Apr 082017
 
Zerrissenes Holz reckt sich empor in einen blauen, tiefen, antwortlosen Himmel, schrundige Auskehlungen zerfurchen den Baum auf dem Dorfanger von Lübars, gesehen am vergangenen Samstag bei einer Radtour durch das Tegeler Fließ. Soviel Schmerz, soviel Leiden!
Geduldiges Einhören, gemeinschaftliches Einsingen im Kirchenchor, Nachlesen in den alten Darstellungen und Anweisungen der geistlichen Musik früherer Jahrhunderte! Der gregorianische Passionston in der Johannespassion des Thomas Mancinus, die wir derzeit einstudieren, verlangt einen freien Vortrag, eine Verlebendigung im Gesang. Die rhombische Notenform – punctum inclinatum – dient nur als Stütze des in Freiheit erklingenden Wortes; Mancinus hebt sehr bewusst durch Klauseln und Floskeln die sinntragenden Worte hervor; die kraftvolle, sehr gesangliche Übersetzung Martin Luthers – sie bleibt ein poetisches Meisterwerk deutscher Sprache – übernimmt er dabei Silbe für Silbe, Elision für Elision unverändert.
Clamore et cum asperitate, so sollen die leidenschaftlichen Aufwallungen der Turba-Chöre gehalten sein. Mit Geschrei, schroff, unverbunden! Das sind die Anweisungen, die sich aus den damaligen Traktaten erschließen lassen.
Mancinus war übrigens Leiter der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel; sein unmittelbarer Nachfolger in diesem Amt war Michael Prätorius, dessen Syntagma Musicum 1619 erschien, also ein Jahr vor dem Erstdruck der Passionsmusik des Thomas Mancinus.  Welch glückliche Koinzidenz! Wir können aus den Traktaten, Abhandlungen und Lehrbüchern der Jahrhundertwende durchaus ein Stilideal abnehmen, wir können mit Sicherheit sagen, dass die menschliche Stimme, nicht das dingliche Instrument damals noch das Vorbild jeder Musikausübung war; es unterliegt keinem Zweifel, dass die Musik, zumal die geistliche Musik damals als affektgeladene Klangrede, als Verkündigung aufgefasst wurde, nicht als Sinnesbetörung, nicht als autonomes, in Schönheit strahlendes Klangspiel.
Der Gottesdienst in der Sterbestunde Jesu beginnt in St. Norbert am Karfreitag, 14. April 2017, um 15 Uhr. Dort werden wir die Johannespassion des Mancinus zu Gehör bringen. Alle, die hören wollen, sind eingeladen. Die Tür ist offen.
Kirche St. Norbert, Dominicusstr. 17, 10823 Berlin-Schöneberg 
Bibliographischer Hinweis:
Die Johannespassion des Thomas Mancinus ist Teil des Werkes Musica Divina Signatur S 368.4° Helmst., das bereits in digitalisierter Form vorliegt. Man findet im Internetauftritt der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel den diplomatisch genauen Scan  ab Seite 277 unter folgendem Link: 
http://diglib.hab.de/wdb.php?pointer=176&dir=drucke%2Fs-368-4f-helmst
Eine moderne Aufbereitung, in welcher der ursprüngliche Wortlaut des Komponisten Mancinus durch den Text der früheren, im Jahr 1987 verwendeten Einheitsübersetzung ausgetauscht worden,  ist im Carus Verlag erschienen. Das Vorwort des Herausgebers verdient besondere Beachtung!
Thomas Mancinus: Johannespassion für Einzelstimmen und gemischten Chor SATB. Herausgegeben von Willli Schulze. Partitur. Carus Verlag 40.088, Stuttgart 1987
Einen guten, reich mit Quellen (darunter Prätorius) ausgestatteten Einstieg in die Musizierpraxis des 15. bis 17. Jahrhunderts bot mir folgendes Werk:
Ulrike Engelke: Musik und Sprache. Interpretation der Frühen Musik nach überlieferten Regeln. Agenda Verlag, Münster 2012
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