … was soll ich noch anschauen? Wen darf ich noch anschauen? Was ich getan hab an dem Bruder, kann ich nie büßen.“

Kain formuliert dieses Gefühl: Großschuld – zu große Schuld – übergroße Schuld. Lateinisch: „Mea culpa, mea magna culpa, mea maxima culpa“. Und diese Formulierung kannte der katholische Augustiner Martin Luther mit Sicherheit.

Im spezifischen Sündenbewußtsein Kains, im Bewusstsein seiner unverzeihlichen, seiner übergroßen Schuld goß Martin Luther dieses Gefühl absoluter Verworfenheit in seine vierte Wittenberger These – mit unabsehbaren Folgen für die deutsche und abendländische Geschichte.

Der christliche Selbsthaß Luthers wurzelt genetisch, also der Genesis nach im hebräisch-biblischen Selbsthaß Kains.

Doch ist dieser Selbsthaß keine Eigenheit des jüdischen oder des christlichen oder des deutschen Selbstverhältnisses. Dieser Selbsthaß, er ist etwas Menschliches. Dem Menschen haftet seit Kain das Odium der Selbstverwerfung an.

Denn auch in der paganen Antike außerhalb oder vor der jüdischen und der christlichen Überlieferung sind uns durchaus einige machtvolle Selbstzeugnisse eines derartigen Selbsthasses bekannt. So etwa im Ödipus Tyrannos des Sophokles! Die Schuld des Ödipus ist zu groß, als dass sie aufgehoben werden könnte, er wendet eine ungeheuerliche Aggression gegen sich selbst: er sticht sich die Augen aus. Es ist dies zweifellos eine Art aufgeschobener Selbstmord. In der Übersetzung durch Hugo von Hofmannsthal liest sich der letzte große Monolog des Ödipus so:

Ödipus:
Was soll ich noch anschaun?
Den Vater drunten, wenn ich ihm begegne?
oder die Kinder, ihren Blick in meinen
verschränken und ein unausdenkbares Gespräch
von Aug‘ zu Auge führen? Fort mit mir!
Jagt doch das große Unheil, jagt doch das,
hinaus, was trieft von allen Himmelsflüchen!

Die Greise (zugleich)
Ich wollt‘, ich hätte niemals dich gekannt.

Ödipus (leiser)
Was ich getan hab‘ an der Mutter und
am Vater, büßt Erhängen nicht.

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Göttin Sprache

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Feb 232016
 

DIE SPRACHE

An Carl Friedrich Cramer

Des Gedankens Zwilling, das Wort scheint Hall nur,
Der in die Luft hinfließt: heiliges Band
Des Sterblichen ist es, erhebt
Die Vernunft ihm, und das Herz ihm!

Und er weiß es; denn er erfand, durch Zeichen
Fest, wie den Fels, hinzuzaubern den Hall!
Da ruht er; doch kaum, dass der Blick
Sich ihm senket, so erwacht er.

Es erreicht die Farbe dich nicht, des Marmors
Feilbare Last, Göttin Sprache, dich nicht!
Nur weniges bilden sie uns:
Und es zeigt sich uns auf Einmal.

[…]

Diese ersten drei von insgesamt zwölf Strophen bezeugen den tiefen Glauben an die Kraft des Wortes, an den gleichsam göttlichen Rang der Sprache. Geschrieben hat dieses Gedicht Friedrich Gottlieb Klopstock. „Klopstock!“, wie es in Goethes Werther so vielsagend heißt! Das Wort Klopstocks lebt, es ist lebendig, es schafft, es bindet, es urteilt, verurteilt. Das Wort, es verzeiht, es löst, es erlöst. Schon die ältesten Zeugnisse der Kulturen der Welt, für uns faßbar etwa im Buch Genesis, bezeugen die gleichsam göttliche Macht des Wortes, dieses ewige „ES WERDE“ der zeitenumspannend verwandelnden Sprache. Das gesprochene, schaffende, gewissermaßen göttliche Wort trieb Dichter wie Klopstock und Goethe an, ihre Huldigung an die Sprache in unendlich viele Rätsel und Verse zu gießen.

Nur zwei dieser Gedichte und Rätsel davon nahmen wir uns gestern und heute vor. Aber es gibt deren noch Tausende, in tausend anderen Sprachen! Von tausend anderen Dichtern!

Beleg:
„Die Sprache“, in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. Band I. Carl Hanser Verlag München. Lizenzausgabe für Fourier Verlag Wiesbaden, o.J., S. 131-132

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Das lösende Wort: Sprache

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Feb 232016
 

Niemand soll unnötig leiden, kein Mensch, kein Tier, kein Mückchen und kein Bienchen! Deshalb sei’s Euch verraten, des Rätsels Lösung. Niemand soll sich unnötig den Kopf über des Rätsels Lösung zerbrechen!

„Sprache“ lautet der Titel und zugleich das Lösungswort des gestrigen Rätsels. Goethes Gedicht „Sprache“ erschien erstmals 1773 im Göttinger „Musen-Almanach 1774“.

Noch einmal sei es hier vollständig eingefügt:

SPRACHE

Was reich und arm! Was stark und schwach!
Ist reich vergrabner Urne Bauch?
Ist stark das Schwert im Arsenal?
Greif milde drein, und freundlich Glück,
Fließt Gottheit von dir aus!
Faß an zum Siege, Macht, das Schwert,
Und über Nachbarn Ruhm!

Die Lösung steht hier:
Johann Wolfgang Goethe, Gedichte. 1756-1799. Herausgegeben von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 178

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Ein Rätsel von Goethe. Wer findet das lösende Wort?

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Feb 222016
 

Was reich und arm! Was stark und schwach!
Ist reich vergrabner Urne Bauch?
Ist stark das Schwert im Arsenal?
Greif milde drein, und freundlich Glück,
Fließt Gottheit von dir aus!
Faß an zum Siege, Macht, das Schwert,
Und über Nachbarn Ruhm!

Ich legte drei Rätselfreunden dieses Goethe’sche Rätsel vor. Was glaubt ihr, haben sie mir geantwortet?

Rästelfreundin A sagt:
„Das Gold ist von Goethe gemeint! Kennt ihr den Faust? Dort heißt es:
Am Golde hängt,
Zum Golde drängt
Doch Alles!
Ergo: Europa wird durch das Gold zusammengehalten! Ohne gemeinsames Gold scheitert Europa! Der Glaube an das gemeinsame Gold eint Europa! Goethe, Gott und Gold sind eins.“

„Nein!“, fiel ihr Rätselfreund B ins Wort. „Die Gerechtigkeit ist von Goethe gemeint! Heißt es doch im Faust:
Die Höchste Tugend, wie ein Heiligen-Schein,
Umgibt des Kaisers Haupt, nur er allein
Vermag sie gültig auszuüben:
Gerechtigkeit!
Ergo: Gerechtigkeit ist gemeint. Gerechtigkeit, Goethe und die Gottheit sind eins!“

„Ihr irrt euch beide!“, frohlockte Rätselfreund C. „Ich weiß, was gemeint ist. Nicht Geld, nicht Gold, nicht Gerechtigkeit! Denn ich habe dieses Gedicht anderen Tags in der trefflichen Ausgabe des leider schon verstorbenen Karl Eibl gelesen und für tauglich befunden. Die Lösung steckt im Titel des Gedichtes!“,

… welches Gedicht hiermit ausdrücklich Eurer Bemühung empfohlen sei. Wer findet das Lösungswort?

Die Lösung steht hier:
Johann Wolfgang Goethe, Gedichte. 1756-1799. Herausgegeben von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1998, S. 178
Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 119 (Verse 2802-2804), S. 208 (Verse 4772-4775)

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„Ich bin Sozial-Demokrat und sonst nichts“. Trotzkis Absage an das Judentum

 1917, Deutschstunde, Hebraica, Lenin, Russisches, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für „Ich bin Sozial-Demokrat und sonst nichts“. Trotzkis Absage an das Judentum
Feb 192016
 

„Miteinander verwoben“, so lässt sich treffend das Schicksal der Russen, der Juden und der Deutschen im 20. Jahrhundert bezeichnen. Dafür gibt es Hunderttausende Geschichten, hunderttausende persönliche Erfahrungen, hunderttausende Fäden in diesem unzertrennlichen Gespinst an Fakten, Familiengeschichten, Mythen, Märchen und Wahrheiten.

Nehmen wir Lenin! Lenin war gewissermaßen „Halb-Deutscher“, seine Vorfahren waren mütterlicherseits deutscher Abstammung, er sprach fließend Deutsch. Die Oberste Heeresleitung des Deutschen Reiches setzte große Hoffnungen auf diesen russischen Berufsrevolutionär, sie beförderte ab April 1917 aktiv den Oktober-Staatsstreich der Bolschewiki, da die demokratische Russische Revolution des Februars 1917 wider Erwarten nicht zur Kapitulation Russlands geführt hatte; die Deutschen schafften Lenin zusammen mit 30 weiteren Genossen in einem „Russentransport“, wie sie es nannten, ab 9. April 1917 von Zürich nach Petrograd und trugen somit proaktiv zum gewaltsamen Putsch der Bolschewiki gegen die legitime Regierung und zur Zerstörung der ersten Demokratie auf russischem Boden bei. Der ersten Republik auf russischem Boden waren also nur wenige Monate Existenz beschieden. Möglicherweise hätte sich die Demokratie in Russland halten können, wenn die deutsche Heeresleitung 1917 nicht alles daran gesetzt hätte, dem alten Russland mit viel Geld und der Hilfe Lenins den vernichtenden Todesstoß zu versetzen – und zwar von innen heraus.

Oder nehmen wir Trotzki, den Mann, der die Rote Armee zu einem scharfen Schwert des Terrors schmiedete und der sich brüstete, erst dann herrsche echter Hunger, wenn er „den Müttern befehlen würde, ihre eigenen Kinder zu verspeisen“! Seine Vorfahren waren sowohl auf Mutterseite wie auf Vaterseite Juden, die Mutter war gläubige, praktizierende Jüdin, der Vater, ebenfalls jüdischer Volkszugehörigkeit, hingegen war säkular eingestellt. Russisch und Jiddisch, also das im Osten Europas gesprochene Judendeutsch, hörte Leo Dawidowitsch Bronstein, der spätere Trotzki, von Kindesbeinen an; in Odessa besuchte er das Gymnasium der evangelischen St.-Pauls-Gemeinde, wo er zunächst einmal Hochdeutsch lernen musste, um dem Unterricht folgen zu können. An dieser deutschen Real-Oberschule legte er als Klassenbester das Abitur ab. Wie Lenin sprach auch Trotzki Deutsch, man kann im Internet heute noch eine in Wien gehaltene Ansprache Trotzkis in deutscher Sprache hören. Denn Deutsch war zunächst einmal die allgemeine Verhandlungssprache der internationalen kommunistischen Bewegung auf dem europäischen Kontinent.

Oder nehmen wir Theophil Richter, den deutschen Vater des russisch-deutschen Pianisten Swjatoslaw Richter! Er wirkte ab 1916 an eben dieser genannten deutsch-lutherischen St.-Pauls-Gemeinde zu Odessa als Organist; 1941 wurde er wie vor ihm und nach ihm Hunderttausende andere deutsche, jüdische und russische Sowjetbürger und Sowjetbürger anderer nationaler Minderheiten ohne Gerichtsverfahren von der kommunistischen Geheimpolizei durch Erschießen hingerichtet. Swjatoslaw Richter beschloss daraufhin, den Kontakt zu seiner russischen Mutter einzustellen, und er sprach jahrzehntelang nicht mehr mit ihr.

Trotzkis Mutter war gläubige, praktizierende Jüdin, sein Vater war im russischen Reich der Volkszugehörigkeit nach ebenfalls Jude, also, wie alle russischen Juden vor dem Februar 1917, ein Staatsbürger zweiter Klasse. Die Eltern stellten die Unterhaltszahlungen an ihren Sohn ein, als Lew Davidowitsch Bronstein sich nach dem Abitur dem revolutionären Kampf anschloss und in die Illegalität ging.

War er, Trotzki, wie er sich nunmehr nannte, also selbst Jude, oder hatte er sich vom jüdischen Volk losgesagt? War er ein „Abtrünniger“? Er wurde dies tatsächlich einmal gefragt, ob er sich zum Judentum zähle. Seine historisch verbürgte Antwort, wie sie Sonja Margolina in ihrem noch heute erstaunlichen, auf Deutsch erschienenen Buch „Das Ende der Lügen“ wiedergibt: „Ich bin Sozial-Demokrat und sonst nichts.“

Lesehinweise und Belege:
Sonja Margolina: „Der nichtjüdische Jude“, in: dieselbe, Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert. Siedler Verlag, Berlin 1992, S. 95-102, hier S. 100 (Trotzki-Zitat)
Leo Trepp: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999, S. 16 und S. 378 (zur Frage: Was ist denn ein Jude?)
Jan Brachmann: Schockstarre Ohren für diesen Heiligen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. März 2015 (über Theophil Richter, den deutschen Vater Swjatoslaw Richters)
Harald Haarmann: „Europasprachen“, in: derselbe, Soziologie und Politik der Sprachen Europas. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1975, S. 240-248, hier S. 247 (Sprachkenntnisse Lenins)
Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. dtv, München 1993, S. 32 (Mitteilung der OHL an Kaiser Wilhelm vom 12.04.1917 über den „Russentransport“)

http://pda.litres.ru/svetlana-aleksievich/vremya-sekond-hend/chitat-onlayn/, darin:
„Hungerzitat“ Trotzkis:
«Москва буквально умирает от голода» (профессор Кузнецов — Троцкому). «Это не голод. Когда Тит брал Иерусалим, еврейские матери ели своих детей. Вот когда я заставлю ваших матерей есть своих детей, тогда вы можете прийти и сказать: “Мы голодаем”» (Троцкий, 1919).

Robert Service: Trotsky. A biography. Pan Macmillan Books, London 2010, Abbildung Nr. 14, digitale Ausgabe Pos. 15528
(handschriftliche Selbstauskunft Trotzkis zu seiner Volkszugehörigkeit als Jude aus dem Jahr 1922 anlässlich des 10. Kongresses der Sowjets)

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Vier Saiten: G, D, A, E. Eine kosmische String-Theorie

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Feb 142016
 

20160214_120555[1]
Liebe ist … , ja, was? Ich glaube und vertraue: Die gesuchte, unbekannte Liebe ist eigentlich … eine Geige! Eine Gestimmtheit! Und zwar ist sie auf die vier Saiten G, D, A und E gestimmt.

Und so kannst du dir die Grundgestimmtheit dieser Liebesgeige, des violino della carità merken – und laß den Geh-Du-Alter-Esel ein kleines Weilchen ruhn und ein Bündel Heu fressen!

O Mensch
denk um und habe acht
bei tiefer tiefer Mitternacht
und summe sacht
was Liebe macht

Geduld die alles trägt und hält
Demut die das Feld bestellt
Achtgabe auf Klein und Groß
Eifer sind der Liebe Schoß

Bild: Ein Blumenmeer an der Dominicusstraße in Schöneberg, aufgenommen heute, am Valentinstag

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Feb 132016
 

Morgen ist der 14. Februar, der Gedenktag der beiden Slawenapostel Kyrill und Method, die zweifellos ebenso bedeutend sind wie der Bischof Valentin, der Bischof von Interamna, dem heutigen Terni in Umbrien, der neben Ambrosius von Mailand einer der Schutzpatrone der Imker (und neuerdings der Chocolatiers und Pralinenhersteller) ist, wovon gerade heute wieder zahlreiche Poster und Plakate kündeten.

Nun Kyrill und Method, beide aus dem griechischen Thessaloniki stammend! Sie sind gewissermaßen die Patrone der orthodoxen, der slawischen Spielart des Christentums. Kyrill schuf die glagolitische Schrift, aus der sich die heutige kyrillische Schrift ableitet.

Unter der „Griechischen“ Religion verstand man zu den Zeiten eines Grimmelshausen die orthodoxe Spielart des Christentums; hinwiederum die „Lateinische Religion“ wäre demnach die westliche Religion, das „Abendland“, das das Neue Testament in einer Ableitung, also in der lateinischen Übersetzung des griechischen Urtextes empfing.

Ein schöner Beleg für die beiden gleichberechtigten Lungenflügel Europas, von denen Papst Johannes Paul II. oft sprach! Die östliche Hälfte Europas empfing das Neue Testament aus dem Griechischen; die Slawenapostel Kyrill und Method formten das kyrillische Alphabet nach dem griechischen Alphabet und übersetzten aus der Weltsprache Griechisch ins damalige Slawische, das „Alt-Bulgarische“, oder auch „Altkirchenslawische“, wie es heute meist genannt wird.

Unter unseren europäischen und nahöstlichen Mitvölkern sind es beispielsweise die Bulgaren, die Russen, die Griechen, aber auch viele syrische Christen, die bis heute das orthodoxe Christentum mit seinen „autokephalen“, also von einer zentralen Amtskirche unabhängigen Patriarchen weitertragen. In gewisser Weise sind also die ostkirchlichen Patriarchate die Vorbilder der viel späteren lutherischen oder reformierten „Landeskirchen“.

Im Jahr 1054 kam es zu einem tiefen Bruch zwischen den beiden Lungenflügeln, der erfreulicherweise in diesen Tagen allmählich zusammenzuwachsen scheint. Es wurde aber auch Zeit. Ich habe selbst dem heutigen Patriarchen Kyrill im Jahre 2014 bei einer Messe in der Moskauer Erlöserkathedrale gelauscht und fand, dass jedes seiner Worte auch für einen abendländisch-lateinischen Christen völlig nachvollziehbar und glaubwürdig war. Die beiden gleichberechtigten Spielarten – die morgenländische und die abendländische – sind geeint in der Person Jesu Christi und im Geist und im Buchstaben der Bibel. Das ist das Wesentliche. Auch die Taufe erkennen sie gegenseitig an.

Grimmelshausen beschreibt im 5. Buch seines Simplicissimus sehr lebendig und amüsant, wie der Held auf seiner kriegerisch-abenteuerlichen Tour in Moskau aufgefordert wird, vom lateinischen Glauben zur griechischen Spielart der christlichen Religion überzutreten. Er widersteht, so sehr ihm aus Opportunitätsgründen der Konfessionswechsel auch zupaß gekommen wäre.

Hier der ganze Passus in der Fassung des Erstdruckes:

Nach dem wir nun sicher in der Statt Moscau ankommen / sahe ich gleich daß es gefehlt hatte / mein Obrister conferirte zwar täglich mit den Magnaten, aber viel mehr mit den Metropoliten als den Knesen / welches mir gar nicht Spanisch / aber viel zu pfäffisch vorkam; so mir auch allerhand Grillen und Nachdenckens erweckte / wiewol ich nicht ersinnen könte / nach was vor einem Zweck er zielte; endlich notificirt er mir / daß es nichts mehr mit dem Krieg wäre / und daß ihn sein Gewissen treibe die Griechische Religion anzunehmen; Sein treuhertziger Rath wäre / weil er mir ohne das nunmehr nicht helffen konte wie er versprochen / ich solte ihm nachfolgen; Deß Zaarn Mayestät hätte bereits gute Nachricht von meiner Person und guten Qualitäten / die würden gnädigst belieben / wofern ich mich accommodiren wolte / mich als einen Cavallier mit einem stattlichen Adelichen Gut und vielen Unterthanen zu begnädigen; Welches allergnädigste Anerbieten nicht außzuschlagen wäre / in deme einem jedwedern rathsamer wäre / an einem solchen grossen Monarchen mehr einen allergnädigsten Herrn / als einen ungeneigten Groß-Fürsten zu haben; Jch wurd hierüber gantz bestürtzt / und wuste nichts zu antworten / weil ich dem Obristen / wann ich ihn an einem andern Ort gehabt / die Antwort lieber im Gefühl als im Gehör zu verstehen geben hätte; muste aber meine Leyer anders stimmen / und mich nach dem jenigen Ort richten / darinn ich mich gleichsam wie ein Gefangner befande / weßwegen ich dann / ehe ich mich auff eine Antwort resolviren konte / so lang stillschwi>
|| [594]
ge: Endlich sagte ich zu ihm / ich wäre zwar der Meinung kommen / ihrer Zaarischen Mäyestät / als ein Soldat zu dienen / warzu er der Herr Obriste mich daselbst veranlaßt hätte / seyen nun Dieselbe meiner Kriegsdienste nicht bedörfftig / so könte ichs nicht ändern / viel weniger Derselben Schuld zumessen / daß ich Jhrentwegen einen so weiten Weg vergeblich gezogen / weil sie mich nicht zu Jhro zu kommen beschrieben / daß aber Dieselbe mir ein so hohe Zaarische Gnad allergnädigst widerfahren zu lassen geruheten / wäre mir mehr rühmlich aller Welt zu rühmen / als solche allerunterthänigst zu acceptiren und zu verdienen / weil ich mich meine Religion zu mutiren noch zur Zeit nicht entschliessen könne / wünschend / daß ich widerumb am Schwartzwald auff meinem Bauren-hof sässe / umb niemanden einiges Anligen noch Ungelegenheiten zu machen;

 Posted by at 21:12

„aber die Liebe ist die größte unter ihnen…“ – μείζων δὲ τούτων ἡ ἀγάπη.

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Feb 132016
 

„aber die Liebe ist die größte unter ihnen…“
μείζων δὲ τούτων ἡ ἀγάπη.

Der Beethoven-Elternchor ruft, da muss ich hin! Und da werde ich auch hin!

Abendgottesdienst zum Valentinstag
am 14.02.2016 um 18 Uhr

in der Dorfkirche Lankwitz
(Alt-Lankwitz (Dorfaue) 12247 Berlin)

Ein Gottesdienst bei Kerzenschein
mit besonderer Musik für alle,
die mit uns nachdenken möchten
über ihre junge oder alte Liebe,
über das Verliebtsein
und über die Sehnsucht des Menschen
nach Liebe.

Pfn. Miehe-Heger und Team
mit dem Elternchor der Beethovenoberschule
unter der Leitung von Katrin Pinkert

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Frieden bei Annahme der „Griechischen Religion“?

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Feb 132016
 

[…] endlich notificirt er mir / daß es nichts mehr mit dem Krieg waere / und daß ihn sein Gewissen treibe die Griechische Religion anzunehmen; […]

So weit ein Satz aus der Lebensbeschreibung des Melchior Sternfels von Fuchshaim, erschienen in der editio princeps bei Wolff Eberhard Felßecker zu Nürnberg im Jahr 1669, in V. Buches XX. Kapitel.

Was mochte damit gemeint sein, mit dem Ausdruck „Griechische Religion“, die man annehmen solle, wenn es nichts mehr mit dem Krieg wäre? Steckte 1669 in der „Griechischen Religion“ gar eine Friedenshoffnung?

Beleg:
Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Simplicissimus Teutsch. Herausgegeben von Dieter Breuer. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 530-531

 Posted by at 13:46
Feb 132016
 

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Wieder und wieder stoße ich auf ungläubiges Staunen, wenn ich vorschlage, man sollte die alten maßgeblichen Schriften der europäischen Geschichte in den Originalsprachen studieren, ggf. auch singen und nicht bloß stumm in Übersetzungen lesen. „Das Neue Testament auf Griechisch singen? Wie schräg ist dieser Vorschlag denn!“

Nun, ich vertrete den Standpunkt, daß man Albert Einsteins Weg zur Relativitätstheorie, ja die Relativitätstheorie selbst umfassend nur erklären und verstehen kann, wenn man Albert Einsteins Schriften im Original, also in deutscher Sprache, d.h. in der Kindheits-, Mutter- und Arbeitssprache Albert Einsteins liest. Ein gleiches gilt für die Quantenmechanik Werner Heisenbergs, bei der ebenfalls sehr gute Deutschkenntnisse zum Verständnis unerlässlich sind.

Goethes West-östlichen Divan wird man nur umfassend verstehen und erklären können, wenn man ihn im Original, also in deutscher Sprache liest, und auch den Faust und auch seine Italienische Reise sollte man ruhig in deutscher Sprache lesen.

Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels Phänomenologie des Geistes, das Kapital Karl Marx‘, die Psychoanalyse Sigmund Freuds, Grimmelshausens Simplicissimus teutsch, die deutschen Predigten des Meisters Eckhart, Martin Luthers Sendbrief vom Dolmetschen und all die anderen überragend wirkungsreichen Schriften der europäischen Geistesgeschichte, ja der Weltgeschichte wird man nur umfassend verstehen und erklären können, wenn man sie im Original, also in deutscher Sprache liest. Um überhaupt europäische Geschichte verstehen und lehren zu können, muss man die sieben oder acht großen, wirkungsmächtigen Europasprachen lernen und kennen, zu denen nun einmal neben und hinter dem Griechischen und dem Lateinisch-Romanischen auch das Deutsche gehört.

Ohne gute bis sehr gute Deutschkenntnisse wird man Albert Einstein nicht verstehen. Und dasselbe gilt eben auch für die fortzeugenden Urschriften des Christentums, die samt und sonders in griechischer Sprache verfasst worden sind, so wie die Bibel der Juden in hebräischer – und zu kleinen Teilen auch in der eng verwandten aramäischen Sprache – verfasst worden ist.

Alle Autoren unseres vielzitierten Neuen Testaments, aber auch noch die maßgeblichen östlichen UND westlichen Kirchenväter des 2. Jahrhunderts wie etwa Clemens von Rom (sic!) und Hippolytos von Rom (!) dachten und schrieben nachweislich in griechischer (nicht in lateinischer!) Sprache. Das Griechische und nur das Griechische ist die entscheidende Sprache, in der sich im 1. bis 3. Jahrhundert alle noch heute geglaubten Grundlagen der verschiedenen christlichen Konfessionen ausbildeten.

Das Christentum lässt sich also in diesem angedeuteten historischen Sinne cum grano salis als „West-östliche griechische Religion“ bezeichnen. Ohne Griechisch kein Christentum! Alle bis heute grundlegenden Bekenntnisschriften des Christentums sind griechisch verfasst.

Wer also beispielsweise den ersten Korintherbrief des Apostels Paulus mit dem Hohenlied der Liebe, das Johannesevangelium oder auch das noch heute im Gottesdienst verwendete Nikänische Glaubensbekenntnis umfassend verstehen, auslegen und in moderne Muttersprachen übersetzen will, muss sich mit der griechischen Urfassung kritisch und auch textkritisch auseinandersetzen.

Wer dies verweigert und sagt, dies – also die Befassung mit den griechischen Quellen oder mit der griechischen Sprache – sei nicht mehr nötig, da dies die „Kirchen es im Laufe der Jahrhunderte schon alles richtig gemacht“ hätten, der leistet Verzicht auf einen großen Teil der Bedeutungsfülle, die jenen uralten Glaubenszeugen innewohnt. Er beschneidet sich und seine Freiheit unnötig!

„Aber auf die heutigen Übersetzungen der Bibel ist doch wenigstens Verlaß, oder?“, so fragte den Gräzisten ein Sangesbruder einmal.

Antwort des Gräzisten: „Die Übersetzer haben das Neue Testament verschieden übersetzt. Es kömmt aber heute drauf an, die verschiedenen, teilweise einander glatt widersprechenden Übersetzungen richtig zu interpretieren!“

Sangesbruder: „Du redest und singst in Rätseln. Nenne mir ein Beispiel!“

Der Gräzist: Gern, hier kommt es: καὶ καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν (sprich: kai ho logos ähn pros ton theón). Johannesevangelium Kapitel 1, Vers 1.

Die übliche deutsche Übersetzung lautet: „und das Wort war bei Gott“. Eine mögliche, nicht völlig falsche Übersetzung!

Richtiger wäre aus dem gut bezeugten griechischen, eindeutig belegten und textkritisch gesicherten Wortlaut jedoch: „zu Gott hin“, oder auch „gegen Gott hin“, „angesichts Gottes“ und nicht „bei Gott“.

Denn die griechische Präposition πρὸς mit Akkusativ bezeichnet in all den Jahrhunderten des alten griechischen Sprachgebrauchs – und ohne Zweifel auch im Neuen Testament – keine räumliche statische Nähe („bei“), sondern vielmehr eine gerichtete Bewegtheit zu etwas hin, keine Identität, sondern dynamische Spannung, kein Zusammen, sondern ein Auseinander und ein Zueinander. Eine pulsierende kosmische Bewegung! Gravitationswellen! Saiten, „Strings“, wie die Astrophysiker heute sagen würden, die das gesamte Universum durchziehen! Johannes verfasste lange vor den Astrophysikern der heutigen Zeit eine bildliche String-Theorie des Kosmos.

„Das Wort war zu Gott“, darin steckt eine geradezu Heisenbergsche Unschärferelation, ein energetisches Kraftfeld, eine komplexe Gleichung mit Unbekannten, eine geradezu einsteinisch anmutende Formel, bei der nicht klar ist, ob es sich um Materie, Energie, Gravitation, um dunkle Masse oder um Licht handelt, oder ob alles sich in alles hinein verwandelt.

Beleg:
„Die Präpositionen“, in: Eduard Bornemann, Oberstudienrat i.R. und Honorarprofessor in Frankfurt Main: Griechische Grammatik. Unter Mitwirkung von Ernst Risch, Ordinarius für indogermanische Sprachwissenschaft in Zürich. Verlag Moritz Diesterweg, 2. Aufl., Frankfurt am Main u.a. 1978, S. 197-208, hier insbesondere zu πρὸς cum accusativo S. 204-205

Bild:
Morgenröte, das Heraufdämmern eines neuen Tages über dem Gasometer! Das Heute, das Itzt, das Nu, das Hier!

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„Liebe ist? Schokolade von Chocri und Schmuck von Christ“

 Novum Testamentum graece  Kommentare deaktiviert für „Liebe ist? Schokolade von Chocri und Schmuck von Christ“
Feb 102016
 

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Ist Liebe Schokolade von Chocri und Schmuck von Christ? Diese in mein Postfach eingeworfene Spam-Mail von dem Zahl-Freund Pay-Pal stimmt nachdenklich.

Ist Liebe Schokolade?

Ich weiß es nicht. Mir fehlt der Glaube.
Ich finde, Liebe hat was Ritterliches an sich, etwas Großzügiges, Hochgemutes.
Ich finde, Liebe hat was Feines an sich, sie ist nicht prahlerisch und bläht sich nicht auf.
Auch dürfte Liebe was Edles an sich haben. Sie beutet den anderen nicht aus, sie trägt alles mit. Sie ist hilfreich!
Liebe hat auch was Tätiges an sich. Sie ist was Praktisches. Ha! Liebe ist eine Handlungsbereitschaft!
Liebe ist eine Gestimmtheit zum Guten hin. Sie will etwas Positives. Sie setzt ein positives Vorzeichen vor das Geliebte.

Eines ist sie nicht: quadratisch. Ich finde eher, sie, die Liebe ist rund.

Ein Zeichen der Liebe ist hier ein Schmuck von Christ für das Hohelied der Liebe, 1 Kor 13.
Novum Testamentum Graece, 28. Aufl. Stuttgart 2012

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„Sur des modèles anciens, faisons des hommes nouveaux“

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Faschismus, Pasolini, Platon  Kommentare deaktiviert für „Sur des modèles anciens, faisons des hommes nouveaux“
Feb 092016
 

„Faisons l’homme à notre image.“ / „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bilde.“
Soweit Buch Genesis 1,26

„Sur des modèles anciens, faisons des hommes nouveaux.“ / „Gestützt auf alte Vorbilder, lasset uns neue Menschen machen!“

Mit diesen knappen Worten, die nicht zufällig einen biblischen Anklang verlauten lassen, fasst der französische Historiker Johann Chapoutot seine an einer Fülle von Belegen gewonnenen Beobachtungen über den nationalsozialistischen Kult der griechisch-römischen Antike zusammen.

Der totalitäre Machtverband Sparta, das auf gestählte Manneskraft und absolute Befehlsgewalt gestützte Rom, der zentralistisch-autoritär denkende Platon der Politeia, der Germania-Ursprungsmythos des Tacitus, das sind wohl einige der wichtigsten Kulissen oder Bühnen-Versatzstücke, auf denen die Nationalsozialisten ihren rücksichtslosen Griff nach der Weltmacht stützten.

Das Buch Chapoutots leistet ähnliches, wie es vor ihm Ernst Nolte in seinem Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ geleistet hatte: Genaue Herauspräparierung der politischen Ideologie der faschistischen bzw. nationalsozialistischen Bewegungen anhand der in Originalsprachen ausgewerteten zeitgenössischen Quellen; Versuch, das ganze Gewirr aus Fakten, Forschungen, Halbwahrheiten, Märchen, Lügen und Mythen zu verstehen und aus sich heraus schlüssig zu deuten; Absehen von einer rein moralischen Verurteilung bzw. vom Ende her denkenden Verteufelung der faschistischen Bewegungen. Ich denke, man muss solche Versuche von sorgfältig forschenden Historikern wie etwa Johann Chapoutot durchaus ernstnehmen. Aufgabe des ernsthaften Historikers ist es ja nicht, eine Art Tribunal über die Vergangenheit der Väter und Großväter abzuhalten. Es muss Geschäft des Historikers sein, Ereignisse, Strukturen und Menschen aus dem jeweiligen Zeithorizont heraus zu verstehen – oder es zumindest zu versuchen. Nur so kann der Opferkult, die Bereitschaft zur schrankenlosen, zur verbrecherischen Gewalt erklärlich werden, wie sie den faschistischen Bewegungen, aber auch – dies wird häufig vergessen – den kommunistischen Bewegungen Europas zu eigen waren.

Wie sonst ist es zu erklären, dass sich später allseits gefeierte Männer wie der spätere Nobelpreisträger Günter Grass, der damalige volkstümliche Dialektdichter Pier Paolo Pasolini, der spätere Präsident Giorgio Napolitano, der spätere Nobelpreisträger Dario Fo, der Nobelpreisträger Knut Hamsun, der Diplomat Ernst von Weizsäcker und Tausende, Hunderttausende andere in ihren frühen Mannesjahren ganz offen den jeweiligen faschistischen Organisationen ihrer Länder als Mitglieder freiwillig anschlossen bzw. zumindest nachweisbar ihre Sympathie für die nationalsozialistischen Bewegungen ihrer Zeit offen zu erkennen gaben? Es waren alle doch keine Dummköpfe, sondern bereits damals hochgebildete, nachdenkliche, urteilsfähige Zeitgenossen…

Beleg:

Johann Chapoutot: Le nazisme et l’Antiquité. Presses Universitaires de France, Paris 2012, hier bsd. S. 280-284, Zitat: S. 280
Johann Chapoutot: Le meurtre de Weimar. Presses Universitaires de France, Paris 2010

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