Apr 032015
 

Gute, verheißungsvolle Ansätze zu einer ehrlichen Vergangenheitsbewältigung entdecken wir seit einigen Jahren in Italien. Während die vorherrschende Lesart in der breiten Masse Italiens immer noch ist, Italien sei 1940 von Deutschland wider Willen in einen Krieg hineingezogen worden, den es eigentlich nicht gewollt habe („la guerra non voluta“), wird nunmehr von immer mehr Italienern deutlicher gesehen, dass Italien ab 1921, besonders jedoch ab 1935 durchweg proaktiv eine rassistische, kriegsbefürwortende Haltung eingenommen hat. Ein gewalttätiger, neo-römischer Imperialismus, gepaart mit scharf und deutlich ausgeprägtem Rassismus vor allem gegen die Slawen (weniger stark gegen Juden), führte Italien zu blutigen, verheerenden Angriffskriegen gegen Äthiopien, Albanien, Jugoslawien und Griechenland. „L’Italia andò alla Guerra“, so lautet zutreffend eine Sendereihe der staatlichen Fernsehanstalt RAI 3, die auch am heutigen Karfreitag gesendet wird.

The loser takes it all! Seit etwa 1945 herrscht weitgehend ein stillschweigendes Einverständnis, das Deutsche Reich und nur das Deutsche Reich sei allein verantwortlich für alle seit 1935 bis zum Mai 1945 ausgefochtenen Kriege – also den gesamten 2. Weltkrieg einschließlich des japanisch-chinesischen Konflikts, des japanisch-sowjetischen Kriegs, des japanisch-amerikanischen Kriegs, des sowjetisch-finnischen Winterkriegs (1939), des italienisch-griechischen Krieges ab 1940, des ukrainisch-sowjetisch-russischen Bürgerkriegs schon ab 1931 … The Big Loser takes all the blame! Nazi-Deutschland und nur Nazi-Deutschland war und ist für die Mehrheit der Weltbevölkerung die echte „Inkarnation des Bösen“ in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Differenzierungen dieses Schwarz-Weiß-Befundes galten lange Zeit und gelten auch heute noch – selbst unter manchen ausgewiesenen, habilitierten Hochschul-Historikern – als unerwünscht, wobei wir Deutschen zweifellos unübertroffene Weltmeister (T.G. Ash) darin sind, fast alle Schuld für fast alles Unglück in der fast gesamten Weltgeschichte ab etwa 1871 (oder auch davor?) bis etwa 1945 (oder auch danach?) auf unser Haupt zu laden.

Aber so einfach ist es ja wohl nicht, dass letztlich nur „wir Deutschen“ als Trägervolk des Bösen an allem schuld sind. Ein bisschen mehr Differenzierung tut not. Und ein unendlich wichtiger Schritt zu einer notwendigen Differenzierung ist es, dass ehemalige italienische Unterstützer des Faschismus, also Männer, die in den Jahren 1921-1945 aus freien Stücken den Anschluss an die faschistischen Organisationen suchten und sich freiwillig in aller Öffentlichkeit zugunsten des faschistischen Italien und Hitlers hervortaten, nach vielen Jahrzehnten des Schweigens ihre damalige Parteinahme für den Faschismus und für Deutschland erzählen und zu erklären versuchen.

Giorgio Napolitano, der spätere kommunistische Politiker und Staatspräsident, der sich freiwillig dem GUF, dem Gruppo Universitario Fascista, also dem Faschistischen Studentenverband anschloss, Dario Fo, der spätere Nobelpreisträger, der freiwillig nach dem 8. September 1943 auf Seiten der neuen faschistischen Regierung für Hitler und Deutschland, für Mussolini und für ein Italien nach seinen eigenen Vorstellungen kämpfte, sie und einige andere sind gar nicht hoch genug zu loben für ihre schmerzende Redlichkeit. Sie gestehen und gestanden öffentlich ein, dass sie als junge Männer in diesem gewaltigen gesamteuropäischen Konflikt mindestens eine Zeit lang auf Seiten der Achse Hitler/Mussolini engagiert waren, ehe sie dann ab 1943 und verstärkt natürlich ab 1945 hinüberwechselten auf die Seite der italienischen Linken, des italienischen Antifaschismus, der sich stark an Stalin und die Sowjetunion anlehnte. Von Mussolini/Hitler zu Stalin, vom Faschismus zum Antifaschismus, vom Faschismus zum Kommunismus, von „Böse“ zu „Gut“ ging der verschlungene Weg. Signatur einer Epoche der europäischen Geschichte, – trasformismo europeo!

Als weitere bedeutende freiwillige Mitglieder des Faschistischen Studentenverbandes, also gewissermaßen und cum grano salis als ehemalige Faschisten sind zu nennen Eugenio Scalfari, Giorgio Strehler, Pier Paolo Pasolini ... diese und viele andere bekannte prominente Namen der italienischen Zeitgeschichte schlugen sich damals als junge Männer offen und ohne gezwungen zu sein auf die Seite des Faschismus. Und aus diesem Faschismus erwuchs später — die geistige Hochblüte des italienischen Antifaschismus ab etwa 1946.

Giorgio Napolitano fand dafür in seiner höchst lesenswerten Autobiographie treffend die Formulierung, die Faschistische Studentenverbindung Neapels (der GUF) sei eine „richtiggehende Brutstätte antifaschistischer geistiger Energien“ gewesen – „un vero e proprio vivaio di energie intellettuali antifasciste“.

Empfehlenswerter Lesestoff:
Giorgio Napolitano: Dal Pci al socialismo europeo. Un’autobiografia politica. Ed. Laterza, Roma-Bari 2008, hier zitiert nach edizione digitale, marzo 2013, Pos. 398 (7%)
Filippo Focardi: Il cattivo tedesco e il bravo italiano. La rimozione delle colpe della seconda guerra mondiale. Ed. Laterza, Roma-Bari 2013
GUF – Gruppo universitario fascista – Eintrag in der italienischen Wikipedia, Stand vom heutigen Tage

D- Day, questa sera si parla di „quell’estate del ’43“.

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Mrz 202015
 

Ein zunehmend operettenhaftes Gepräge mit zweifelhaftem Unterhaltungswert bietet nicht ganz kostenlos die derzeitige europäische Bühne. Zum Glück wird meist nur mit Worten gefochten und nur ausnahmsweise mit erhobenem Zeigefinger oder auch einmal mit erhobenem Mittelfinger.

Aber im Ernst muss die Frage erlaubt sein: Sollte man eine italienisch-deutsch-österreichisch-bulgarisch-russisch-englisch-griechische-äthiopische Stiftung Erinnern – Aufarbeiten – Versöhnen begründen?

Ich denke – ja!

Die Tatsache, dass der griechische Ministerpräsident Tsipras erneut zum passendsten Augenblick eine Entschädigungsdiskussion der unsäglichen in Griechenland begangenen deutschen Verbrechen unter monetären Aspekten (wie in der EU üblich) aufgebracht hat, stößt auf lebhaftes Interesse bei einigen deutschen Politikern. Deutschland solle und müsse endlich zu seiner Verantwortung stehen, wird immer wieder von deutschen Politikern gefordert.

Gut, dann sei dem so! Aber die Italiener, die Bulgaren, die Österreicher, die Briten, also die anderen Besatzermächte Griechenlands in den Jahren 1941-49, müssen unbedingt bei der Diskussion dabei sein! Ich denke, wir Deutschen müssen uns daran gewöhnen, dass nicht alle Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan von „uns Deutschen“ begangen worden sind.

Deutsche, Italiener, Russen, Bulgaren, Griechen, wir alle fragen immer nur nach den deutschen Verbrechen. Die Verbrechen der anderen werden vergessen, verdrängt, unter den Teppich gekehrt. Am meisten verdrängt werden die Massenverbrechen, die die europäischen Mächte gegen Nicht-Europäer, beispielsweise gegenüber Afrikanern begangen haben.

Erinnern wir uns: Die Italiener haben ab 1935 ganz entscheidend den gesamten Mittelmeerraum einschließlich Griechenlands nach eigenem Gusto umgestaltet. Auf dem gesamten Balkan – dem damaligen Jugoslawien, Albanien und Griechenland – waren es die Italiener, die zuerst die Umvolkungsprogramme, also die Zwangsassimilation der als minderwertig erachteten slawischen Völkerschaften vorantrieben – nicht die Deutschen.

Unter dem Leitwort Mare Nostro erhoben die Italiener Hegemonialansprüche über das gesamte östliche Mittelmeer. Die EU hat – nebenbei erwähnt – vom faschistischen Italien die Bezeichnung Mare Nostrum für ihre eigenen Abwehrbemühungen gegenüber andringenden Völkern übernommen: ein weiterer Beweis für die erstaunliche, ohrenbetäubende historische Blindheit, mit der die EU-Politik geschlagen zu sein scheint.

Und ab 1935 hat Italien mit militärischer Gewalt an diesem Ziel der italienischen Vorherrschaft auf dem Balkan und im gesamten östlichen Mittelmeehr gearbeitet.

Die italienischen Angriffskriege gegen Abessinien bzw. Äthiopien (1935), Albanien (Karfreitag 1939) und Griechenland (1940) bereiteten ganz entscheidend die Bühne für den 2. Weltkrieg vor.

Die Italiener haben übrigens auch als erste europäische Macht Giftgas flächendeckend gegen eine feindliche Zivilbevölkerung eingesetzt.

Mit größter Bestürzung las ich heute in italienischer Sprache die Rede, mit der der äthiopische Kaiser Haile Selassie vor dem Völkerbund am 30. Juni 1936 in amharischer Sprache den mutmaßlich ersten industriell betriebenen, eliminatorischen Massenmord der europäisch-afrikanischen Geschichte, die Ausmerzung von Mensch, Tier und Natur durch Giftgas anprangerte. Lest selbst:

http://www.polyarchy.org/basta/documenti/selassie.1936.html

Sugli aeroplani vennero installati degli irroratori, che potessero spargere su vasti territori una fine e mortale pioggia. Stormi di nove, quindici, diciotto aeroplani si susseguivano in modo che la nebbia che usciva da essi formasse un lenzuolo continuo. Fu così che, dalla fine del gennaio 1936, soldati, donne, bambini, armenti, fiumi, laghi e campi furono irrorati di questa mortale pioggia. Al fine di sterminare sistematicamente tutte le creature viventi, per avere la completa sicurezza di avvelenare le acque ed i pascoli, il Comando italiano fece passare i suoi aerei più e più volte. Questo fu il principale metodo di guerra.

Ma la vera raffinatezza nella barbarie consisté nel portare la devastazione ed il terrore nelle parti più densamente popolate del territorio, nei punti più lontani dalle località di combattimento. Il fine era quello di scatenare il terrore e la morte su una gran parte del territorio abissino.

Zurück zum Gedanken von Erinnern – Aufarbeiten – Versöhnen!

Die Erinnerung an die im eigenen Namen begangenen Verbrechen bleibt eine Daueraufgabe aller europäischen Gesellschaften. Die Österreicher sollten sich ruhig ihrer Verbrechen erinnern, die Russen der ihrigen, die Italiener der ihrigen. Gern darf man darüber hinaus auch mit dem Zeigefinger auf die Deutschen und auf die deutschen Verbrechen zeigen, warum denn nicht? Wenn’s der eigenen Gewissensentlastung dient. Das machen doch alle so. Alle – Italiener, Deutsche, Russen, Österreicher, Belgier – zeigen wahnsinnig gern auf die deutschen Verbrechen. Es tut offenkundig so gut. Es baut offenbar das eigene Selbstbewusstsein wieder auf.

Ich meine jedoch: Sofern das Erinnern an all die unsäglichen deutschen Verbrechen nicht zum leeren Schul- und Schuldritual verkommen soll (was zweifellos in Teilen bereits der Fall ist), müssen auch alle anderen Völker zu ihren eigenen Verbrechen und Verbrechern stehen. Und das ist bis heute leider nicht im mindesten der Fall. Italien ist ein gutes, wenn auch keineswegs das einzige Beispiel dafür.

Der flächendeckende Massenmord der italienischen Luftwaffe an der äthiopischen Zivilbevölkerung im Abessinienkrieg, der erste systematische Giftgaseinsatz gegen Zivilisten in der europäischen Geschichte, für den das traurige Verdienst den Italienern zukommt, steht zweifellos zusammen mit dem 1940 entfesselten grundlosen Angriffskrieg Italiens gegen Griechenland im Lastenheft der „Italiani brava gente“.

Die italienischen Konzentrationslager in Dalmatien, die Zwangsitalianisierung der slawischen Völker, die erpresserische Demütigung des griechischen Volkes durch den Duce und seine Lakaien gehören zur vergessenen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts – und zur vergessenen Vorgeschichte des 2. Weltkrieges.

Das geradezu manische, das alleinige Starren der Europäer auf deutsche Verbrechen, in diesem Fall also das völlige Vergessen der Verbrechen der beiden anderen Besatzungsmächte Italien und Bulgarien in Griechenland, sowie auch das Wegdrücken der Verheerungen des innergriechischen Bürgerkrieges, der erst 1949 endete, lässt weiterhin wenig Gutes für ein gemeinsames europäisches Geschichtsbewusstsein erwarten.

 Posted by at 23:50

… чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам … Hat uns Tschaadajew noch etwas zu sagen?

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Freiheit, Lenin, Russisches  Kommentare deaktiviert für … чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам … Hat uns Tschaadajew noch etwas zu sagen?
Sep 062014
 

Engels 2014-08-10 09.18.19

„Мы жили и сейчас еще живем для того, чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам.“

So schrieb es Pjotr Jakovlevich Tschaadajev, verdienter Offizier im Vaterländischen Krieg. Als leidenschaftlicher russischer Patriot und spitzzüngiger Polemiker  ging er in seinem berühmten ersten philosophischen Brief, erschienen 1836 in der Moskauer Zeitschrift Teleskop, sehr hart ins Gericht mit seinem Vaterland, für das er Leib und Leben riskiert hatte. Er vermisste in der nachnapoleonischen russischen Gesellschaft seiner Zeit den Willen zur Modernisierung; Russland, so führte er aus, habe den Freiheitsimpuls, zu dem es durch die Niederringung Napoleons und durch die Abschüttelung des französischen Jochs einen bedeutenden Beitrag geleistet hatte, nicht genutzt.

Wir erinnern uns: 3 Millionen Menschen in Europa hatten in den von Napoleon entfesselten Kriegen ihr Leben verloren; wozu waren sie gestorben, wenn die europäischen Völker, darunter auch die Russen, Polen und Deutschen, doch wieder in die Fürstenherrschaft und Despotie zurückfielen? Wozu der ganze „Freiheitskampf“, wenn die Fürsten Europas nach Willkürart doch wieder schalteten und walteten, wie sie wollten? So fragten Tschaadajew und seine „Westler“, aber auch die geistesverwandten „Göttinger Sieben“, darunter die Brüder Grimm, oder auch Heinrich Heine in Deutschland.

Napoleon hatte Europa mit Waffengewalt und willkürlich losgetretenen Angriffskriegen zu einen gesucht und war 1812 in Russland endgültig niedergerungen worden; gut 100 Jahre später, ab Oktober 1917  folgten ihm in den Fußtapfen  Lenin und die Bolschewiki, die ebenfalls mit Waffengewalt ganz Europa und dann die ganze Welt ins ewige Reich der Freiheit führen wollten; ihr sogenannter Befreiungskampf brachte ab 1917 erneut Blut, erneut millionenfaches Gemetzel  und Tränen über Russland und die eine, die östliche  Hälfte Europas einschließlich Russlands, der Ukraine, Polens, Ungarns, Estlands, Lettlands und Litauens; die Unfreiheit, die Lenin, Feliks Dzierżyński, Stalin, Lawrenti Berija und viele andere mehr von Russland aus über den ganzen Kontinent ab 1917 auszubreiten suchten, dieses von Russland ausgehende kommunistisch-sowjetische Joch wurde erst 1989/1990 endgültig abgeschüttelt.

Ab 1933 versuchte erneut eine diktatorische Gewalt, den ganzen Kontinent – diesmal von Deutschland aus – mit Waffengewalt ins 1000-jährige Reich der Freiheit zu führen. Auch dieser nach Napoleon und Lenin/Stalin dritte, auf Lüge und Gewalt gestützte Versuch der gewaltsamen Einigung Europas durch das Schwert versank in Terror, Blut und Gemetzel. Nach zwölf Jahren, 1945 war das deutsche Joch von den Völkern Europas abgeschüttelt.

Die kommunistische Gewaltherrschaft, die Lenin und Stalin ab 1917 über einen Teil Europas errichtet hatten, ging hingegen erst 1989/1990 zu Ende. Doch das Werk der Befreiung ist damit nicht vollendet! In allen vom Kommunismus befreiten Staaten, darunter Russland, Ukraine, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Tschechien galt und gilt es, die Trümmer und Hinterlassenschaften der jahrzehntelangen, von Russland ausgehenden, als „russisch“ empfundenen kommunistischen Diktatur, die auf Lüge und Gewalt gestützt war,  aufzuarbeiten. Kein Staat – selbst das seit 1989 von Marx, Lenin, Dzierżyński, Stalin befreite Russland – ist gefeit dagegen, wieder in Unfreiheit und Terror zurückzufallen.

Tschaadajew wurde 1836 für seine literarischen Beiträge, für seine satirisch-polemische Beleidigung des „heiligen“ Russentums  für verrückt erklärt und unter psychiatrische Beobachtung gestellt.  Über Tschaadajews  Diskussionspartner, die Dekabristen, ließ Zar Nikolaus Hinrichtungen, Verbannung und Internierung verhängen. Sie kamen nicht so gnädig davon. Straflager, Verbannung, Publikationsverbote, Einweisung in die Psychiatrie, das sind alles Methoden, die in Russland auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblicken.

Was hat uns Tschaadajew zu sagen? Hat er uns überhaupt noch etwas zu sagen?

„Мы жили и сейчас еще живем для того, чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам.“
„Infine siamo vissuti e viviamo per servire da chissà quale grande lezione per i posteri lontani.“
„Wir haben gelebt und leben noch dafür, um den fernen Nachkommen irgendeine großartige Lehre zu erteilen.“

Was ist die „großartige Lehre“ der Russen des 19. Jahrhunderts?

Ich würde sagen: Es ist die Einsicht, dass der Freiheitsimpuls überall zu verteidigen und zu verstetigen ist. Napoleon wurde nicht deswegen abgeschüttelt, damit Zar Nikolaus oder die europäischen Fürsten der Karlsbader Beschlüsse ein mindestens ebenso gewalttätiges Regime installieren konnten.  Die europäischen Freiheitskämpfer der nachnapoleonischen Zeit, die oftmals Verse von Friedrich Schiller oder Puschkin, dem Jugendfreund Tschaadajews, auf den Lippen geführt hatten, sahen sich bitter enttäuscht durch die Oligarchen und Autokraten, die steinreichen Fürsten, Zaren, Präsidenten und Speichellecker der damaligen Zeit.

Tschaadajew verlangte – statt serviler Speichelleckerei und Prostration vor dem Zaren – Reformen und Modernisierung von Russland. Er wollte Russland für die Freiheitsideen des Westens öffnen. Ihm behagte das Dunkelmännertum, das bequeme Bündnis zwischen russischer Kirche und russischer Staatsmacht, zwischen Thron und Altar, symbolisiert im Schutzherrn und Oberhaupt aller Reußen, dem Zaren, nicht.

Tschaadajew musste erkennen: Die Unfreiheit, die mit Unterdrückung, Waffengewalt und Terror arbeitet, hört nicht dadurch auf, dass die eine Gewaltherrschaft einfach durch eine andere ersetzt wird.

Insofern – wir sind gemeint! Wir sind auch einige der Nachkommen, für die die Westler im Russland des 19. Jahrhunderts kämpften, litten und starben.

Bild: „Der Pole Feliks Dzierżyński, der Georgier Stalin, der Russe Lenin sind nicht mehr da!“ Ihre Denkmäler sind aus dem Stadtbild Moskaus verschwunden.  Aber Friedrich Engels, der deutsche Kapitalist, hat seinen festen Platz in Moskau behalten und schaut sich seelenruhig die ihm gegenüberliegende Christus-Erlöser-Kirche an. Aufnahme des reisenden Bloggers vom 10.08.2014

 Posted by at 15:26
Sep 032014
 

«Мы один народ», so äußerten sich in den letzten Tagen sowohl Gorbatschow als auch Putin. Sie beschwören damit hochheilig die ewige Bruderschaft, die ihrer Meinung nach die Ukraine seit jeher an Russland binden soll, ja die Ukraine geradezu zu einem Teil Russlands mache.

Ich besprach diese Aussagen in Russland mit einer Moskauer Kinderärztin. Unser gemeinsamer Befund dieser mittlerweile nur noch mit den Begriffen der Psychopathologie zu erfassenden Konfliktlage: Genau in diesen Aussagen Putins oder Gorbatschows liegt der Kern des Problems. Wenn der Stärkere sagt: „Ihr gehört uns, ihr seid unser“ und diesen Anspruch mit Waffengewalt durchsetzt,  der Schwächere aber das anders sieht, dann liegt genau hierin das Problem. Es ist der Keim des Krieges. Zwar mag es durchaus sein und es ist wohl auch so, dass ein Teil der Ukrainer sich als durch und durch russisch fühlt. Russland lockt darüber hinaus mit höherem Lebensstandard, höheren Renten, besserer Versorgungslage als die Ukraine. Wenn Russland meint, diese Lasten stemmen zu können, sollte es diese Neubürger innerhalb seiner jetzt bestehenden Grenzen aufnehmen und integrieren.

Noch wichtiger scheint aber die historische Tiefenprägung zu sein. Diejenigen Ukrainer, die sich zur Orthodoxie bekennen, suchen vielfach weiterhin den Zaren, den Herrscher, der beide Schwerter, das der weltlichen und geistlichen Macht, in einer Hand hält. Sie erblicken in Putin eine Art Sendboten des Weltgeistes, eine mächtige Kaiser- und Vatergestalt, dessen Macht sie sich willig unterwerfen: sie vollführen das seelische Sich-Niederwerfen, die Prostration  vor einer historischen Herrschergestalt. Der Zar stiftet die Brücke zwischen Gott und dem Volk. „Du betest jetzt für Putin!“ schrieen sie einen Popen an, der sich weigerte, sich politisch im Gottesdienst auf Seiten Russlands zu stellen. Dann wurde er von der aufgestachelten Menge mit Tomatensaft bespritzt. Er ließ es abprallen, verlor die Ruhe nicht. So verlief vor drei Wochen eine Szene im russischen Fernsehsender 1, die ich mit eigenen Augen sah! Die identitätsstiftende Rolle der Konfessionen in diesem Konflikt wird übrigens im Westen nicht ansatzweise erkannt. Sie ist nicht zu unterschätzen!

Diesen Menschen, die sich dem Blute nach als völkische Russen fühlen,  muss selbstverständlich freistehen, die ungeliebte Ukraine zu verlassen. Russland hat unendlich weite Steppen, unbesiedelte Räume; in ihnen sollten die Neubürger ihr Neu-Russland innerhalb der heutigen Grenzen der Russischen Föderation  aufbauen.

Ein sehr großer Teil der Ukrainer sieht sich aber eben durch historische Tiefenprägung nicht als Untertanen des russischen Autokrators. Das sind insbesondere die weiten Landesteile, die früher unter österreichisch-ungarischer bzw. polnisch-litauischer Hoheit standen und erst im 20. Jahrhundert an die Sowjetunion fielen.  Dieser große Landesteil der heutigen Ukraine kämpfte sowohl nach dem ersten wie nach dem zweiten Weltkrieg noch jahrelang gegen das sowjetische Joch. Letztlich behielten die Kommunisten die Oberhand. Aber die gezielten Ausplünderungen der Ukraine durch die sowjetische Führung, die Auslöschung der Kulaken zu Hunderttausenden unter dem Vorwand „antisowjetischer Umtriebe“, sind in der Ukraine zumindest unvergessen.

7000 eingesickerte Tschetschenen scheinen bereits in der Ukraine auf Seiten der Separatisten zu kämpfen.  So berichtete es mir eine Ukrainerin, deren Vorhersagen seit Monaten bisher alle eingetroffen sind. Diese nichtrussischen, durch die früheren Grenzkriege gestählten Kämpfer sind in der Tat nicht mehr zentral zu steuern.

Eine Aussöhnung zwischen diesen in der historischen Tiefenprägung so verschiedenen Bevölkerungsteilen hätte Offenheit, Klarheit, Versöhnungswillen und Transparenz auf beiden Seiten der Grenze verlangt. Daran hat es aber gefehlt. Daran fehlt es bis zum heutigen Tag. Und so mag denn das „Auseinandergehen“ ohne allzuviel Blutvergießen im Augenblick tatsächlich eine Art Lösung sein. So meine Eindrücke, die ich in Gesprächen mit Ukrainern und Russen gewinnen konnte.

via  ВЗГЛЯД / «Мы один народ».

In deutscher Sprache zu empfehlen:
Claus Leggewie: Holodomor: die Ukraine ohne Platz im europäischen Gedächtnis? In: ders., Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Beck Verlag, München 2011, S. 127-143.

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мнр вам – wir wünschen euch Frieden

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Religionen  Kommentare deaktiviert für мнр вам – wir wünschen euch Frieden
Jul 222014
 

2014-07-14 15.53.35

Мир вам: Im Zeichen des Kreuzes werdet ihr den Frieden gewinnen.

Was für ein Glücksfall: die vier mächtigsten Politiker auf der Bühne, die den Schlüssel zur Lösung der Ukraine-Krise in ihren gefalteten Händen halten, sind alle bekennende Christdemokraten! Sowohl Petro Poroschenko als auch Wladimir Wladimirowitsch Putin, sowohl Angela Merkel als auch Barack Obama haben sich wiederholt und öffentlich – auch als amtierende Politiker – zum Christentum bekannt.  Sie sind alle auf den Namen Jesu Christi getaufte, christliche, demokratische Politiker, die sich den sittlichen Grundgeboten Jesu Christi öffentlich unterstellt haben. Sie alle beten – jeweils in ihrer Muttersprache – das Vater unser in nahezu textgleicher Fassung.

Diese sittlichen Grundgebote, die die russisch-orthodoxen, die ukrainisch-unierten, die lutherisch-protestantischen und die römisch-katholischen Christen gleichermaßen anerkennen, sind: die allgemeine Pflicht zur Wahrhaftigkeit, die unbeschränkte Pflicht zur Versöhnung untereinander, die universale Pflicht der Nächstenliebe, die Pflicht zur Gewaltlosigkeit in der Durchsetzung eigener Ansprüche, die Anerkennung des Legitimitätsprinzips im Verkehr der Staaten untereinander, der Vorrang des Wortes vor dem Schwert, der Vorrang des Herzens vor dem Geld. Das Wort ist stärker als die Wurfschleuder.

Ich glaube, dass die christlich geprägten Völker wie etwa die Russen und die Ukrainer, dass die christlich-demokratischen Politiker, insbesondere auch Petro Poroschenko und Wladimir Putin im Zeichen des Kreuzes zunehmend ihre Gemeinsamkeiten erkennen und anerkennen werden und damit auch den Weg zum Frieden finden werden. Ein gemeinsam gefeierter Gottesdienst, ein gemeinsam gesungenes Kirchenlied in ukrainischer und russischer Sprache, ein gemeinsam in der jeweiligen Muttersprache gebetetes Vater unser können Wunder bewirken. Ich glaube fest daran.

Bild: Unsere herrliche Тарзанкa, die Tarzanschaukel am Fluss Moskwa, in der Nähe von Cосны westlich von Moskau. Aufnahme des Verfassers vom 14.07.2014, 15.53 Uhr

 Posted by at 09:21
Mai 212014
 

„Jeder der bei uns in der Ukraine die Wahrheit über die Vergangenheit sagte, wurde nach Magadan geschickt. Die meisten kamen nicht wieder. Diejenigen, die wiederkamen, erzählten wohlweislich nichts.“ So erzählte es mir persönlich eine Ukrainerin, mit der ich vor wenigen Wochen über die aktuelle Lage in der Ukraine sprach. Diese Worte der Ukrainerin fallen mir soeben wieder beim Lesen des Buches „Stalin’s children“ ein, das auf Deutsch unter dem Titel „Winterkinder“ erschienen ist. Das Geschehen – also die authentische Lebensgeschichte von drei Generationen einer russisch-englischen Familie, erzählt von einem Sohn dieser Familie – spielt überwiegend in der Ukraine. Das Buch bringt alle die Städtenamen, von denen  jetzt auch wieder die Tagespresse voll ist: Simferopol, Charkow/Charkiw, Odessa, Donezk … und viele mehr.

Stalin’s Children ist ein erzählendes, biographisches, mehrere Generationen umspannendes  Buch, das – wenn man so will – den historischen Hintergrund für die jetzige weltpolitische Auseinandersetzung liefert. Die Ukraine war ein entscheidendes Schlachtfeld, vielleicht das entscheidende Schlachtfeld  der eliminatorischen Vernichtungsstrategie der sowjetischen Kommunisten gegenüber ihren wirklichen oder eingebildeten Feinden, den „Kulaken“, den „Volksfeinden“, den „Schädlingen“, den Trotzkisten, den „Antisowjets“,  dem „Ungeziefer“. Insofern ist die Ukraine das mitteleuropäische Land par excellence, es liegt genau an der Nahtstelle zwischen Osteuropa und Westeuropa. Ich wage zu behaupten: Es IST die Nahtstelle. Es sind die „Bloodlands“, wie sie Timothy Snyder nennt, in denen sich die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte ereignet haben.

Eine zweistellige Millionenzahl an Todesopfern brachten diese eliminatorischen, systematisch geplanten und vollzogenen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten (und danach der Nationalsozialisten) hervor.

Und warum ist davon – von diesem „Holodomor“, der doch wesentlich mehr Opfer forderte, mindestens so eliminatorisch war wie der deutlich später einsetzende „Holocaust“, so wenig bekannt bei uns in der westlichen Hälfte Europas, während der Holocaust, der danach ebenfalls schwerpunktmäßig in der Ukraine und in Polen stattfand, in aller Munde ist?

Die Antwort ist zweifach:

1. Es gab fast keine Überlebenden bei den Auslöschungsaktionen der Sowjets in der Ukraine. Während der Terror der Nationalsozialisten sich im wesentlichen auf die Jahre 1933-1945 beschränkte, erstreckte sich der nicht minder brutale, nicht minder eliminatorische  Terror der Kommunisten, der sich davor, danach und gleichzeitig schwerpunktmäßig ebenfalls im Gebiet der Ukraine entfaltete, über mehr als 3 Jahrzehnte. Lange genug, um die wenigen überlebenden Augenzeugen zum Schweigen zu bringen, lange genug, um eine Mauer des Schweigens um die über viele Jahre sich hinziehenden Massenmorde zu errichten.

2. In der Sowjetunion galt ebenso wie in der DDR  mindestens bis 1956 ein absolutes Frageverbot, ein absolutes Schweigegebot über die eliminatorischen Massenvernichtungsaktionen der sowjetischen Kommunisten. Nur die oberen Kader der Kommunistischen Partei, also etwa Stalin oder Nikita Chruschtschow, hatten ein einigermaßen vollständiges Bild vom Umfang der radikalen Vernichtung, der Dezimierung und Auslöschung ganzer Völkerschaften, ganzer Klassen des Volkes durch die Kommunisten in den Jahren 1917-1953. Das Volk, die breiten Massen wurden belogen und betrogen nach Strich und Faden. Hätten nun die Kommunisten das ganze Ausmaß der kommunistischen Massenverbrechen enthüllen und aufarbeiten können, so wie ja ab 1945 nach und nach das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten aufgedeckt worden ist und zu Recht auch weiter aufgedeckt wird?

Nein, sie wollten und konnten es nicht, denn die Offenlegung des ganzen Umfanges der kommunistischen Massenverbrechen in den Jahren 1917-1956  hätte der kommunistischen Herrschaft in den Staaten des Warschauer Pakts sofort jede Legitimität entzogen. Der Kommunismus wäre als Ideologie, als Lehre und als Praxis bereits kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nicht erst 1989/1990 zusammengebrochen, so wie der Nationalsozialismus im Jahr 1945 nach dem verlorenen Krieg nicht zuletzt durch die Offenlegung seines durch und durch verbrecherischen Charakters zusammengebrochen ist.  Die Kommunisten hätten bei Öffnung der Archive und bei echter Forschungs- und Redefreiheit trotz des gewonnenen Krieges bereits 1956 die Macht verloren, so wie die Nationalsozialisten 1945 die Macht verloren.  Bereits 1956, nicht erst 1989/1990 wäre die Mauer zwischen Ost und West gefallen.

Nicht zuletzt wäre es bei einer echten Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR zu zahlreichen gespaltenen Loyalitäten, zum Auseinanderbrechen von Familien, Ehen, Freundschaften  gekommen. Denn selbstverständlich sind nicht alle gläubigen Kommunisten „böse“. Im Gegenteil! Viele waren auch von lauteren Motiven beseelt. Selbst etliche Massenmörder glaubten wohl, die bis dahin nahezu singulären eliminatorischen Massenverbrechen in der Ukraine im Dienste der Menschheit vollbringen zu müssen.

If only there were evil people somewhere insidiuously committing evil deeds, and it were necessary only to separate them from the rest of us and destroy them. But the line dividing good from evil cuts through the heart of every human being. And who is willing to destroy a piece of their own heart?

Stalin’s children / Winterkinder – ein lesenswertes Buch. Ihm entnehmen wir dieses obenstehende Zitat. Es hinterlässt mich zutiefst betroffen.

Owen Matthews: Stalin’s Children. Three Generations of Love, War, and Survival. Bloomsbury, London / Berlin / New York 2008. Elektronische Ausgabe, hier Pos. 812 von 4397
Owen Matthews: Winterkinder. Drei Generationen Liebe und Krieg. Aus dem Englischen von Vanadis Buhr. Mit 34 Fotos. Graf Verlag (Ullstein Buchverlage), München 2014, hier S. 76

 Posted by at 10:03
Mai 122014
 

Die nachstehenden Erwägungen fassen waschzettelhaft, grob und ungenau zahllose Beobachtungen und Bemerkungen zusammen, die ich in über 15 Jahren in Russland, in Deutschland, in anderen Ländern, in hunderten von Begegnungen und Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Menschen, in Tausenden von Büchern, Aufsätzen, Blogs usw. destillieren konnte. Sie sind sicherlich nicht wissenschaftlich exakt, aber sie versuchen, eine Bewusstseinslage zu erfassen, wie sie derzeit wohl das Handeln und Fühlen vieler Menschen in Russland, in der Ukraine, in Deutschland und in den EU-Ländern bestimmen dürfte.

Als „zerschmettert“ hat die Schauspielerin Katja Riemann vor wenigen Tagen zu recht die Identität Deutschlands bezeichnet. Die 12 Jahre der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werden heute von der Mehrheit der Deutschen als Bruch, als Störung, ja oft auch als Zerstörung der etwa 1100 Jahre deutscher Geschichte gesehen. „Deutsche Geschichte“ kann man mit Fug und Recht etwa mit Ottos I. Kaiserkrönung, also mit dem Jahr 962 beginnen lassen. Deutsche Geschichte endet nach dieser „Zerschmetterungstheorie“ endgültig  um das Jahr 1933.

Sehr viele Deutsche schämen sich wegen 1933-1945 dafür, Deutsche zu sein. Sie wollen mit Goethe, Luther, Bach, Kant, mit deutscher Musik, mit deutscher Sprache, mit deutschen Volksliedern, mit dem Muttertag, mit den deutschen Vätern und Großvätern, mit einem deutschen Nationalstaat, mit deutscher Kultur von vor 1945 nichts mehr zu tun haben. Das deutsche Volk ist in ihren Augen das Trägervolk des schlechthin Bösen. Deshalb auch das Bestreben, möglichst rasch alles Deutsche, alle deutsche Schuld und Schuldigkeit in einem großen europäischen Euro-Kuchen verschmelzen zu lassen. Kein anderes Volk kommt uns in dieser verblendet-selbstquälerischen Haltung auch nur im entferntesten nahe. „Es war alles schlecht und teuflisch unter Hitler, Göring und Himmler – und wenn ein Volk so etwas zulässt, dann hat es sein Existenzrecht als Volk verwirkt. Drum besser wär’s, es gäbe gar kein Deutschland.“

So fühlen und agieren  in Deutschland viele. Augenfälligster Beleg dafür: die Antipatrioten, die Antideutschen, die in Friedrichshain in der Revaler Straße völlig ungehindert und ungestört ihr Bekenntnis auf die Dächer gepinselt haben: „Deutschland verrecke.“ Kein anderer europäischer Staat würde so etwas in seinen Grenzen zulassen, nur in Deutschland findet diese Selbstverfluchung, dieser Selbsthass eine selbstgefällige und selbstzufriedene Anhängerschaft.

Für die allermeisten Russen hingegen – ich meine: für etwa 60 bis 70 Prozent der Russen ist – in schroffem, in denkbar schärfstem  Gegensatz zu Deutschland – das Nationalgefühl völlig ungebrochen. Die gegenwärtige Ukraine-Krise belegt: Der russische Nationalstolz ist sogar wie Phönix aus der Asche emporgestiegen. Die ungefähr 40 Jahre kommunistischer Terrorherrschaft (ab 1917 bis etwa  zum Tode Stalins) werden von der Mehrheit der Russen als Abweichung, als Störung, ja als eigentlich unrussisch gesehen. „Wir Russen waren es nicht. Es war alles nur der Stalinismus.“

Riesige Teile der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind und bleiben folglich den meisten Russen völlig unbekannt; so ist etwa das operative Kriegsbündnis, das das Deutsche Reich und die Sowjetunion von 1939 bis 21. August 1941 pflegten und das in gemeinsamen Triumph-Feiern und Sieges-Paraden der deutschen Faschisten und der russisch-sowjetischen Kommunisten gipfelte, völlig unbekannt. Am 22.09.1939 feierten – wie fast niemand weiß – deutsch-nationalsozialistische und sowjetisch-russische Truppen in Brest die Aufteilung Europas in zwei Blöcke. Wer sich diesem Herrschaftsanspruch des Deutschen Reiches bzw. der Sowjetunion entgegenstellte, der wurde mit aller Brutalität zerschmettert.

Die insbesondere ab 1936 ausgeübte Terrorherrschaft der sowjetischen Kommunisten gegenüber den Minderheitenvölkern der UDSSR oder sogenannten Schädlingen wie etwa den „Kulaken“, Tataren, den Ukrainern, den Polen, den baltischen Völkern, das aus vielen Hundert Lagern bestehende GULAG-System ist nie ins breite Bewusstsein der Russen eindrungen. Viele Russen halten sich weiterhin für das erwählte Trägervolk des Guten.

Nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft sieht ein Teil der Russen zwar den gesamten Kommunismus als gescheitertes Experiment an. Denn die Millionen und Abermillionen  von Terroropfern, die die Zwangsherrschaft Lenins, Berijas, Jeschows, Stalins und Hunderttausender von Mitläufern ab 1917 sowohl bei Russen wie bei anderen Völkern gebracht hat, wird als ein zu hoher Preis angesehen. „Es war nicht alles gut unter Lenin, Jeschow, Stalin, Berija und Chruschtschow, aber wir haben weitgehend im Alleingang den deutschen Faschismus besiegt. Und insofern sind wir im Recht. Wir haben das Herz des Bösen besiegt.“

Der östliche Kriegsschauplatz war über weite Strecken Stätte erbitterter Partisanenkriege, in denen die Völkerschaften aufeinander prallten. Auch der vielbeschworene 9. Mai 1945 beendete diese Partisanenkriege, die Teil des 2. Weltkrieges sind, namentlich in den baltischen Staaten, in Polen und in der Ukraine und in Griechenland nicht. Vielmehr wurde noch jahrelang mit größter Brutalität weitergekämpft: ein völlig vergessenes Kapitel der Gewaltgeschichte unseres Kontinents.

Häufig wird heute der Kommunismus auch als Abirrung vom rechten Weg Russlands angesehen.  Die Ausländer, der Westen, also insbesondere der jüdischstämmige Deutsche Karl Marx und der Kaiser Wilhelm II. hätten Russland den ganzen Kladderadatsch eingebrockt. „Hätten die Deutschen 1917 Lenin nicht zur Zersetzung der alten Ordnung ins Land gelassen, wäre das alles nicht passiert.“ Der rechte Weg Russlands wird heute durch das starke Sendungsbewusstsein der russischen Geistesgrößen bezeichnet, das sich insbesondere ab etwa 1860 bis 1917 entfaltet hat. Da fallen Namen ein wie Tolstoi, Dostojewskij, Berdjajew, Konstantin Aksakow, Nikolai Danilewski – sie alle vertraten ein panslawisches Bewusstsein von der hohen Sendung Russlands, das zur Wahrung der christlichen Werte gegenüber dem dekadenten Westen eingesetzt sei.

Das orthodoxe Christentum ist integraler Bestandteil der neuen russischen Staatsideologie geworden! Der Prozess gegen Pussy Riot erfüllte den Zweck, das innige Bündnis zwischen Thron und Altar, das phönixgleich aus der Asche der Sowjetunion wiederauferstanden ist, augenfällig zu dokumentieren.  „Wer sich Russland anschließt, wird in Frieden und Freiheit leben.“ So das Versprechen der Russen an die anderen, insbesondere die slawischen Völker des europäischen Ostens.

Ein anderer Teil der ehemaligen Sowjetbürger trauert dem Gemeinschaftsgefühl der Sowjetunion nach. Die Völker, die eher dem asiatischen Raum oder dem europäischen Osten zuzurechnen sind, etwa die Bulgaren, die Rumänen, die Armenier, ein Teil der Ukrainer oder auch die Serben, zeigen sich gegenüber solchen Bestrebungen aufgeschlossen.

Die Völker hingegen, die kulturell von jeher dem Westen Europas angehören, also namentlich die Balten, Tschechen, Polen, ein Teil der Ukrainer, die Slowaken, Ungarn, Finnen, die Slowenen, die Kroaten denken freilich nicht im Traum daran, sich erneut unter den gütigen Schutzmantel der russischen Oberherrschaft zu begeben. Sie haben jahrhundertelang Russland bzw. die Sowjetunion als fremde Macht über sich erdulden müssen, wobei zweifellos neben und nach Nazi-Deutschland die Fremdherrschaft der Sowjetunion den Tiefpunkt der Erniedrigung darstellte.

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Ich will für dich Sorge tragen

 Das Böse, Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Liebe  Kommentare deaktiviert für Ich will für dich Sorge tragen
Apr 162014
 

Zu den aufwühlendsten, aber auch schmerzhaftesten  Erlebnissen meiner Jugendzeit gehörte mein erster Besuch in einem ehemaligen deutschen Konzentrationslager, in diesem Fall  Maidanek bei Lublin. Ich war 15 damals im Jahr 1974, der polnische „Stadtleiter“, wie er sich nannte, ein ehemaliger Häftling, war 70 Jahre alt.

Die Qualen und Erniedrigungen des Lagerlebens schilderte unser Stadtleiter sehr anschaulich. An den deutschen, ukrainischen, lettischen und polnischen „Hitleristen“, wie er die Nazis nannte, ließ er  kein gutes Blatt. Und als typischer gebildeter Pole, der reichlich Erfahrung mit verschiedenen Diktaturen gesammelt hatte,  ließ er dann im vertrauten Gespräch bei sich zuhause an den russischen, polnischen, ukrainischen und deutschen Kommunisten ebenfalls kein gutes Blatt.

Mein Eindruck von den Schilderungen des polnischen KZ-Überlebenden war, dass Polen seit etwa 1772 bis in die damalige Jetztzeit (also 1974) stets von den drei  Seiten – von a) Russland bzw. der Sowjetunion,b)  Österreich, c) Preußen und von Deutschland her – das Schlimmste abbekommen hatte: Überfälle, Zerstückelungen, Unterdrückung, Ausplünderung.  Eine historische Erkenntnis, die vor 1990 öffentlich zu äußern sehr gefährlich war, die aber heute sicherlich von der Mehrheit der Polen und von der aufgeklärten Minderheit der Russen und der Deutschen so geteilt wird.

Ein gemeinsames Abendessen in der Wohnung des polnischen Stadtleiters beendete den Besuch. Nach reichlichem Essen und Trinken brachte jemand den Gedanken auf, wir sollten singen. Und so sangen wir. Die Polen sangen einige polnische Volkslieder, wir Deutsche sangen einige deutsche Volkslieder.

Die erste Wahl unserer Gruppe fiel auf das alte fränkische Studentenlied: „Wahre Freundschaft soll nicht wanken.“

Ein deutsches Volkslied, gesungen von Deutschen ausgerechnet in der Wohnung eines polnischen KZ-Überlebenden? Irgendwie passte mir das nicht. Der deutschenfeindliche Virus hatte mich selbstverständlich damals bereits wie die meisten Deutschen in meiner Generation erfasst. Ich konnte das deutsche Volkslied nicht ernstnehmen. Ich scherte aus. Ich jaulte das deutsche Volklied laut und falsch und übertrieben mit.

Ich – der jüngste Deutsche in der Runde – zerstörte mit dieser Äfferei den Zauber der Stunde, wie einige ältere deutsche Teilnehmer mir sofort und auf der Stelle zu verstehen gaben.

Ich bekam einen scharfen Verweis in Gestalt eines Rufes: „Johannes! Was machst du da! Du machst diesen Moment kaputt!“

Noch heute empfinde ich Scham, dass ich damals das von Deutschen und Polen gemeinsam gesungene Lied auf die „Wahre Freundschaft“ mutwillig störte und zerstörte.

„Wahre Freundschaft soll nicht wanken.“ Was ist schlimm an diesem deutschen Volkslied?

Das Lied „Wahre Freundschaft“ besingt nichts anderes als Liebe, Vertrauen, Freundschaft und Treue zwischen einem nicht näher genannten Ich und einem nicht näher genannten Du. Diese Werte gelten heute, sie galten damals, sie sind überzeitlich, sie wurden unter politisch-totalitärem Einfluss in den Jahren 1914 bis 1956 von den „Hitleristen“ und den „Stalinisten“ aller europäischen Nationen millionenfach geschändet.

Das deutsche Volkslied hat selbstverständlich wie das Ideal der Freundschaft alle Schändungen und Zerstörungen (einschließlich der des hier Schreibenden) überlebt.

Und gestern stimmte ich eigenmächtig mit lauter Stimme, deutlich, klar, gewissermaßen bußfertig und stolz ohne zu fragen bei einem gemeinsamen Volksliedersingen in einem Altenheim gegenüber der Kreuzberger Hölderlin-Apotheke genau dieses Lied an. Wir sangen es, durch mich intoniert,  in allen drei Strophen.

„Wenn der Tod mir nimmt das Leben…“ Diese Strophe mit dem Tod blieb gestern nicht ausgespart.

Ich will für dich Sorge tragen„, allein diese eine Zeile schon sollte diesem Lied, sollte ähnlichen polnischen, russischen, ukrainischen und deutschen Volksliedern einen Platz im Gedächtnis aller Nationen sichern, der Deutschen wie der Polen, der Russen und der Ukrainer  gleichermaßen.

1. Wahre Freundschaft soll nicht wanken,
Wenn sie gleich entfernet ist;
Lebet fort noch in Gedanken
Und der Treue nicht vergißt.

2. Keine Ader soll mir schlagen,
Wo ich nicht an dich gedacht,
Ich will für dich Sorge tragen
Bis zur späten Mitternacht.

3. Wenn der Mühlstein träget Reben
Und daraus fließt kühler Wein,
Wenn der Tod mir nimmt das Leben,
Hör ich auf getreu zu sein.

 

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Mrz 272014
 

„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ So vertraute es uns vor wenigen Tagen eine Musiklehrerin aus der Stadt Керч oder auch aus der Stadt Керчь oder auch aus der Stadt Keriç an. Im Hintergrund spielten die Schüler gerade den Sommer von Vivaldi.

Leider brechen jetzt zwischen den Ukrainern und den Russen die jahrzehntelang schwelenden Feindseligkeiten eruptiv wieder auf. Leider stelle ich immer wieder fest, dass die nicht bewältigte Vergangenheit vor allem der Jahre 1917 bis 1951 sich wie Mehltau auf die Beziehungen zwischen den Völkern und den Staaten im einstigen Ostblock legt. Die meisten Ukrainer kämpften von 1941 bis 1945  mehrheitlich auf einer anderen Seite als die meisten Russen. Sie kämpften mit den Deutschen für die Befreiung vom russisch-sowjetischen Joch. Sie zogen das Bündnis mit Deutschland der Unterdrückung durch Stalin vor. Nach 1945 brannte der verheerende Bürgerkrieg noch 5 Jahre weiter. In der Sowjetunion war es nicht möglich, eine echte Aussöhnung zwischen den Ukrainern und den Russen herbeizuführen. Die brutalen Vertreibungen der Krimvölker, das unvergessene totalitäre Terrorregime, die berüchtigten репрессии  während der sowjetischen Herrschaft hat der russische Präsident erstaunlicherweise bei seiner Rede zur Annexion der Krim ungeschminkt beim Namen genannt.  Diese Passagen der Rede werden bei der Diskussion in westlichen Ländern stets geflissentlich unterschlagen.

In den Ohren klingt mir noch die herrliche Musik Bachs, die Suite Nr. 3 in C-dur für Violoncello solo, hier wiederum vor allem die unfassbar tröstliche Allemande, die Мстисла́в Ростропо́вич oder auch  Мстислав Ростропо́вич oder auch Mstislav Leopoldoviç Rostropoviç kurz nach der Öffnung der Berliner Mauer am ehemaligen Todesstreifen spielte.

Ich glaube: Der Todesstreifen des Hasses darf nicht breiter werden. Ich hoffe, dass das russisch-ukrainisch-tatarische  Jugendorchester der Musikschule in Керч/Керчь/Keriç schon bald den Winter des Ungemachs mit Vivaldis Sommer vertreiben wird.

 

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Dez 082013
 

Die Amerikanerin Anne Applebaum, die Polen Donald Tusk und Radoslaw Sikorski, Tony Judt, Christopher Clark, Henry Rousso, Jörg Baberowski, Norman Davies, Timothy Snyder … das sind einige europäische und außereuropäische Historiker, die leider in Deutschland, Italien, Frankreich und den Benelux-Staaten viel zu wenig gelesen werden. Sie böten für die EU die Chance, allmählich ein gesamteuropäisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen. Aber nein: die sechs Gründerstaaten der EU köcheln im eigenen Saft. Sie kriegen einfach nicht mit, was in Ukraine, Russland, Polen, in „Osteuropa“, den baltischen Staaten seit 1917/seit 1945 abgeht. Sie tun so, als hätte es die Sowjetunion nie gegeben. Schade. Aber es rächt sich bitter – siehe den Schlingerkurs der Ukraine!

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Nov 122013
 

Hinter mir liegt ein schwieriger 9. November. Irgendwie empfand ich lebhaftes Unbehagen. Von der riesigen Steinwüste der „Topographie des Terrors“ führt mein Weg seit Jahr und Tag nahezu täglich auch an der gewaltigen Trauerwüste des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ vorbei. „Topographie des Terrors“ und „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ – das sind die räumlich größten, die am allermeisten Platz beanspruchenden, die stadtbildprägenden Denkmäler im unmittelbaren Berliner Wohnumfeld. Sehr weit, sehr gut versteckt gibt es in Berlin auch kleine Denkmäler für Rudolf Virchow, für Beethoven, Hadyn, Mozart. Aber Virchow, Beethoven, Immanuel Kant und all die anderen „großen Deutschen“ spielen ansonsten kaum eine Rolle in der Gedächtniskultur.

Die Dimension der Verbrechen ist in der Tat so ungeheuerlich, und wir werden durch die bewusste Inszenierung, durch das geschickte „Re-Enactment“ auf Schritt und Tritt daran erinnert, so als wären sie gestern geschehen, als würden sie heute geschehen, als könnten sie jederzeit wieder geschehen. Es fehlt sozusagen eine rituelle Distanzierung davon, wir müssen jeden Tag wieder daran vorbei. Der Besucher erhält hier in Berlin das Gefühl, unrettbar und hoffnungslos und auf alle Zeiten in diese zeitenthobene, metaphysische Geschichte der schrecklichsten Verbrechen verstrickt zu sein. Ein offener Friedhof, ein jederzeit begehbares Schlachtfeld – soll das, soll die Erinnerung nur und ausgerechnet an die Massenverbrechen der Kern der Erinnerung in der deutschen Hauptstadt sein? Ist das und nur das der tragende Sinn der europäischen Gedächtniskultur? Interessanterweise – ja! Denn nennt man heute die Worte „Erinnerungskultur“, „Gedächtnisarbeit“, „Gedenkstätte“, dann werden alle sofort an Massengräber, an Leichenberge, an den Tod denken.

Wann begann die Erinnerungskultur? Wann begann diese europäische Gedächtniskultur? Ich würde in diesem Zusammenhang des 9. Novembers 2013 sagen, ungefähr im 17. Jahrhundert v.d.Z., etwa mit dem sogenannten „Jakobssegen“ im ersten Buch Mose (Buch Genesis des Alten Testaments), 49,1-28. Erinnern wir uns an Jakob: Für Jakob gehört des vernichtende Gemetzel, das seine Söhne Simeon und Levi in Sichem anrichteten (Gen 34), untrennbar zu seiner eigenen Geschichte, zur Geschichte Israels. Er leugnet nicht, dass er der Vater der Verbrecher ist, aber er „verflucht ihren Zorn“, er verflucht ihre Taten.

Anerkennung, Konfrontation mit der historischen Wahrheit, klares Ansprechen des Zivilisationsbruches aus dem eigenen Volk heraus, Eingeständnis der Verwandtschaft mit den Massenmördern, und zugleich rituelle Absage an das Verhalten der Verbrecher aus dem eigenen Volk. Damit hat Jakob einen unschätzbaren zivilisatorischen Fortschritt eingeleitet. Eine frühe, rituelle Form der Vergangenheitsbewältigung!

In Deutschland begann die Erinnerungskultur mit Bezug auf die Schoah des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert sicherlich bereits weit vor den Frankfurter Auschwitzprozessen, sicherlich weit vor den öfters genannten Jahreszahlen, den späten 60er Jahren.  Ein lebendiger Beleg dafür ist beispielsweise die mich heute zutiefst anrührende Rede, die Bundespräsident Theodor Heuss bereits 1952 bei der Einweihung des Mahnmales im ehem. KZ Bergen-Belsen im hellsten Licht der Öffentlichkeit hielt. Da steckt eigentlich das Beste der deutschen Erinnerungskultur schon drin. Viel weiter haben wir Deutsche es seither meines Erachtens nicht gebracht.

Richtig ist aber an manchen Feststellungen, dass ab den späten 60er Jahren eine ganze Flut von Abrechnungen der deutschen Söhne und Töchter mit den eigenen Vätern und eigenen Müttern begann – eine Abrechnung, in der die nachgeborenen deutschen Söhne und die deutschen Töchter stets mit unfehlbarem Überlegenheitsgefühl sich selbst ins Recht setzten oder zu setzen glaubten. Das ist die Geburt der 68er-Studentenbewegung. Wir Söhne wollten großartig dastehen! Die Väter hatte Trauben gesessen, und uns wurden die Zähne stumpf! Wir legten und legen mit Wonne den Finger auf die faulen Zähne der Väter und Mütter und der Großväter und Großmütter! Die eigene, von uns selbst verursachte Karies sehen wir nicht. Ich spreche hier übrigens vor allem für mich selbst, im eigenen Namen.

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„Nazi bleibt Nazi!“ – „Warst du nicht auch ein Nazi?“

 1917, Das Böse, Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Gedächtniskultur, Opfer  Kommentare deaktiviert für „Nazi bleibt Nazi!“ – „Warst du nicht auch ein Nazi?“
Nov 082013
 

2013-11-06 14.20.25Zu den zivilisatorischen Großtaten rechnet zu Recht Jörg Baberowski die Rede Nikita Chruschtschows beim XX. Parteitag der KPdSU im 1956. Tenor der Rede war aus heutiger Sicht wohl ungefähr: Furchtbare Verbrechen sind ab 1917 unter unserer kommunistischen Herrschaft geschehen. Wir Kommunisten haben entsetzlichen, millionenfachen Mord unfassbaren Ausmaßes an unserer  Zivilbevölkerung begangen. Nur die Nazifaschisten, also die Deutschen kommen im Ausmaß der Massenverbrechen eingermaßen an uns sowjetische Kommunisten heran.

Wie weiterleben? Antwort: Es war alles nur ein Mann. Wir sowjetischen Kommunisten waren es nicht. Jetzt verdammen wir diesen Mann und verbrennen seine Bücher! Und alles wird wieder gut. Nicht wir sowjetischen Kommunisten waren es, sondern es war alles nur Stalin. Und diese einfältige Mär glauben die allermeisten Sozialisten, Kommunisten und Antifaschisten der westlichen Länder weltweit bis zum heutigen Tage.

„Warst du nicht auch ein Nazi?“ So muss man alle Deutschen fragen, die ab etwa 1933 geboren worden sind. „Warst nicht auch du ein Faschist?“, muss man alle zwischen 1930 und 1940 geborenen Italiener fragen.

Die allermeisten dieser zwischen 1933 und 1940 geborenen Deutschen waren wohl  mehr oder minder begeisterte Nazis. Kinder waren es, und Kinder sind fast immer 100-prozentige Parteigänger der eigenen Gruppe! So war sicherlich Peter Härtling als Kind ein überzeugter Nazi, der es seinem Vater vorwarf, dass er „nicht richtig mitgemacht“ habe – siehe das Buch „Nachgetragene Liebe“.

„Kommunist bleibt Kommunist!“ „Nazi bleibt Nazi!“ – „Atomkraftbefürworter bleibt Atomkraftbefürworter!“ So hört man es immer wieder.

„Nazi bleibt Nazi!“, so schrieb es beispielsweise Christian Ströbele MdB in seinem Bürgerbrief an uns schlichte Kreuzberger Bürger, als er sich bei uns um ein weiteres Mandat im Bundestag bewarb.

Wirklich – ist die Welt so einfach? Warst nicht auch du einst als Kind ein Nazi? Warst nicht auch du einst als junger Mensch ein Atomkraftbefürworter? Musst du nicht allen anderen Nazis und Atomkraftbefürwortern zugestehen, dass sie sich ändern können?

Bilder: Zwangsarbeit, Massenmord, Entrechtung, Nationalsozialismus prägen in diesen Tagen immer stärker für Kinder, Erwachsene, für Besucher aus nah und fern das Deutschlandbild allgemein und auch das Straßenbild Berlins. Aufnahme aus Berlin-Mitte vom 06.11.2013

Lesehinweis: Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. C.H. Beck Verlag, München 2012, S. 500

 

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Aug 172013
 

καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν.

„und erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern [sie] erlassen haben.“

So empfiehlt es Jesus im griechisch verfassten Neuen Testament bei Matthäus 6,12! Jesus fordert: Periodischer einvernehmlicher Schuldenerlass von Schulden, die den Schuldner überfordern! So lebenspraktisch sah das Jesus im Einklang mit der Tradition des Judentums damals. Er meinte: Wenn’s gar nicht mehr anders geht, muss halt der berühmte Schuldenschnitt ran. Wer hoffnungslos überschuldet ist,  der darf wieder bei Null anfangen. Jesus meinte das nicht nur finanziell im Verhältnis zwischen Personen, sondern auch moralisch im Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Vater der Menschen.

Adenauers CDU speiste sich damals aus der ausdrücklich formulierten Zielsetzung, dass im Verkehr zwischen den Staaten dieselben Grundsätze des Christentums Anwendung finden sollten wie im Verkehr zwischen Menschen. Dazu gehörte die Beistandspflicht zwischen Staaten in Not, die Pflicht zur Versöhnung zwischen ehemals verfeindeten Staaten, die Pflicht zur Vergebung der Schuld, also auch zum Schuldenerlass zwischen den Staaten. Lang ist’s her, wer erinnert sich heute noch an Adenauer oder an Erhard?

Europa durch Aufgabe des Euro retten, indem ein weitreichender Schuldenerlass durchgeführt und dann die Euro-Währungsgemeinschaft geordnet aufgelöst wird. Das ist es, was der wissenschaftliche Chefberater des Bundesfinanzministeriums, Kai A. Konrad nunmehr fordert. Hier ist das Interview nachzulesen:

http://www.welt.de/politik/deutschland/article119104708/Deutschland-kann-die-Euro-Zone-nicht-retten.html

 

Ärgerlich in mehrfachem Sinne an dem Interview der WELT mit Konrad ist aber die Frage:

Die Welt: Deutschland soll zum dritten Mal Europa in die Luft sprengen? Das wird keine Bundesregierung je tun.“

Diese ungeheuerliche, erpresserische Frage des Reporters  enthält wieder jene vulgärtheologische Schuldtheorie, wonach Deutschland und nur Deutschland an der Katastrophe des Jahres 1914 und an allen nachfolgenden militärischen und humanitären Katastrophen Europas schuld sein soll. Dies ist eine sehr gefährliche, obendrein dumme Schuldtheorie, die die internationalen Historiker längst nicht mehr vertreten, die aber weiterhin eine unselige Rolle in der deutschen und internationalen Politik spielt.  Denn wissenschaftlich lässt sich die These, dass das Deutsche Reich der Alleinschuldige oder Hauptschuldige am Ausbruch der zahlreichen europäischen Kriege ab 1914 sei, nicht halten. Sie ist empirisch falsch. Deutschland ist nicht der alleinige Schuldige am Ausbruch des ersten Weltkrieges. Was  den zweiten Weltkrieg angeht, so kann man durchaus die Meinung vertreten, dass die UdSSR, Japan, Spanien, Griechenland und Italien eine Mitschuld an den zahlreichen verheerenden Feldzügen und Schlachten haben, die ab 1920 bis 1945 den ganzen Kontinent verwüsteten, und von denen viele heute unter „2. Weltkrieg“ zusammengefasst werden.

Weil Deutschland an allem schuld sei, müsse es heute für alle Schulden aller Europäer gerade stehen. Das ist der unterschwellige Unsinn, der einem immer wieder aufgetischt wird. Weg damit. Mut zur Wahrheit ist gefragt.

 

Quelle:

Nestle-Aland: Novum testamentum graece, ed. vicesima septima, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999, S. 13

 

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