Jan 072017
 

Zu den merkwürdigsten Funden auf unsrer jüngsten Harzreise gehörten zweifellos die Felsklippen in der Gegend um Schierke: mächtig emporragende Türme, verwittert, klumpenartig aufeinandergeworfne Steinbrocken. „Wer hier nicht an das Werk von Riesen glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen!“, so erscholl in unserer Wandergruppe der Ausruf des kindlichsten Staunens.

Und doch – diese Felsformationen sind nicht die Tat von Riesen! Sie sind das Werk der Erdgeschichte, der „Natur“, wie wir heute wohl sagen würden. Was wir hier sehen, ist eine der „Feuersteinklippen“. Vor etwa 50 Millionen Jahren dürfte sich diese Granit-Formation gebildet haben. Bei etwa 600 bis 800° C bildeten sich im Laufe von etwa 1 Million Jahren teilweise durch Schmelze, teilweise durch hohen Druck aus verschiedenen Gesteinsarten, wie etwa Feldspat, Quarz und Glimmer, die Granite aus: sie sind magmatische Mischgesteine mit unterschiedlicher Körnigkeit und unterschiedlicher Farbgebung.

Die umgebenden weicheren Gesteine – meist Schiefer, Grauwacke, Kalkstein – wurden durch die Verwitterung im Laufe der Jahrmillionen abgetragen. Was an Granit übrigblieb, wird weiterhin von den Einflüssen der Witterung abgeschliffen, abgerundet und abgeschmirgelt. Die Geologen sprechen treffend von „Wollsackverwitterung“, – als hätten Riesen mit Wolle gefüllte Säcke übereinandergestapelt.

„Der Granit war in den ältesten Zeiten …“ Goethes zu Lebzeiten nie gedrucktes handschriftliches Fragment, in dem er nach Besteigung des Brockens und nach Besichtigung einiger Felsklippen einige Gedanken zu Papier warf, entstand nach Begehung und geologischer Erforschung der Schnarcher- und der Feuersteinklippen bei Schierke.  Gedanken, geologische Erörterungen, theoretische Erwägungen? Ja, aber nicht nur das! Darüber hinaus quillt das Stück über von Gefühlen, tastender Selbstvergewisserung, abrupten Erschütterungen des Selbstbewusstseins, von Staunen, Freude, Dankbarkeit über das, was ist – alles mengt sich hinein in dieses eruptive Glanzstück deutscher Prosa, das selbst einem Opfergang auf dem granitenen Altar der Vernunft gleichkommt. In der überragenden Bedeutung für die Erkenntnis des Goetheschen Denkweges (und darüber hinaus Hölderlins und Hegels) kaum zu überschätzen! Ein Schlüssel zum Verständnis auch seines Gedichtes „Harzreise im Winter“!

Der Prosahymnus „Der Granit war in den ältesten Zeiten“ von 1784 ist ebenbürtig an die Seite der Ode „Harzreise im Winter“ zu stellen. Beide Stücke – der genannte Prosahymnus und die 1777 in freien Versen verfasste Ode  – ergänzen einander wie Nord- und Südklippe.

Warum aber veröffentlichte Goethe das Stück zu Lebzeiten nicht? Ich vermute: es war ihm selbst zu kühn. Der Verfasser legte bekanntlich größten Wert darauf, in der Gemeinde der Naturforscher als ebenbürtig anerkannt zu werden, und er musste wohl befürchten, es hätte seinen Ruf als Geologe und Naturwissenschaftler beschädigen können, vermengt es doch lyrische Herzensergießungen mit harten wissenschaftlichen Befunden, präzise Beobachtungen mit spekulativem, schweifendem Bekenntnis: kein naturwissenschaftlicher Text ist es also.

Nachstehend ist der Hymnus auf den Granit zu hören. Genieße! Hörst du, wie der brausende Wind zwischen den klippenartig gefugten Sätzen hindurchweht?

Johann Wolfgang Goethe: „Der Granit war in den ältesten Zeiten“ [=Über den Granit], [Handschriftliches Fragment 1784] zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Band 17: Naturwissenschaftliche Schriften. Zweiter Teil, S. 478-483. Artemis Verlag Zürich, Deutscher Taschenbuch Verlag München 1977 [=Artemis-Gedenkausgabe 1952, unveränderter Nachdruck 1977]

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