Jun 072017
 

ZWEIFEL, dieses Leitwort des europäischen Künstlers Lars Ø. Ramberg soll nach dem Willen der drei europäischen Gründungsintendanten des neuen Humboldt-Forums Bredekamp, MacGregor und Parzinger auf die Ostseite des Daches des Humboldt-Forums übertragen werden. Ein witziger Vorschlag, der erheblichen Charme aufweist; das ganze Unterfangen des restaurierten Schlosses würde gewissermaßen mit einem ironischen Knick versehen, so als sollten wir alle das nicht glauben, was da vor unseren Augen aus Ruinen wieder auferstanden ist. Eine Denkerfurche, tief eingegraben in die Stirn des Schlosses! Daran, dass wir am Stadtschloss zweifeln, ist somit kein Zweifel mehr möglich. Die eingegrabene Denkerfurche Rambergs beweist dies unwiderleglich.

Aber siehe, selbst diese Furche ist nur ein Schein, ein Lichtschein nämlich. Ihr entspricht kein echtes Sein im Stein!

Und damit sind wir mittendrin in dem nicht endenden und nicht beendbaren Gespräch, dieser Auseinander-Setzung, diesem Befragen, Bezweifeln und Überprüfen, das seit Sokrates ein unterscheidendes Merkmal der europäischen Geisteshaltung ist. In außereuropäischen Kulturen kommt dieser ständige Zweifel als Grundmerkmal – soweit ich es beurteilen kann – nicht vor.

Lerne zu zweifeln! Lehre uns zweifeln, o Sokrates! Damit wird in der Tat die Grundhaltung des Zweifelns, die am Anfang des im engeren Sinne europäischen Geistes steht, in monumentalen Leuchtbuchstaben vor Augen geführt. Lerne zu zweifeln, lerne alles und alle sowie nicht zuletzt auch dich selbst in Frage zu stellen. Glaubst du denn wirklich, was du siehst? Ist echte Tapferkeit wirklich das, was du dir darunter vorstellst? Diese und zahllose andere Fragen stellte zuerst und am nachhaltigsten der Steinmetz Sokrates von Athen.

Lerne zu zweifeln! Der Vorschlag der drei Intendanten verdient, so meine ich, ausführliche Bezweiflung.

Lesehinweis:
Im Zweifel für das Kreuz. Von Horst Bredekamp, Neil MacGregor und Hermann Parzinger. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 2017, Seite 11

 Posted by at 09:31

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