Dez 182018
 

Mich erreichte vor einigen Wochen die folgende Einladung zu einem Bibeltag in der Katholischen Akademie in Berlin – eine Einladung, der ich selbstverständlich aus vielen Gründen mit großer Wissbegierde Folge geleistet habe:

Bibeltag mit Prof. Dr. Michael Theobald am Samstag, dem 15. Dezember 2018, von 10.00-17.00 Uhr:
 
Von Sokrates zu Jesus.
Erzählungen vom Tod großer Männer in der Antike
 
Platons Darstellung vom Tod des Sokrates im Phaidon hat in der Antike gewaltigen Eindruck gemacht. Noch der vom Kaiser erzwungene Suizid des Seneca im 1. Jh. n.Chr. fand im Bericht des Tacitus eine Platon nachempfundene Stilisierung. Aus der alten Tradition der Erzählungen vom Tod großer Männer, zu denen auch die jüdischen Märtyrererzählungen aus den Makkabäerbüchern gehören, schöpften nicht zuletzt die neutestamentlichen Erzählungen vom Tod Jesu. Deren Besonderheit liegt darin, dass sie dank vieler Zitate und Anspielungen vor allem auf den Psalter in biblische Sprache gekleidet sind. Der Grund hierfür ist ihr ursprünglich liturgischer „Sitz im Leben“: Die Erzählungen dienten in den frühchristlichen Pesachfeiern der rituellen Erinnerung an Jesus.

Der Bibeltag möchte anhand der neutestamentlichen Erzählungen vom Tod Jesu auf dem Hintergrund ausgewählter paganer und jüdischer Texte einen Eindruck vom Ringen der ersten Christen um ihren Glauben an den Gekreuzigten vermitteln. Im Römischen Imperium sich zu einem wegen politischen Aufruhrs schändlich Hingerichteten zu bekennen, war ein Wagnis und zugleich eine Provokation herkömmlicher Gottesbilder. Angesichts heutiger Verharmlosung des Kreuzes lässt die Beschäftigung mit diesen Texten – gerade kontrapunktisch zur Weihnachtsseligkeit – ein wenig von der ursprünglichen Kraft des christlichen Glaubenserahnen.

Prof. Dr. em. Michael Theobald war Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen und ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V. Die Moderation des Bibeltages hat Pfarrer Dieter Wellmann.

Bild: Caspar David Friedrich: Ostermorgen. Öl auf Leinwand, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid

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Sep 042018
 

Ungläubiges Erstaunen ergriff mich jeden Tag von neuem, wenn ich den Blick auf den 5033 m hohen Berg Kasbek schweifen ließ. „Ich kann das nicht glauben, dass dieser herrlich schimmernde Berg, den ganzjährig eine schneebedeckte Spitze krönt, nun Tag um Tag zum Greifen nahe liegt! Hier im Kaukasus glaubte die Alte Welt das Bußgebirge des Prometheus zu erkennen. An diesen steil abschüssigen Hängen schmiedeten Kratos und Bia zusammen mit Hephaistos den gefallenen Titanen an!“

Und dann des Morgens, wenn ich hinaustrat aus dem Alpenhaus in den jugendlich erfrischten dämmrigen Morgen, dann stellten sich beim Blick auf die vor mir liegende Hauptkette des Großen Kaukasus wie von leichter Götterhand gerufen die folgenden Verse aus dem Faust ein:

Hinaufgeschaut! – Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde,
Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.

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Sep 022018
 

 

 

 

 

Hier am Kasbek muss es gewesen sein
Hinter Wolkendunst saßest du
Auf Bergeshöhn spottend und höhnend
Des im Donner grollenden Alten
Den sie Vater nannten
Der dich nie ernst genommen
Der dein Aufbauwerk auftrumpfend wegwischte:
„Das ist keine Welt
Das ist bestenfalls eine Märklin-Modelleisenbahn
Lächerlich, stümperhaft, kw!“, so seine Worte
Das haben alle gehört!

Zank, Hader, Widerworte ohne Ende
Bis es endlich zu spät ward
Ihr verloret beide die Geduld
Die Verhandlung gegen Dich war eine einzige Farce
Die Zeugen wider Dich bestochen
Der Richter war befangen in Liebeshändeln
Das Urteil – 30 000 Jahre – deutlich zu hart

Er schickte dir den Adler
Du schicktest ihm deine Reden, deinen Hohn
„Übe Knabengleich
Der Disteln köpft
An Eichen dich und Bergeshöhn!“

Du warfest grimmige Blicke hinauf
Er schwieg, er verbarg sich in Wolken
Er äffte Karl Marx nach,
Dem er zunehmend glich im Profil
Er zertrümmerte ein paar der Hütten
Die du gebaut
Und kippte danach seinen schäumenden Pokal auf Dich
Rülpste, wurde unflätig, ausfällig
Sobald nur Dein Name fiel

Viele von uns Sterblichen fielen vom Glauben ab
Dies damals miterleben zu müssen
War die härteste Versuchung
Wer jetzt noch an den Wolkensammler glaubte
Der wurde zum Eiferer
Der radikalisierte sich
Fing an die bunte Flockenblume auszurupfen
Centauria triumfettii heißt sie heute
Die Alpen-Distel – cardus defloratus –
Früher eine der zierlichsten Maiden
Verlor damals ihre Unschuld
Beweis: Ihr lateinischer Name heute

Nein es war nicht schön damals
Es war ein Gemetzel der Seelen
Eine Verhackstückung der schönen Welt
Die doch unsere gemeinsame Welt war

Doch liegt das Ganze nun 6000 Jahre zurück
6000 Jahre in denen die Erinnerung
Und das Vergessen vieles beschönigen konnten
Selbst Schüler in der Sekundarstufe II
Werden heut mit diesem schlimmsten Unglück konfrontiert
Das bis dahin  geschehen war
Schlimmeres sollte folgen
Das wissen wir

Von allem dem
Was damals geschah
Schwebt nur noch ein Erinnern um uns
Die Szenerie hat sich gelichtet
Man könnte dieses Bild
Des Kasbek oberhalb von Stepanzminda
Aufgenommen am späten Nachmittag des 20.08.2018
Auf Bergeshöhn sogar schön nennen
Wenn man nicht wüsste
Dass Dir noch 24000 Jahre Buße verbleiben
VIERUNDZWANZIGTAUSEND
Und keines weniger
Für dich!

 

 

 

 

 

 

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Jul 112018
 

 

 

 

 

 

Ganz offenkundig ließ sich Franz Schubert wieder und wieder von den Texten der Dichter zu seinen Kompositionen entzünden. Freunde haben beschrieben, wie sie, hier also Josef von Spaun und Johann Mayrhofer, Schubert einmal in diesem Zustand der durch Dichtung erzeugten ekstatischen Entrückung erlebten: „… wir fanden Schubert ganz glühend, den Erlkönig aus dem Buche laut lesend. Er ging mehrmals mit dem Buche auf und ab, plötzlich setzte er sich, und in der kürzesten Zeit, so schnell man nur schreiben kann, stand die herrliche Ballade nun auf dem Papier.“

HAGARS KLAGE, so lautet das früheste Lied Franz Schuberts, das uns heute noch erhalten ist. Geschrieben hat er es im Convicte im Alter von 14 Jahren. Unbeschreiblich muss den jungen Convicts-Schüler  der Schmerz erschüttert haben, den Clemens August Schücking in sein endlos wimmerndes, geradezu aufschreiendes Gedicht HAGARS KLAGE einbrannte:

Hier am Hügel heißen Sandes
Sitz‘ ich, und mir gegenüber
Liegt mein sterbend Kind,
Lechzt nach einem Tropfen Wasser
Lechzt und ringt schon mit dem Tode,
Weint und blickt mit stieren Augen
Mich bedrängte Mutter an.
Du mußt sterben, du mußt sterben
Armes Würmchen!

[…]

Schubert hat das Gedicht zu einer dramatisch erregten, durchkomponierten Phantasie mit vielen Gefühlswechseln ausgestaltet. Sie eröffnet den Band V der großartigen Neuausgabe der etwa 600 erhaltenen, hier vollständig zusammengetragenen Schubert-Lieder.

Am 20. Oktober 2018 um 19 Uhr wird Mojca Erdmann dieses Lied im Pierre Boulez Saal singen, begleitet vom Pianisten Malcolm Martineau.  Die Karten sind bestellt, wir sind schon sehr gespannt!

Zitate:
SCHUBERT. Lieder. Band 5. Herausgegeben von Walther Dürr. Urtext der Neuen Schubert-Ausgabe. Bärenreiter Verlag, Kassel 2011, Seite VII [zur Entstehung von Hagars Klage], Seite XXIII-XXIV [Text des Gedichts Hagars Klage von Schücking ], Seite 1-17 [Schuberts Lied Hagars Klage von Schücking]

SCHUBERT. Lieder. Band 1. Herausgegeben von Walther Dürr. Urtext der Neuen Schubert-Ausgabe. Bärenreiter Verlag, Kassel 2005, Seite VII [zur Entstehung von Schuberts Erlkönig von Goethe]

Konzert-Hinweis laut dem Buch:
Pierre Boulez Saal. Die Spielzeit 2018/19. Berlin 2018, S. 30-31

Bild:

Gemälde „Hagar und der Engel“ von Carel Fabritius. Sonderausstellung „Das Zeitalter Vermeers und Rembrandts. Meisterwerke aus der Leiden Collection“. Moskau, Puschkin-Museum, 8. Mai 2018

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Apr 072018
 


Io ritornai da la santissima onda rifatto sì come piante novelle rinnovellate di novella fronda com’è puro e disposto a salire alle stelle.

88 weltweit anerkannte Sternbilder gibt es. Ihre Namen gehen zum Teil auf antike Sternsagen zurück. Ursa major, Haar der Berenike, Perseus, Pegasus, Phoenix … der munter erzählende Astronom in der Wilhelm-Foerster-Sternwarte bot uns gestern nacht einen sehr aufschlussreichen Sternenspaziergang. Wir fanden auch den Polarstern, indem wir fünf Mal die Hinterachse des Großen Wagens abtrugen, der Teil des Großen Bären, Ursa maior, ist.
In jeder Betrübnis, die Geist und Sinn gefangen hält, kann der Mensch sich wieder durch Betrachtung des gestirnten Himmels aufrichten. Die oben angeführten Verse vom Ende des Purgatorio beweisen dies. Dante fühlt sich nach längeren Gesprächen über die Unzuverlässigkeit seiner Erinnerung erschöpft. Der Anblick des Sternenhimmels macht ihn neu. Er gewinnt Zutrauen, er gewinnt seine Erinnerung zurück. Er fühlt sich wie ein begrünter Zweig, der mit frischem Laub wiederbelebt wird.
Die unendliche Größe der Welt, die uns gestern vor Augen geführt wurde, wird aufgewogen durch die strahlende, überschießende Freude beim Anblick des ersten zarten Grüns und dieser frischen Weidenkätzchen im Schöneberger Südgelände.

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Dez 152017
 

Geburtstagsfeier heute im Gesamteuropäischen Kindergarten! EinE BetreuerIn fragt die Kinder:
– Wer hat denn heute, am 15. Dezember Geburtstag, liebe Kinder Europas?
– Der Lucius!
– O, unser berühmter Lucius! Was für ein schöner, modischer Name! Und wie heißt seine Mama?
– Agrippina! So ein schöner Name! Und wer ist sein Vater?
– Der Gnaeus!
– Ja, der Gnaeus Domitius! Fein! In welcher Sprache singen wir das Geburtstagslied?
– Auf Italienisch, der Muttersprache des europäischen Gesangs!
– Jaaa! Wisst Ihr, was mir der Nikolaus gebracht hat? Ein italienisches Liederbüchlein. Kinder, es ist super, es ist so cool! Ich singe es euch vor!
– Juhuu, jaa!

Die Kinder des Europa-Kindergartens und ihre BetreuerInnen singen auf Italienisch das Lied „Tanti auguri a te“, wobei sie den Namen des Geburtstagskindes Lucius einfügen. Die Melodie des Liedes stammt von Mildred Hill, der Text von Patty Smith Hill. Beide Schwestern waren Kindergärtnerinnen im Kindergarten von Louisville, Kentucky (USA).

Sie verwenden folgendes vortreffliche Büchlein:

Canzoni d’Italia. 52 canzoni popolari d’Italia e del Ticino. Herausgegeben von Elisabeth Profos-Sulzer. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19909, Stuttgart 2017, S. 140

Rätsel des Tages:
Wer ist dieser Lucius? Tipp: Er war einer der ersten Europäer, die sich von einem Mann zur Braut nehmen und heiraten ließen. Seine Mutter Agrippina ließ er ermorden. Sein voller Name lautete bei der Geburt: Lucius Domitius Ahenobarbus. Unter welchem Namen kennt ihn Europa heute?

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Jun 262017
 

„Is this what my consulship is going to consist of, Tiro? A year spent running back and forth between the patricians and the populists, trying to stop them tearing one another to pieces?“

„Soll denn etwa mein Konsulat in so etwas bestehen, Tiro? Soll ich ein Jahr damit verbringen, zwischen dem Establishment und den Populisten hin und her zu laufen? Soll ich versuchen sie daran zu hindern, einander in Stücke zu reißen?“

Die ungeheure Überlegenheit Ciceros über seine Zeitgenossen hat zweifellos kaum einer so gut erkannt wie sein Schreiber Marcus Tullius Tiro, dem wir einen großen Teil der Überlieferung der Ciceronianischen Schriften verdanken. Ja, ich gehe weiter: ein Mann, dem Cicero so viel anvertraut hat, konnte gar nicht verhindern, dass seine eigene Persönlichkeit in die Diktate Ciceros mit einfloss! Kongenialität! Tiro war, so dürfen wir vermuten, eine Art schattenhaftes Gewissen Ciceros.

Und kongenial nähert sich der britische Schriftsteller Robert Harris diesem Schriftsteller-Duo an. Harris ist derjenige, den du unter den derzeitigen Historien-Schriftstellern am meisten bewunderst. Du bewunderst Harris wegen seines umfassenden, bildlichen Verstehens hochkomplexer Lagen so sehr, dass du ihn schon beneidest, ja – dass du dir in Zeiten moralischer Schwäche fast vorstellen könntest, ihn zu hassen.

Ich frage: „Neid, der aus Bewunderung erwächst? Haß, der aus Neid erwächst?“

So ist es wohl… Es denkt in dir: „Warum er und nicht ich? Warum versteht er Cicero und Tiro besser als ich ihn bis dahin verstanden habe?“ Woher kommt ihm diese Einfühlungsgabe, sich in die Psyche eines Politikers (in Lustrum), eines Finanzjongleurs (in Fear Index), eines Massenmörders (in Fatherland) hineinzuversetzen?

Ja, so entsteht Neid, so kann auch Hass entstehen. „Warum er und nicht ich?“ Das ist die Wurzel des Neides.

Doch ist dies nur eine dunkle, kaum eingestandene Regung.

Du betrachtetest gestern lange die stille Horizontlinie des Wannsees. Der Sand lag zu unseren Füßen, wir waren eine Stunde lang die einzigen Badegäste an diesem Ort, der bei großer Hitze bis zu 5000 Menschen zugleich aufnimmt.

Es war einsam um uns dort. Himmel und See blieben bleiern, zeitweilig ging neblichter Regen nieder, der von drüben, dort wo die weiße Villa am Wannsee ruhte, allerlei trübe und schwer lastende Gedanken herüberwehte.

Der langsame Aufstieg auf den in roten Ziegeln gemauerten Turm im Grunewald brachte die Befreiung von der Ahnung des Neides. Die Bewunderung trat wieder hervor. Und zuletzt setzte ein heftiger, fröhlicher Regen ein. Ich danke dir für alles, was du geschrieben hast, Robert.

Zitatnachweis:
Robert Harris: LUSTRUM. Hutchinson, London 2009, hier Seite 20

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Jun 052017
 

Keine schändlichere Todesart kannte das Römische Reich als die Kreuzigung. Nomen ipsum crucis absit non modo a corpore civium Romanorum, sed etiam a cogitatione, oculis, auribus, schreibt Cicero in seiner noch heute sehr lesenswerten Gerichtsrede Pro C. Rabirio. Die Kreuzigung galt – so geht aus dieser Rede hervor –  im römischen Strafrecht als besonders schmachvoll und entehrend. Keinem römischen Bürger – fordert Cicero – solle sie auch nur ansatzweise zugedacht werden, sie beraube ihn jeder Freiheit.

Für Sklaven, Aufrührer, Kapitalverbrecher und unterlegene Feinde galt zur Zeit Jesu die Kreuzigung als die Strafe der Wahl. Das Kreuz war zu Zeiten Ciceros und Caesars das Denkmal der Schande.

Als Denkmäler ihrer eigenen Schande (monuments to their own shame) bezeichnete zu recht Neil MacGregor, einer der drei Gründungsintendanten des Berliner Humboldt-Forums, die zahlreichen Mahnmale, mit denen die Deutschen der im deutschen Namen ermordeten Menschen gedenken; das bedeutendste unter ihnen ist zweifellos das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das sich nur einen Büchsenschuss vom neuen Humboldt-Forum entfernt befindet.

Was Neil MacGregor völlig zutreffend als Denkmäler der Schande bezeichnet hat, die kennzeichnend für den Umgang Deutschlands mit eigener Schuld seien, das ergänzt nun ein anderer Gründungsintendant des Humboldt-Forums, Horst Bredekamp, um ebenso zutreffende Betrachtungen zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Kreuzes. Auch das Kreuz ist ja ein Mahnmal der Schuld, ein Denkmal der Schmach, ein Symbol der Scham. Das Kreuz ist das überragende Denkmal der Schande des Menschen. Im Kreuz Jesu Christi erblickt der Mensch seine tiefste Erniedrigung. Das Kreuz ist für die Menschen ein Mahnmal ihrer eigenen Scham – a monument to their own shame.

„Kreuzige ihn“, dieser Ruf, in den wir alle einstimmen, wenn wir etwa die Matthäuspassion J. S. Bachs oder die Johannespassion von Thomas Mancinus singen, dieser Ruf führte mir erst vor wenigen Wochen im Karfreitagsgottesdienst wieder einmal in der Schöneberger Kirche St. Norbert vor Ohren, was damit gemeint ist: Wir alle haben diese Möglichkeit des Rufes nach Kreuzigung in uns. Wir alle haben das Zeug in uns, einen Menschen zu kreuzigen. Deshalb ist es richtig und sollte auch von allen Dirigenten so empfohlen werden, dass der Chor dieses „Kreuzige ihn“ mit Macht, mit teuflischer Lust an der Grausamkeit zu singen hat.  Gerade das Knirschen der beiden Konsonanten K und R ist aufs schärfste herauszuarbeiten! Es muss gleichsam in der Seele des Sängers knirschen und krachen. Es muss weh tun. Nietzsches Gott ist tot: ich, ihr, wir haben ihn getötet, Bachs Ich bin’s, ich sollte büßen, an Händen und an Füßen, diese nur scheinbar wahnsinnigen Schuldbekenntnisse drücken nichts anderes aus als den rituellen, symbolischen Nachvollzug der Gottestötung.

Der christliche Glaube ermöglicht im Zeichen des Kreuzes jedem Menschen, die schlimmsten aller Verbrechen, deren Anlagen in uns schlummern, ritualisiert nachzuvollziehen oder vielmehr vorwegzunehmen und sich dadurch vom Bann des Verbrechens zu befreien. „In der Tat, dies waren grausame Verbrechen. Und das schlimmste ist: Ich hätte sie ebenfalls tun können! Ich bin mir nicht sicher, auf welcher Seite ich gestanden hätte.“

Einen Augenblick lang – so meine ich – muss sich jeder Chorsänger in den Turba-Chor hineinversetzen. Er muss nachfühlen können, weshalb die Menge den Tod Jesu verlangt hat. Stärker noch: Er muss selbst den Tod Jesu am Kreuz verlangen. Und diese Einsicht führt zu einem dauernden, verstörenden Selbstzweifel.

Dieses Gefühl des äußersten Selbstzweifels, des in einem aufgerichteten Kreuzes, ist ein Grundzug der europäischen Leitkultur nach Golgatha. Diese eigene Schuldhaftigkeit zu erkennen, sich durch sie hindurchzuarbeiten, entfaltet eine verwandelnde Wirkung. Denn diese Erfahrung ist kein letztes. Es geht ja weiter!

Man mag diesen Selbstzweifel verwerfen, man mag diese radikale Selbstbefragung durch Entfernung aller Kreuze baulich ausmerzen. Man mag sagen: „Hurra, wir haben ja den Euro, wir kämpfen unermüdlich für die Geschlechtergerechtigkeit, wir haben den Klimavertrag, wir retten unaufhaltsam die Mutter Erde durch den Vertrag von Paris. Wir sind die Guten! Hurra, danke, dass wir nicht so sind wie diese da, all die pöbelhaften Plebejer!“

Dann hat man aber auch mit dem Kreuz einen Kern der europäischen Kultur baulich und symbolisch ausgemerzt. Man bewirkt das, was ich nicht umhin komme als Repaganisierung oder besser Entkernung der Leitkultur zu bezeichnen.

Belege:

Neil MacGregor: „Monuments and memories“. in: Neil MacGregor: Germany. Memories of a Nation. Published in Penguin Books 2016 (first published  by Allen Lane in Great Britain 2014), S. IX-XXIII, hier S. XXIII

Horst Bredekamp: „Das Kreuz ist der aufgerichtete Zweifel an sich selbst“. Die Welt, 04.06.2017
https://www.welt.de/kultur/article165221092/Das-Kreuz-ist-der-aufgerichtete-Zweifel-an-sich-selbst.html

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Mai 252017
 

Im sechsten Buch seiner griechisch verfassten Selberlebensbetrachtungen schreibt der römische Kaiser Mark Aurel:

Πόλις καὶ πατρὶς ὡς μὲν Ἀντωνίνῳ μοι ἡ Ῥώμη, ὡς δὲ ἀνθρώπῳ ὁ κόσμος.

Der Triestiner Schriftsteller Claudio Magris übersetzt dies so ins Italienische: „La mia città e la mia patria è Roma, in quanto sono Antonino. In quanto uomo, è l’universo.“

Dies lässt sich wiederum in meiner Muttersprache so verdolmetschen: „Meine Heimatstadt und mein Vaterland ist, insoweit ich Antoninus bin [d.h. Sohn meines Adoptivvaters Antoninus] Rom. Insoweit ich Mensch bin, ist es der Kosmos [d.h. die Welt als wohlgeordnetes, schmückendes Ganzes].“

Ein großartiger Satz, wie ich finde! Marcus Aurelius Antoninus Augustus – so sein voller Name in Selbstbezeichnung – erkennt das notwendigerweise Zufällige der Herkunft an. Der eine ist eben Römer, der andere ist nun mal Grieche, der dritte ist Bataver oder Pannonier, Triestiner, Ulmer oder Königsberger; niemand kann etwas für die Umstände seiner Geburt!

Diese Signatur der Herkunft haftet einem ein Leben lang an. Sinnlos, ja gefährlich wäre es, diese Prägung der Herkunft aus anderen und mit anderen Menschen auslöschen zu wollen. Herkunftsgemeinschaft kann man dies nennen. Man bleibt ein Leben lang Römer, auch wenn man wie der römische Kaiser auf Griechisch schreibt. So hat sich ja auch etwa Albert Einstein, der alle seine bahnbrechenden Werke in deutscher Sprache weit außerhalb seiner Geburtsstadt verfasst hat, ein Leben lang zu seiner württembergischen Geburtsstadt Ulm und zu seiner Herkunft aus dem deutschsprachigen Kulturraum bekannt.

Aber das Zufällige der Herkunft – Rom, Triest, Ulm, Königsberg usw. – wird überwölbt vom Hinauslangen, vom Sich-Emporstrecken zum gestirnten Himmel des Kosmos-Gedankens. „Der gestirnte Himmel über mir“, so nannte dies später der Königsberger Immanuel Kant, erfüllt uns mit immerwährendem Staunen ebenso wie „das Sittengesetz in mir“.

Beleg:
Claudio Magris: Danubio. Verlag Garzanti, Mailand 1986, darin besonders: 30. CARNUNTUM, S. 223-225, Zitat: S. 223

Foto: Die Welt ist wirklich ein wohlgeordnetes schmückendes Ganzes – oder kann dies zumindest sein! Blick vom Hirschberg auf den Tegernsee. Aufnahme vom Verwandtentreffen in Kreuth am 20.05.2017

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Jan 042017
 

1.U početku bijaše Riječ i Riječ bijaše u Boga i Riječ bijaše Bog.
2. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
3. Im Anfang war das Wort  und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.
4. Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος.
5. Am Anfang war das Gespräch und das Gespräch war zu Gott und das Gespräch war Gott.

Fünf Mal dasselbe, nur mit etwas anderen Worten ausgesagt? Die erste Fassung ist kroatisch; sie hörte ich so beim Weihnachtsgottesdienst am 25. Dezember 2016 in einer Berliner katholischen Kirche. Die zweite Fassung ist der lutherischen Jubiläumsausgabe der Bibel aus dem Jahr 2017 entnommen. Die dritte Fassung wird in der neuen katholischen Einheitsübersetzung von 2016 angeboten. Die vierte Fassung ist der heute allgemein zugrundegelegte griechische Ausgangstext (Nestle-Aland, 28. Aufl.). Die fünfte Fassung ist der Vorschlag des hier Schreibenden.

Die kleinen Partikeln, die Präpositionen und die Konjunktionen, der bestimmte Artikel und der unbestimmte Artikel sind es häufig, an denen sich der Gesamtsinn eines Satzes entscheidet, in diesem Fall auch der Gesamtsinn eines Textes, also des vierten Evangeliums. Die griechische Präposition πρὸς mit Akkusativ bedeutet in der natürlichen griechischen Sprache der damaligen Zeit und auch bei Johannes eine Gerichtetheit oder eine Bewegung zu etwas hin, auf etwas zu; sie bedeutet keine gleichbleibende räumliche oder zeitliche Nähe. Dynamik, nicht Statik ist stets angesagt!

So heißt es über Nikodemus (Joh 3,2):

οὗτος ἦλθεν πρὸς αὐτὸν νυκτὸς – „er kam des Nachts zu ihm“, „der kam zu ihm bei Nacht“, „dieser suchte ihn nachts auf“ o.ä.

Joh 8,1:

Ἰησοῦς δὲ ἐπορεύθη εἰς τὸ ὄρος τῶν ἐλαιῶν – „Jesus ging zum Ölberg“ o.ä.

Dementsprechend sagt Jesus in seinem Schlussgebet laut dem Johannesevangelium (Joh 17,13):

νῦν δὲ πρὸς σὲ ἔρχομαι – „nun komme ich zu dir“ o.ä.

Der sprachliche Befund ist eindeutig; er lässt es meines Erachtens nicht zu, die Präposition πρὸς cum accusativo als bei oder kroatisch u zu übersetzen.

Der Logos, die gesprochene, zwanglose Rede, der sprachlich verfasste Sinn-Austausch, der „sermo“, wie Erasmus Logos ins Lateinische übersetzt, das „Gespräch“ suchte gleichsam Gott auf, es suchte Gott, es war in Bewegung auf Gott hin, es war zu Gott gerichtet – ohne doch schon je und je bei ihm zu sein. Es hatte Gott nicht, es war nicht bei Gott, es war vielmehr zu Gott hin.

Johannes scheint den Anfang als eine Art sprachliches Geschehen in der Trennung zu denken. Die Trennungserfahrung, nicht die Einheit scheint im vierten Evangelium am Beginn der Schöpfung zu stehen. Am Anfang stand keine Einheit, sondern eine Mehrheit. Gehen-zu, Suchen, Aufsuchen, das ist der Anfang.

Die Folgerungen aus dieser Auffassung, die sich in den bewussten Gegensatz zum jahrtausendealten Hauptstrom der theologischen, besser: der christologischen Übersetzungstradition des vierten Evangeliums stellt, sind vorerst nicht absehbar, sie sind jedenfalls beträchtlich.

Bild:
Dem Adler gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut,
Schwebe das Gespräch
Übers Gebirge hin.

Blick vom Nordturm der Schnarcherklippen auf die beiden Brockengipfel im Harz; 671 m ü. NN, bei Schierke, aufgesucht und bestiegen am 29.12.2016

 

Quellen:
1) Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe. 1. Auflage. Katholische Bibelanstalt, Stuttgart 2016, S. 1226 (Joh 1,1)
2) Die Bibel. Lutherübersetzung. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel. Revidiert 2017. Jubiläumsausgabe. 500 Jahre Reformation. Mit Sonderseiten zu Martin Luthers Wirken als Reformator und Bibelübersetzer. Deutsche Bibelgesellschaft,  Stuttgart 2016, S. 108 (Joh 1,1)
3) Nestle-Aland. Novum Testamentum graece. 28., revidierte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012, S. 292 (Joh 1,1)

 

 

 Posted by at 19:02
Aug 232016
 

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Bozen, den 10. August 2016

Heute besuchten wir das Südtiroler Archäologiemuseum. Was man von der Geschichte und den Hinterlassenschaften des „Mannes aus dem Eis“ nur hat finden können, ist dort zusammengetragen und in vorbildlicher Weise für uns Heutige aufbereitet.  Wir konnten gar nicht genug verweilen an all den Beifunden, dem Fellmantel, den Beinkleidern, der Gürteltasche, dem Lendenschurz, den Schuhen, der Fellmütze.  Der Emmer, auf italienisch farro genannt – diese frühe Vorform unseres heutigen Weizens – weckte unsere besondere Neugier. Ötzis letzte Mahlzeiten umfassten tatsächlich auch den wilden Emmer, der als Einkorn in unseren Jahren erneute Genießer unter der Öko-Bewegung findet.

Ein letztes, nie zu enträtselndes Schaudern, ein Geheimnis umgibt und wird auf immer umgeben die Person selbst, die wir bei einem kurzen, respektvollen Innehalten vor der ewigen Kühlkammer bei -6° C ins Auge fassen durften.

Die Brüder Kennis & Kennis aus den Niederlanden haben im Auftrag des Museums eine naturalistische Rekonstruktion Ötzis angefertigt. Das Foto oben zeigt diese Nachbildung.

In der Nachbereitung ergeben sich tiefe Einblicke in die Frühzeit des Menschengeschlechts. Die mittlere Kupferzeit, welche auch aufgrund dieses Fundes, 1991 spektakulär zutage getreten in den Höhen des Tisenjoches in den Ötztaler Alpen, um 1000 Jahre nach vorne datiert werden musste, war zwar in Europa noch schriftlos; es gab noch keine staatenförmigen Gebilde, keine „Hochkultur“ wie etwa in den gleichzeitg aufblühenden Reichen Mesopotamiens oder etwas später auch im Alten Ägypten.

Aber der Mann aus dem Eis kündet doch von einer viel höheren Mobilität im Alpen- und Voralpenraum, als man zu vermuten geneigt war.  Die materielle Kultur, die Vielfalt an Geräten und Gegenständen des Bedarfs war weiter vorangeschritten, als man bis 1991 glaubte.

Diese Zeit, also das 4. Jahrtausend v. Chr. ist augenscheinlich in Europa eine „Jochzeit“ am Übergang vom bloßen Jagen und Sammeln zum Sesshaftwerden, zur Viehzucht, zum Anhäufen von Besitz und Reichtum.

Die Bibel setzt übrigens in genau diese Zeit – in die Kupferzeit also – das erste große Gewaltverbrechen der Menschheitsgeschichte, den großen Zivilisationsbruch, nämlich die Ermordung Abels durch Kain. Ein Brudermord, der motiviert wird durch das Gefühl ständigen Benachteiligtseins, unter welchem Kain, der Ackerbauer litt. Denn Gott ließ auf seinem jüngeren Bruder Abel, dem Schafhirten, größeres Wohlgefallen ruhen!

Ist es Zufall, dass der zeitgleich mit der Geschichte von Kain und Abel lebende Mann aus der mittleren Kupferzeit, genannt Ötzi, ebenfalls einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel? Reizte wohl gar seine erstklassige Ausstattung mit Fellen, Beinkleidern, einer herrlichen, damals hochmodernen Kupferaxt, einer vortrefflichen Reiseapotheke, den Neid und die Habsucht bei demjenigen, der ihn tötete?

Kajin (hebräisch) oder Kain (griechisch) ist auch Bestandteil des Namens des ersten Schmiedes, von dem die Bibel erzählt: Tubal-Kajin.

Warum Gewalt? Warum Neid? Warum Hass?

Jeder kann hier weiterdenken! Aus drei unterschiedlichen Werken –  dem ausgezeichneten Bozener Museumsführer [=Ötzi], der Jerusalemer Bibel [=Jerus. Bibel] und dem neuesten Plötz [=Ploetz] –  seien zu diesem Zweck nachfolgend einige Daten zum geschichtlichen Umfeld Ötzis tabellarisch samt Quellenangabe wiedergegeben:

9000-3500 v.Chr.:
Jungsteinzeit. Neue Lebensweise durch Übergang vom Suchen und Sammeln von Nahrung zu Nahrungsgewinnung durch Pflanzenanbau und Tierhaltung [Jerus. Bibel]

3500 v. Chr.: Abel und Kain, Genesis 4,2 [Jerus. Bibel]

Ca. ab gegen 4000 bis ca. 2000 v. Chr.:
Kupferzeit Europas, immer mehr bergmännisch gewonnenes und verarbeitetes Kupfer nachweisbar, Kollektivbestattungen, „Chamer Gruppe“ [Ploetz, S. 39, S. 45]

4000 v. Chr.
Megalithgrabbestattung in Westeuropa. Besiedelung Alaskas durch Eskimos [Ötzi]

4000-3100 v. Chr.:
Kupfersteinzeit im alten Orient.Gewinnung von Metall (Kupfer). Anfänge der Schrift. Sumerische Schrifttafeln von Uruk, Buch Genesis 10,10 [Jerus. Bibel]

um 3600-3100 v. Chr.:
späte Urukzeit, Erfindung der Keilschrift [Ploetz, S. 80]

um 3500 v. Chr.:
Tubal-Kajin, Vater der Schmiede Gen 4,22 [Jerus. Bibel].
Beginn der Kupferzeit in Mitteleuropa; Beginn der Bronzezeit in Vorderasien, Entstehung der ersten Stadtstaaten in Mesopotamien [Ötzi]

ca. 3300 bis 2800 v. Chr.:
Mittelkupferzeit im westlichen Mitteleuropa, Kupferreviere zwischen alpinem Inn und Enns [Ploetz S. 45]

Um 3350 v. Chr. bis 3100 v.Chr.:
In den Alpen lebt Ötzi, der Mann aus dem Eis [Ötzi]

Um 3000 v. Chr. Reichseinigung unter dem ersten ägyptischen Pharao Menes; Entwicklung der Hieroglyphen; Kultivierung von Reis in China [Ötzi]

Nachweise:

Neue Jerusalemer Bibel [=Jerus. Bibel]. Herder Verlag Freiburg Basel Wien, 1. Auflage der Sonderausgabe 2007, hierin: „Zeittafel“, S. 1811

Angelika Fleckinger: Ötzi, der Mann aus dem Eis [=Ötzi]. Alles Wissenswerte zum Nachschlagen und Staunen. Südtiroler Archäologiemuseum. Folio Verlag Wien – Bozen, 8., aktualisierte Auflage 2016, hierin bsd.: „Zeitleiste“, hinterer Klappumschlag

Der große Ploetz [=Ploetz]. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte. 35. Aufl., Komet Verlag, Köln 2008

 

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Jun 052016
 

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Weithin bekannt ist die Fassung der alten Sage vom „Schlauen Fuchs und dem dummen Raben“, wonach der Fuchs den Raben herausgefordert habe: „Wenn du ebenso schön sängest, wie Deine Federn glänzen, wäre kein Vogel dir überlegen.“ In der überlieferten ältesten Fassung – aus der wir hier übersetzen – heißt es so: „Se tu avessi una bella voce, nessun ucello sarebbe superiore a te.“

Eine allzu glatte, allzu eilfertig, ohne Sinn und Verstand wiederholte Wiedergabe eines Streitgesprächs, das zweifellos einmal stattgefunden hat! Niemand, auch nicht der erbittertste  Fabelleugner und Verspotter unserer Geschichtenerzähler, zieht ja in Zweifel, dass es dieses Gespräch einmal gegeben hat oder mindestens gegeben haben muss. Der Sinnkern dieser historisch gesicherten Tatsache ist unleugbar. Wie sonst hätte es seine vielfältige Überlieferung in die Sprachen unseres Kontinents finden können?

Die Überlieferung ist allerdings sehr selbstherrlich mit dem erstmals aus dem in den Bergamasker Alpen gelegenen, bereits frühsteinzeitlich von Menschen besiedelten Tal des Brembo überlieferten, viele Jahrhunderte später von Äsop aufgegriffenen, leider bereits von Anfang an verfälschten Vorfall umgegangen. Der Grund dafür ergibt sich zwingend aus folgenden Umständen:

Wie hätte der Rabe, der doch nicht zu Unrecht schon damals als der klügste Vogel galt und auch heute noch als der klügste aller Luftbewohner gilt, auf die plumpe, bereits damals ebenso wie heute von jedem Schulbub durchschaute Täuschung hereinfallen sollen? Und weiter: Wie hätte der Rabe nicht durchschaut, dass einem Fuchs selbstverständlich kein Urteil über die Sangeskunst eines Vogels zusteht, dass folglich kein Fuchs auch nur im mindesten auch nur auf den Gedanken käme, die Sangeskünste eines Raben in Zweifel zu ziehen? Dies alles durchschaute der Rabe selbstverständlich.

Und dennoch fand der Rabe im Fuchs seinen Meister. Statt nämlich die Kunstfertigkeit des Raben in Zweifel zu ziehen, pries der Fuchs den Raben in Worten über alle Maßen: „Du bist der beste aller Sänger, ach, könnte ich doch nur ein Zehntel so gut singen wie Du! Ach, was sage ich da: Würde mir doch ein Hundertstel deiner Stimmgewalt zuteil!“ Der Fuchs fing daraufhin selbst zu singen an, obwohl doch nur ein heiseres Bellen, irgendein Zwischenlaut aus Bellen und Knurren aus seinem viel zu engen, obendrein von einer langen Hungerzeit viel zu trockenen Schlund hervorkam.

Für den Raben stellte dieser kläglich scheiternde Singeversuch des Fuchses den Großangriff dar, gegen den es für ihn keinen Schutz gab. Einem Vogel ist es ja unmöglich, die Ohren zu verschließen, ständig achtet ein Vogel auf mögliche Angriffe, auf das sprichwörtliche Rascheln im Gezweig, auf das Anschleichen der Feinde. Die Sprache der Raben ist ebenso wie die der anderen Singvögel geradezu gespickt mit Redewendungen, die die Unmöglichkeit, das eigene Gehör zu verstopfen, als Quelle tiefen Unglücks ausweisen. So sagt man etwa bei den Raben in der Tiefebene „der unerträgliche Lärm der falschen Sänger hat ihn wahnsinnig gemacht“, „der Krach der Säugetiere ist zum Federnverlieren“,  „eine schlechte Sängerin entlaubt einen ganzen Wald“, oder auch: „dieser brennende Lärm  ist  schlimmer als ein Feuersturm“. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern, doch dürfte das Gemeinte auch aus diesen wenigen, wahllos herausgegriffenen Beispielen überdeutlich hervortreten.

Der Fuchs hatte tatsächlich im Gesang – aber darf man diese abgründig mißlungene Knurren und Fauchen Gesang nennen? – den einzigen Weg, ja gewissermaßen das Trojanische Pferd gefunden, um den Raben zu überlisten. Vielmehr – er überlistete ihn nicht, er zwang den Raben dazu, sich vor dem unerträglichen Gewinsel und Gejaul des Fuchses zu schützen.

Mit Bedacht und in Abwägung aller Umstände ersann der Rabe das einzige Mittel, um den Fuchs zum Verstummen zu bewegen: er ließ den Käse fallen, den er im Schnabel hielt.

Der Fuchs stellte das Singen sofort ein und packte den Käse, um damit vor den anderen Tieren zu prahlen. Dieser – wie man es wohl nennen muss – doppelte Schurkenstreich, den der Fuchs gegen den Raben ins Werk gesetzt hat, beschädigt den Ruf des Raben bis zum heutigen Tage. Er gilt als stolz und eingebildet, obgleich er doch ganz zu recht von den Biologen als Singvogel geführt wird und im Reich der Vögel von den urteilsfähigen Vögeln selbst einhellig als der stärkste und gefragteste Sänger gerühmt und gefürchtet wird, während es den zum Gesang völlig unbegabten Füchsen – ganz zu schweigen von den Menschen – zweifellos nicht zusteht, irgend ein Urteil über die Sangeskunst des Raben zu fällen.

Ein einziges Mal war der Rabe, der unbestreitbar größte unter den Singvögeln, das bei weitem klügste Tier, das je die Lüfte bevölkert hat, in die Enge getrieben worden – und auf Jahrtausende hinaus wurde dadurch sein Ruf zerstört.

Der Fuchs hingegen, dessen wahre Geisteskräfte noch hinter seinen musikalischen Fertigkeiten zurückfallen, hat einen einzigen Geistesblitz dazu genutzt, um sich unsterblichen Ruhm zu erschleichen. Eine tiefe Ungerechtigkeit, die zu durchschauen den Menschen wiederum aufgrund eigener musikalischer und sonstiger Beschränktheit nicht möglich ist.  Dieser Irrtum ist nicht wieder gutzumachen. Von daher erklärt sich das bis heute unter uns Raben geläufige, von tiefer Bitterkeit zeugende  Sprichwort: „Käse verloren – alles verloren!“

Quellenangabe:

La volpe saggia, in: Gianni Molinari: Storie e leggende dell’alta Valle Brembana,Verlag Corponove, Bergamo 2014, S. 36-38, Zitat hier S. 36

Foto:

Ein Fuchs, gesehen heute vor der Sternwarte  am Insulaner, Berlin-Schöneberg

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Feb 242016
 

Martinus dixit: „Odium sui rimanebit usque ad introitum caelorum!“
Ego ex eo quaesivi: „Unde istud odium tui christianum, o Martine?“

„Woher kommt dein christlicher Selbsthaß, Martin?“ So fragt‘ ich, als ich vor einigen Wochen in einer 1-tägigen Sonderausstellung der Berliner Staatsbibliothek Martin Luthers vierte, erstmal lateinisch zu Wittenberg niedergelegte These in einem frühen Nürnberger Originaldruck des Jahres 1517 erblickte. Die vierte Wittenberger These sprang mich mit Macht an! Da läuteten alle Glocken in mir!

Denn Theodor Lessing veröffentlichte 1930 in deutscher Sprache ein Buch des Titels „Odium sui hebraicum“, zu deutsch also „Der jüdische Selbsthaß“, erschienen im Jüdischen Verlag zu Berlin. Dies ist die erste Glocke!

„Deutschland verrecke!“, „Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“, so habe ich es im 21. Jahrhundert jahrelang in Berlin-Friedrichshain gehört und gelesen, und zwar im öffentlichen Raum, ungestraft, ungescheut las ich es und hörte ich es, niemand machte darob ein Aufhebens. Der deutsche Selbsthaß ist keine Legende, nein, er ist eine Tatsache, die einen geradezu mit Macht anspringt. Durch die Zerstörung Deutschlands meinen die deutschen Antifa-Aktivisten den Krieg abzuschaffen. Der Selbsthaß feiert fröhliche Urständ! Weder deutsche Polizei noch deutsche Justiz kümmern sich um diese Manifestationen des deutschen Selbsthasses. Dies ist die zweite Glocke!

Antony Lerman wiederum entzauberte 2008 in der Jewish Quarterly in einem noch heute sehr lesenswerten Beitrag unter dem Titel Jewish Self-Hatred : Myth or Reality? Rätsel, Legenden, Fakten und Fiktionen des Redens vom angeblichen jüdischen Selbsthaß. Erstaunlicherweise wirft er nach sorgfältiger Prüfung den Begriff des jüdischen Selbsthasses in den Mülleimer der Geschichte. Er ver-wirft den jüdischen Selbsthaß. Er lehnt den Begriff ab. Lest selbst: „It is too much to hope that by revealing just how bankrupt a concept ‘Jewish self-hatred’ is, discourse among Jews on Israel and Zionism could become more productive, both for Jews themselves and for the sake of achieving justice in the conflict between Israelis and Palestinians. Too much is currently invested in this demonising rhetoric. But if we could edge it closer to the rim of the dustbin of history, we’d be making a start.“

Dies ist die dritte Glocke, gewissermaßen das Sterbeglöcklein des jüdischen Selbsthasses.

Der christliche Selbsthaß Martin Luthers von 1517, der deutsche Selbsthaß der Friedrichshainer Antifa von 2014, der jüdische Selbsthaß Theodor Lessings von 1930, der jüdische Selbsthaß Trotzkis von 1917 … haben sie eine gemeinsame Wurzel?

Woher kommt diese absolute Ablehnung des eigenen Selbst, die wütende Selbstanklage, dieses Gefühl: „Ich bin nichts, ich tauge nichts. In mir ist nichts Gutes, drum besser wär’s, es gäb‘ mich nicht! Fort mit mir!“?

Früheste Belege dieses Gefühls „Fort mit mir!“ scheinen mir ins Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückzureichen, also ins biblische Buch Bereschit (Buch Genesis). In Kapitel 4, Vers 13 hebräisch sagt es Kain so:

וַיֹּ֥אמֶר קַ֖יִן אֶל־יְהוָ֑ה גָּדֹ֥ול עֲוֹנִ֖י מִנְּשֹֽׂ׃

In rohes unbehauenes ungeliebtes Deutsch übersetzt also:
Und sprach Kajin zu JHWH : Groß meine-schuld aufheben

Kain traut sich nicht mehr aufzuschauen. Es ist, als würde er sagen: „Nach allem, was ich getan habe … was soll ich noch anschauen? Wen darf ich noch anschauen? Was ich getan hab an dem Bruder, kann ich nie büßen.“

Kain formuliert dieses Gefühl: Großschuld – zu große Schuld – übergroße Schuld. Lateinisch: „Mea culpa, mea magna culpa, mea maxima culpa“. Und diese Formulierung kannte der katholische Augustiner Martin Luther mit Sicherheit.

Im spezifischen Sündenbewußtsein Kains, im Bewusstsein seiner unverzeihlichen, seiner übergroßen Schuld goß Martin Luther dieses Gefühl absoluter Verworfenheit in seine vierte Wittenberger These – mit unabsehbaren Folgen für die deutsche und abendländische Geschichte.

Der christliche Selbsthaß Luthers wurzelt genetisch, also der Genesis nach im hebräisch-biblischen Selbsthaß Kains.

Doch ist dieser Selbsthaß keine Eigenheit des jüdischen oder des christlichen oder des deutschen Selbstverhältnisses. Dieser Selbsthaß, er ist etwas Menschliches. Dem Menschen haftet seit Kain das Odium der Selbstverwerfung an.

Denn auch in der paganen Antike außerhalb oder vor der jüdischen und der christlichen Überlieferung sind uns durchaus einige machtvolle Selbstzeugnisse eines derartigen Selbsthasses bekannt. So etwa im Ödipus Tyrannos des Sophokles! Die Schuld des Ödipus ist zu groß, als dass sie aufgehoben werden könnte, er wendet eine ungeheuerliche Aggression gegen sich selbst: er sticht sich die Augen aus. Es ist dies zweifellos eine Art aufgeschobener Selbstmord. In der Übersetzung durch Hugo von Hofmannsthal liest sich der letzte große Monolog des Ödipus so:

Ödipus:
Was soll ich noch anschaun?
Den Vater drunten, wenn ich ihm begegne?
oder die Kinder, ihren Blick in meinen
verschränken und ein unausdenkbares Gespräch
von Aug‘ zu Auge führen? Fort mit mir!
Jagt doch das große Unheil, jagt doch das,
hinaus, was trieft von allen Himmelsflüchen!

Die Greise (zugleich)
Ich wollt‘, ich hätte niemals dich gekannt.

Ödipus (leiser)
Was ich getan hab‘ an der Mutter und
am Vater, büßt Erhängen nicht.

 Posted by at 12:55