Dez 132017
 

Seit einigen Jahren habe ich mir angewöhnt, neben den geläufigen Übersetzungen der neutestamentlichen Schriften, etwa ins Lateinische oder Französische, stets auch die griechisch verfasste Urschrift zu bedenken. So auch bei dem Heilig-Blut-Altar des Tilman Riemenschneider, die der deutsche Schnitzer ab 1499 für die mittelfränkische Stadt Rothenburg fertigte. Das Retabel findet sich heute noch in der Stadtkirche St. Jakob. Ich sah es und bestaunte es in glühender Dankbarkeit im August dieses Jahres, zweifellos ein einsamer Höhepunkt meines Kunstjahres 2017!

Ich blickte forschend in die Gesichter Jesu und Judas hinein; da stellte sich wie von selbst jener griechische Satz ein, der sich mir unauslöschlich eingeprägt hat:

ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον. Was du tust, das sollst du schneller tun. So Jesus zu Judas bei Johannes 13,27. Ich hege keinen Zweifel: Um genau diesen Satz war es Tilman Riemenschneider zu tun!

Warum aber hat man hier vor allem an das vierte Evangelium zu denken? Nun, nur beim Evangelisten Johannes werden Jesus und Judas als gleichberechtigte Partner dargestellt, mehr noch: Jesus fordert Judas aktiv auf, den notwendigen Schritt zu tun, und zwar nicht zögernd, sondern rasch und entschlossen. Jesus führt also den Judas in die Versuchung hinein; im Gegensatz zu den anderen drei Evangelien taucht Jesus bei Johannes bewusst gleichzeitig mit Judas den Bissen ein. Er wählt Judas aus! Jesu Blick ist nicht böse, sondern verständnisvoll, wenn auch von herber Entschlossenheit geprägt. Nur zwischen Judas und Jesus herrscht in dieser Abendmahlsgruppe ein tiefes Einverständnis. Der Lieblingsjünger Johannes schläft hingegen; er scheint nicht alles mitzubekommen. Riemenschneiders Petrus denkt offenkundig als großartiger Theatermensch, der er war, schon an seine zukünftige Größe.

Nur Judas und Jesus stehen im Johannesevangelium zentral und mittig durch Worte und den gemeinsam eingetauchten Bissen verbunden im Bild! Nur Judas und Jesus sind bei Riemenschneider im Bilde!

Eine ungeheuerliche Leistung, die Tilman Riemenschneider hier vollbracht hat! Er wirft sich dem jahrhundertelangen Hauptstrom der Judas-Verdammung, der leichtfertigen Aburteilung über den „Verräter“ in den Weg! Amos Oz, der Israeli, Verfasser eines wichtigen Judas-Romans, hätte seine tiefe Freude an dieser Darstellung, dessen bin ich gewiss!

Zu den Schülern, die sich als Deutschlerner am damals noch bestehenden Goethe-Institut Rothenburg aufhielten, gehörte übrigens der aus Argentinien stammende Theologe Jorge Bergoglio; 1986 lernte er am Goethe-Institut Rothenburg Deutsch; wahrscheinlich dachte und betete er auch hier das eine andere Mal über den Sinn der Formel nach: Führe uns nicht in Versuchung.

Genau diese Bitte aus dem Vaterunser ist es, die Jesus hier bei Riemenschneider NICHT zu erfüllen bereit ist. Er führt vielmehr den Judas in die Versuchung hinein. Er schickt ihn in die Erprobung! Der Evangelist Johannes schildert es mit folgenden Worten:

26ἀποκρίνεται [ὁ] Ἰησοῦς· ἐκεῖνός ἐστιν ᾧ ἐγὼ βάψω τὸ ψωμίον καὶ δώσω αὐτῷ. βάψας οὖν τὸ ψωμίον [λαμβάνει καὶ] δίδωσιν Ἰούδᾳ Σίμωνος Ἰσκαριώτου. 27καὶ μετὰ τὸ ψωμίον τότε εἰσῆλθεν εἰς ἐκεῖνον ὁ σατανᾶς. λέγει οὖν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον.

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