Feb 012017
 

„Schau, die Sonne geht über dem Brocken auf, der Tag beginnt jetzt, die gütige Sonne sendet ihre Boten, die farbigen Lichtstrahlen, voraus!“

Drei Sätze, drei subjektive Wahrheiten, jedoch drei objektiv falsche Aussagen oder Täuschungen! Denn die Sonne geht nicht auf, der Tag beginnt nicht jetzt, die Sonne sendet keine Boten aus, die Sonne ist nicht gütig, denn die Sonne hat keinerlei Absichten, geschweige denn irgendwelche Boten, schließlich sind die Strahlen nicht farbig, denn die Farben sind nur in unserer Wahrnehmung begründet.

So kann man eigentlich die allermeisten Aussagen, die wir im Alltag verwenden, zerlegen und bezweifeln und widerlegen und zerpflücken.

Großer Tag mit dem Studientag an der Katholischen Akademie in Berlin am vergangenen Samstag, aus dem ich eine dichtgedrängte Fülle von Anregungen und Einsichten mit nachhause nahm. Der Studientag war mit folgenden Worten angekündigt:

Ungeklärte Gegenwart – Licht und Schatten des Augustinus 
  
Die Denkmodelle des Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.) sind bis heute im christlichen und nachchristlichen Denken gegenwärtig. Hochschätzung und Kritik stehen unverbunden nebeneinander. 
  
Der Philosoph Peter Sloterdijk fragte anlässlich eines Besuches in Wittenberg, ob nicht eine „Befreiung vom Augustinismus“ an der Zeit wäre. Das Denken Augustinus habe das christliche Abendland nachhaltig verdunkelt und traumatisiert. Der Mensch als unheilbar korruptes Wesen habe seine Liebenswürdigkeit eingebüßt, seine Gottesbeziehung die Gegenseitigkeit verloren. Gnade würde als Begnadigung ins Werk gesetzt. 
  
Zu Beginn des Jahres 2017 fragen wir genauer nach den Erleuchtungen und Verdunklungen, die wir Aurelius Augustinus verdanken. Wir tun dies in ökumenischer Perspektive und im Blick auf zeitgenössische Augustinrezeptionen. Dabei werden uns begleiten Prof. Dr. Teresa Forcades i Vila (Berlin), Pater Prof. Dr. Elmar Salmann (Gerleve) und Prof. Dr. Notger Slenczka (Berlin). 

Als ein Beispiel unter vielen für die erstaunliche Gegenwärtigkeit des nordafrikanischen Philosophen und Theologen wurde uns von Professor Slenczka ein Zitat vorgelegt, das ich sofort und ohne mit der Wimper zu zucken den Meditationes de prima philosophia des Descartes zuordnen konnte. Zweifellos hatte ja Cartesius (1596-1650) in diesem Werk von 1641 erstmals systematisch den Gedanken des methodischen Zweifels als eine Art Letztbegründung des Selbstbewusstseins entwickelt. Auch wenn es keinerlei Gewissheit über irgendein Ding, irgendeine Empfindung gäbe, so Descartes, bliebe doch die Erfahrung des Zweifels bestehen. Es müsse also jemanden oder zumindest etwas geben, der oder das da zweifle, selbst wenn wir den Träger oder Akteur des Zweifels sowie auch den Gegenstand des Zweifels nicht zweifelsfrei bestimmen könnten.  Viuere se tamen et meminisse et intellegere et uelle et cogitare et scire et iudicare quis dubitet? Wer würde denn auch bezweifeln, dass er lebt und sich erinnert und versteht und will und denkt und weiß und urteilt – so falsch oder irrig dies alles auch sein möge?

Folgender uns vorgelegter Gedankengang, der geradezu von Descartes selbst geschrieben oder von Descartes abgeschrieben zu sein scheint, gibt in etwas anderen Worten die Argumentation des Cartesius recht gut wieder:

Sed quoniam de natura mentis agitur, remoueamus a consideratione nostra omnes notitias quae capiuntur extrinsecus per sensus corporis, et ea quae posuimus omnes mentes de se ipsis nosse certasque esse dilegentius attendamus. Vtrum enim aeris sit uis uiuendi, reminiscendi, intellegendi, uolendi, cogitandi, sciendi, iudicandi; an ignis, an cerebri, an sanguinis, an atomorum, an praeter usitata quattuor elementa quinti nescio cuius corporis, an ipsius carnis nostrae compago uel temperamentum haec efficere ualeat dubitauerunt homines, et alius hoc, alius illud affirmare conatus est. Viuere se tamen et meminisse et intellegere et uelle et cogitare et scire et iudicare quis dubitet? Quandoquidem etiam si dubitat, uiuit; si dubitat, unde dubitet meminit; si dubitat, dubitare se intellegit; si dubitat, certus esse uult; si dubitat, cogitat; si dubitat, scit se nescire; si dubitat, iudicat non se temere consentire oportere. Quisquis igitur alicunde dubitat de his omnibus dubitare non debet quae si non essent, de ulla re dubitare non posset.

Und – welcher kluge Kopf hat dies von Descartes abgeschrieben? Überlege selbst!

Und?

Nun, das Werk, aus dem diese Sätze stammen,  heißt De trinitate. Geschrieben hat es Aurelius Augustinus in den Jahren 399-419.  Wir zitierten aus dem Buch X, cap. 14. Daran ist kaum ein Zweifel möglich.

https://la.wikisource.org/wiki/De_trinitate_(Aurelius_Augustinus)/Liber_X#14

 

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