Aug 282017
 

Ansprache am Rheinhessischen Weinbrunnen auf dem Rüdesheimer Platz. An Goethes Geburtstag

Goethes Geburtstag ist heute! Wir ehren heute das Andenken dieses größten Wandrers, dieses besten Begleiters und Reisegefährten, den die deutsche Literatur je erlebt hat, und wir brechen damit ein Bröckchen von dieser Ehre für uns selbst ab.

Goethe unplugged, so möchte ich meine erlesenen Abenteuer mit dem unbekannten, dem weniger gerühmten Goethe einführen; und dabei denke ich insbesondere an die Aufzeichnungen des Kanzlers Friedrich von Müller, der häufig vertrauliche Unterredungen mit Goethe pflegte und gleich anschließend ungefiltert Protokolle darüber führte, ohne sie doch, wie dies etwa Eckermann getan, noch erneut zur Gegenprobe vorzulegen. Goethe erscheint hier bereits mitten in dem großen, furchtbaren  Zerwürfnis mit der deutschen Gesellschaft, das sich bis heute fortgesetzt hat. Er benennt die Missachtung, ja den Haß, den ihm viele Frauen und Männer in Deutschland aus Unkenntnis, Bequemlichkeit oder Missgunst entgegenbringen.

Eine weitere, weniger bekannte Seite Goethes ist seine Ablehnung des nationalen Überschwangs, des romantischen Taumels, die im Zuge der antinapoleonischen Kriege die deutsche akademische Jugend erfasst hatte. Auch den entstehenden Sozialismus der Saint-Simonisten lehnte er ab.  Und schließlich widerstrebte ihm jeder gewaltsame utopische Zugriff auf die bestehenden Verhältnisse, jedes selbstgewisse Schwärmertum, das etwa unsere 68er Bewegung  prägte, die eine offenbar unersättliche Gier nach Diktaturen und Gewaltherrschern mitschlepppte.  In seinen Venezianischen Eprigrammen geißelt er die Selbstgerechtigkeit der selbsternannten Revolutionäre:

Jeglichen Schwärmer schlagt mir an’s Kreuz im dreißigsten Jahre;
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.

Die Gespräche mit Eckermann wiederum – eins der besten Bücher, die Goethe uns vermacht hat – beweisen, dass Goethe die politische Landschaft der europäischen Staaten mit wachem, nie nachlassendem Interesse verfolgte. Es unterliegt keinem Zweifel und muss wohl nicht eigens erwähnt werden, dass Goethe die Verbindung aus Nationalismus, Sozialismus und Rassismus, die im deutschen Nationalsozialismus und im sowjetischen Bolschewismus so furchtbar gewütet hat, aufs schärfste abgelehnt hätte. Die Deutschen sind Goethes Grundeinsichten in all jenen Jahren mehrheitlich nicht gefolgt. Zu ihrem, zu unserem  Schaden und zum Schaden der ganzen Welt!

Und gerade bei der vielbeschworenen Integration, bei der in Europa so qualvoll unfruchtbaren Migrationsdiskussion hätte Goethe, der Wanderer zwischen allen Welten, zwischen Antike und Moderne, zwischen Ost und West, zwischen Islam und Christentum, ein kräftiges Wörtlein mitzureden, wenn man ihn denn nur ließe. Wenn man ihm denn in Deutschland nur ein Ohr liehe! Wenn man doch wenigstens die Kinder und die Jugendlichen Schritt für Schritt heranführte an diesen reichen Schatz an Bildern, Geschichten und Versen, die Goethe uns und allen Menschen auf diesem Globus ausbreitet.  Man brauchte sich um mangelnde kulturelle Integration keine Sorgen zu machen!

Ich komme zum Lobgesang auf die prachtvollste, strahlendste, überwältigendste Sprachmusik, die je ein sterblich Ohr in deutscher Sprache vernommen hat: die metrisch gebundene Sprache Goethes, seine Gedichte, seine Epen, seine in rhythmischer Bindung verfassten Dramen.

Ich darf nur eines sagen: Der Tag, an dem ich erstmals die Gedichte Goethes in einer schönen Gesamtausgabe des Birkhäuser-Verlags in die Hand nahm und sie dann Seite um Seite wendete, da mein Durst, immer mehr von diesem Mann zu lesen, immer unstillbarer wurde, dieser Tag hat mich verwandelt; und seither suche ich wieder und wieder diese Quelle auf. Ich dürste nach Goethes Versen, wenn der getrocknete Staub des Kulturgeredes sich über die Feuilletons ausbreitet, ich verlange nach Goethe, wenn unsere heutigen deutschen Schriftsteller, denen es an nichts Materiellem gebricht, endlose Klagen über sich selbst und über den beklagenswerten Zustand der Welt und ihres eigenen Ichs führen; wenn sie im Dauerlazarett ihrer Neurosen nach dem Psychiater schreien und doch jede Möglichkeit der Heilung ausschlagen; ich sehne mich nach Goethe, wenn jeder Sinn für Schönheit, jedes Gefühl für Klang, Rhythmus, Metrum in der erbarmungslosen Darre des Aktualitätengewitters ausgedroschen wird und erstirbt.

Ich spreche Verse Goethes laut aus, wenn ich den Gipfelschnee auf den Dreitausendern der Dolomiten in der Ferne erahne, ja ich habe mich erst vor wenigen Tagen wieder einmal mit leicht abgewandelten Goetheschen Versen in ein Südtiroler Gipfelbuch eingetragen:

Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß,
Betret‘ ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum,
Entlassend meiner Wolke Tragewerk, die mich sanft
An klaren Tagen über Land und Meer geführt.
Sie löst sich langsam, nicht zerstiebend, von mir ab.
Nach Osten strebt die Masse mit geballtem Zug,
Ihr strebt das Auge staunend in Bewundrung nach.
Sie teilt sich wandelnd, wogenhaft, veränderlich.

Wandelnd! Wogenhaft! Veränderlich! Ja, so mag er uns weitergeleiten. Goethe, er wird auch die gegenwärtige Geringschätzung, Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit, die ihm an deutschen Schulen und Hochschulen, in den Medien und Kultureinrichtungen Deutschlands widerfährt, gekräftigt überdauern und schöner als vorher zu uns zurückkehren.

Er ist der beste, der größte Schriftsteller, den wir im deutschen Sprachraum haben, er ist der unerreichte Meister der deutschen Sprache, jeder nach ihm kommende Schriftsteller bezieht sich, ob er will oder nicht, bewusst oder unbewusst auf ihn.

Ich schließe mit einem Seitenblick auf Shakespeare, der für den jungen Goethe ein nachtvolles Erweckungserlebnis bedeutete. In seiner Rede „Zum Shäkespeare Tag“ tritt er 1771 ins Zwiegespräch mit dem großen Engländer ein – er spricht ihn an und spricht zugleich auch über sich selbst:

Das was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Shaekspearen [also von Goethen], das was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen, und Lapland einfrieren muss, dass es einen gemäsigten Himmelsstrich gebe. Er führt uns durch die ganze Welt, aber wir verzärtelte unerfahrne Menschen schreien bey ieder fremden Heuschrecke die uns begegnet: Herr, er will uns fressen.

Auf, Zecherinnen und Zecher! Goethe wird uns nicht fressen! Goethe, du Pate, Unterstützer, Ermuntrer! Wie es auch sei, das Leben, es ist gut! Wir rufen dir zu mit Versen aus deinem Lied an Schwager Kronos, das Franz Schubert so großartig-brüderlich vertont hat:

Weit hoch herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll

Labe dich und uns auch mit diesem schäumenden Trunk
Und dem freundlichen Gesundheits Blick.

 

Erheben wir das Glas auf die berauschende Schönheit der Goetheschen Sprache, auf die leuchtende Vernünftigkeit seiner Prosa, auf den Gesundheitsblick Goethes und auf seine Wiederkehr! Bleibe bei uns!

Und jetzt Musik! Es singt für uns Goethes Lied „An Schwager Kronos“ der Sänger Heinrich Schlusnus.

Verzeichnis trinkbarer sowie gedruckter Quellen:

Rheingauer Weinbrunnen am Rüdesheimer Platz, Wilmersdorf. Täglich 15.00-21.30 Uhr. Nur noch bis 04. September!

Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In der Postchaise d 10 Oktbr 1774. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 201-203

Weingut Ferdinand Abel, Oestrich

Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller. Herausgegeben von C. A. H. Burkhardt. Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart 1870

Weingut Adam Basting, Winkel

An Schwager Kronos. Goethe. Nicht zu schnell. Orig. D moll. In: Schubert-Album. Sammlung der Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung von Franz Schubert kritisch revidirt von Max Friedländer. Ausgabe für tiefe Stimme. Band II, Edition Peters 7610, Verlag C.F. Peters, Leipzig o.J., S. 44-46

Weingut Wilhelm Nikolai, Erbach

Johann Wolfgang Goethe: Epigramme. Venedig 1790. In: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Hgg. von Karl Eibl, Deutscher Klassiker Verlag. Sonderausgabe zu Johann Wolfgang Goethes 250. Geburtstag. Frankfurt am Main 1998, S. 208-236, hier S. 220 [Nr. 52]

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