Jan 222017
 

Eine unerschöpfliche Quelle von Betrachtungen, Einsichten und unterhaltsamen, oft erheiternden Geschichten sind mir seit einigen Wochen Eckermanns „Gespräche mit Goethe“. Gerade beim geselligen Vorlesen entfalten diese über fast ein Jahrzehnt sich erstreckenden Unterhaltungen einen unbeschreiblichen Reiz. Sie zeigen aber auch zwei scharfsichtige Beobachter, und es wird klar, dass Goethe in seinen politischen Analysen weit ins 19. Jahrhundert, ja teilweise bis ins 20. Jahrhundert vorausblickte und so manche unliebsamen Entwicklungen, die nach seinem Tode eintraten, vorhersah. Er las und lobte beispielsweise noch Stendal, er befasste sich mit dem Grundgedanken des Sozialismus eines Saint-Simon und durchschaute ihn besser als die meisten Nachgeborenen, er durchschaute auch die zeitgenössische bigotte Debatte um die Abschaffung oder Beibehaltung des interkontinentalen Sklavenhandels in all ihrer Heuchelei.

Die Fühlfäden von Goethes Seele reichten also weit in die Zukunft hinein, und auch lange nach uns werden die Menschen diese Einsicht wieder und wieder bestätigt finden. Eckermanns „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“, das ist eins der besten, anmutigsten, tiefsten, heitersten, tröstlichsten deutschen Bücher überhaupt, so meine ich, das die Lektüre zahlloser mehr oder minder gelehrter Abhandlungen mit einem Schlag überflüssig machen kann oder diese doch mindestens in den Schatten stellt.

Heute erfreute uns besonders das Gespräch der beiden Männer über einen Traum Eckermanns, berichtet unter dem Datum vom 7. Oktober 1827.

Das Bild zeigt ein mit wolligem Gespinst bedecktes Gesträuch im Schöneberger Südgelände am heutigen Tag.

Eine Vorbemerkung sei gestattet: Der in dieser Geschichte vorkommende Hänfling, heute meist genauer als Bluthänfling bezeichnet, gehört zur Familie der Finken und zur Gattung der Zeisige. Er ist ein geselliger, in ganz Europa häufig vorkommender Singvogel, der zu Goethes und Eckermanns Zeiten gern als munterer Hausgenosse gehalten und als fleißiger Sänger geschätzt wurde, ehe dann exotische Arten wie etwa der Wellensittich ihn von diesem Platz verdrängten.

Zu einer abendlichen ruhigen Stunde mag diese Geschichte von den drei Hänflingen beim lauten Vorlesen eine wohltuende Wirkung entfalten. Sie beginnt mit den folgenden Sätzen:

Es war indes Licht gebracht, wir nahmen ein kleines Abendessen und saßen nachher noch eine Weile in allerlei Erinnerungen und Gesprächen.

Ich erzählte Goethen einen merkwürdigen Traum aus meinen Knabenjahren, der am andern Morgen buchstäblich in Erfüllung ging.

»Ich hatte«, sagte ich, »mir drei junge Hänflinge erzogen, woran ich mit ganzer Seele hing und die ich über alles liebte. Sie flogen frei in meiner Kammer umher und flogen mir entgegen und auf meine Hand, sowie ich in die Tür hereintrat. Ich hatte eines Mittags das Unglück, daß bei meinem Hereintreten in die Kammer einer dieser Vögel über mich hinweg und zum Hause hinausflog, ich wußte nicht wohin. Ich suchte ihn den ganzen Nachmittag auf allen Dächern und war untröstlich, als es Abend ward und ich von ihm keine Spur gefunden hatte. Mit betrübten herzlichen Gedanken an ihn schlief ich ein und hatte gegen Morgen folgenden Traum. Ich sah mich nämlich, wie ich an unsern Nachbarshäusern umherging und meinen verlorenen Vogel suchte. Auf einmal höre ich den Ton seiner Stimme und sehe ihn hinter dem Gärtchen unserer Hütte auf dem Dache eines Nachbarhauses sitzen; ich sehe, wie ich ihn locke und wie er näher zu mir herabkommt, wie er futterbegierig die Flügel gegen mich bewegt, aber doch sich nicht entschließen kann, auf meine Hand herabzufliegen. Ich sehe darauf, wie ich schnell durch unser Gärtchen in meine Kammer laufe und die Tasse mit gequollenem Rübsamen herbeihole; ich sehe, wie ich ihm sein beliebtes Futter entgegenreiche, wie er herab auf meine Hand kommt und ich ihn voller Freude zu den beiden andern zurück in meine Kammer trage.

Mit diesem Traum wache ich auf. Und da es bereits vollkommen Tag war, so werfe ich mich schnell in meine Kleider und habe nichts Eiligeres zu tun, als durch unser Gärtchen zu laufen nach dem Hause hin, wo ich den Vogel gesehen. Wie groß war aber mein Erstaunen, als […]

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit erläuterndem Register besorgt von Hans Jürgen Meinerts. Im Bertelsmann Lesering 1960,  S. 462-463 (=Eintrag vom 7. Oktober 1827)

 

 

 

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