„Der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand“: Die Sehnsucht des Falk Richter

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Mrz 222016
 

Flächendeckende Personenkontrollen in Frankreich! Schwerbewaffnete Polizisten vor öffentlichen Gebäuden!  Der deutsche Regisseur  Falk Richter kann sein Theater in Straßburg nicht betreten, ohne dass er durchsucht würde. Das Parlament in Frankreich hat ja den dreimonatigen Ausnahmezustand anstandslos bis Ende Mai 2016 verlängert.

Der große Freiheitsexperte Falk Richter, der tolle deutsche Künstler findet es richtig gut, ständig kontrolliert zu werden, wie er heute auf S. 11 der Süddeutschen Zeitung bekennt. Kuckstu ma hier! So schnell kann also man in den Glauben an den STARKEN STAAT abrutschen! So schnell gibt man fundamentale Bürgerrechte gegenüber der Polizei preis. Denn der Ausnahmezustand ist in Frankreich beileibe kein Pappenstiel. Versammlungsverbote, Ausgehverbote, Hausdurchsuchungen zu jeder Tages- und Nachtzeit, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und und und… die Liste der Freiheitseinschränkungen ist lang. Sie gehen weit über die deutsche Notstandsgesetzgebung hinaus, gegen die damals die glorreichen 68er auf die Straße gingen.  Das ist der große Rollback zurück.

Nächstes Beispiel für die neue deutsche  Autoritätshörigkeit: Jeden Monat nimmt der EZB-Direktor 80 Milliarden Euro in die Hand, um damit Anleihen vom Markt wegzukaufen. Der EZB-Direktor – sein Name sei gepriesen, sein Wille geschehe – macht also direkt Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Er ist – so kann man durchaus glaubhaft begründen – der mächtigste Politiker Europas. Er dirigiert zentral vom Frankfurter EZB-Tower das Schicksal der Währungsunion. Und? Kein Hahn kräht danach. Unter der Chiffre „Super-QE“ wird durch das laufende EZB-Anleihenprogramm ohne jede Aufsicht jedes Jahr etwa drei Mal so viel Geld hin- und hergeschoben wie der Staat Belgien im selben Zeitraum einnimmt oder ausgibt. Kein Parlament, kein Pegida-Experte kuckt ihm auf die Finger. Dabei sind 80 Mrd. Euro pro Monat kein Pappenstiel. Oder?

Drittes Beispiel: Die EU hat zusammen mit der Türkei beschlossen, zusammen zigtausende Menschen hin- und herzuverfrachten. Rein in die Türkei, raus aus der Türkei. Werden die Menschen dazu befragt? Was, wenn sie dies nicht wollen, dieses Hin- und Herverfrachtetwerden? Was, wenn sie nicht folgen? Dürfen die Staaten dann Gewalt gegen die Menschen in Griechenland und der Türkei anwenden?

Jeder, der die aktuelle EU-Politik, insbesondere die Asylpolitik der EU kritisiert, der die aktuelle Geld- und Bankenrettungspolitik kritisiert, der gegen die dauerhafte Einschränkung der Parlamentsbefugnisse durch den Etat d’urgence protestiert, wird allzu leicht mit den „Europafeinden“, den „Europahassern“ in einen Topf geworfen.  Motto: Ist doch eh alles brauner Quatsch mit Soße! Ist die Welt des Falk Richter doch so einfach, sobald man einmal die „Hasser“ und „Hetzer“ erkannt hat. Das sind nämlich immer die anderen!

Falk Richter will den starken Staat. Er erklärt in der Berliner Schaubühne und auch heute im SZ-Interview manche, namentlich benannte Menschen explizit zu Feinden der bestehenden Gesellschaft.

Der Absturz des Falk Richter in die Autoritätshörigkeit, die Sehnsucht des Falk Richter nach dem starken Staat, seine kritiklose Zustimmung zur Verhängung der Notstandsgesetze in Frankreich sind ein Beweis dafür, wie schnell doch die Menschen bereit sind, fundamentale Freiheitsrechte der Gesellschaft zugunsten des starken Staates einschränken zu lassen. Was für eine tolldreiste Schaubühne!

Lesenswert! So schnell kann also ein einzelner Mensch abrutschen.

Beleg: „Wie schnell eine Gesellschaft abrutschen kann“. Schützen, was Europa ausmacht. In: Süddeutsche Zeitung, 22. März 2016, S. 11

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Muß sich in unserer Gesellschaft alles der Kritik unterwerfen lassen, oder braucht unsere Gesellschaft Meinungstabus?

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Feb 022016
 

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a) „Wir haben nur eine Welt“
b) „Es gibt keinen Planet B“
c) „Scheitert der Euro, scheitert Europa“
d) „Jesus starb am Kreuz“
e) „Die Erde ist eine Kugel“
f) „Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Naturkonstante“

Das sind Beispiele ganz unterschiedlicher Aussagentypen. Es sind teils Aussagesätze zu unterschiedlichsten Sachverhalten, teils Werturteile unterschiedlichster Bereiche, denen man unbefragt zustimmen kann oder sogar unbefragt zustimmen muss, wenn man „dazugehören“ will. Zweifel an jeder einzelnen dieser Aussagen würden heutigentags in Teilen einer zufällig besuchten Gesellschaft sofort zu einer Art Ausschließungsmechanismus führen.

Muß sich in unserer Gesellschaft alles der Kritik unterwerfen, oder braucht unsere Gesellschaft strafbewehrte Meinungstabus? Gibt es Bereiche, die jeder Kritik überhoben sein müssen?

Der gestern zitierte Immanuel Kant nennt als solche tabubewehrte Bereiche „Religion“, „Heiligkeit“, „Gesetzgebung“, „Majestät“. Er schreibt in einer Fußnote der Vorrede zur ersten Auflage seiner „Critik der reinen Vernunft“, verlegts Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781:

*) Man hört hin und wieder Klagen über Seichtigkeit der Denkungsart unserer Zeit und den Verfall gründlicher Wissenschaft. Allein ich sehe nicht, daß die, deren Grund gut gelegt ist, als Mathematik, Naturlehre etc., diesen Vorwurf im mindesten verdienen, sondern vielmehr den alten Ruhm der Gründlichkeit behaupten, in der letzteren aber sogar übertreffen. Eben derselbe Geist würde sich nun auch in anderen Arten von Erkenntniß wirksam beweisen, wäre nur allererst für die Berichtigung ihrer Principien gesorgt worden. In Ermangelung derselben sind Gleichgültigkeit und Zweifel und endlich strenge Kritik vielmehr Beweise einer gründlichen Denkungsart. Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.

Was ist davon zu halten? Kant bestreitet, daß es Aussagen geben könne, die von freier und öffentlicher Prüfung auszunehmen seien. Prüfung aller nur erdenklichen Aussagen, dies sei das eigentliche Geschäft der Kritik. Es könne schlechterdings keine Aussage geben, die sich nicht vor den Richterstuhl der Vernunft müsse ziehen lassen können.

Dies sei geradezu das Probstück, also das Merkmal einer wahrhaft freien, wahrhaft aufgeklärten Gesellschaft. Immanuel Kant lehnt also den Begriff des Meinungstabus, des Meinungsverbrechens vehement ab.

Alle Aussagen müssen auf den Prüfstand! An den Gesprächen über jede einzelne Aussage ist jederzeit freier, unbehinderter Widerstreit möglich und nötig. An der von Immanuel Kant geforderten gründlichen Denkungsart fehlt es bei uns in Europa heute vielfach und vielerorten.

Zitat:
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, Seite XII

Foto: „Es gibt keinen Planet B. Ändern wir die Politik. Nicht das Klima. Bündnis 90 Die Grünen.“ Aufnahme Schöneberg, 01.02.2016

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Der Mensch stehe höher als der Staat!

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Dez 102015
 

„Ewig soll der Mensch, dessen Kräfte der Staat nicht alle binden darf, höher stehen als der Staat; es ist also das schlimmste Zeichen, wenn man den Staat immer höher stellt als den Menschen.“

So schrieb es Ernst Moritz Arndt (1769-1860) in seinem Buch „Germanien und Europa“. Arndt band also den Staat an ein höheres Prinzip, den absoluten Eigenwert des Menschen. Nur ein demokratischer Volksstaat, nicht der Fürstenstaat seiner Zeit, konnte seinen Forderungen genügen. „Einen solchen Staat hat es noch nicht gegeben“, schreibt er an derselben Stelle.

Eine gemeinsame Sprache – in diesem Fall das Deutsche – musste Männern wie Arndt oder den Gebrüdern Grimm als unerlässliche Voraussetzung eines solchen Volksstaates erscheinen. Wie konnte sich in der Demokratie eine Gemeinsamkeit des Wollens bilden, wenn die Bürger einander nicht verstanden?

So ward Arndt ab 1802 etwa zum erbitterten Gegner Napoleons, als dieser die Völker in ganz Europa mit dem Schwert unter der französischen Fuchtel zu knechten versuchte.

Das mutige Eintreten Arndts für den noch nicht existierenden freien Staat freier Bürger kostete ihn sein Amt als Professor; der restaurativen Fürstenherrschaft war es ein Dorn im Auge, dass solch ein Freiheitsanwalt eine Professur für Geschichte in Bonn bekleidete.

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Arbeitet. Lernt. Tut was.

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Sep 022015
 

Als ich kürzlich mit einem Zug voller Flüchtlinge von Italien nach Deutschland reiste, sprach ich nicht nur mit den Flüchtlingen, sondern auch mit mitreisenden EU-Bürgern. Die Flüchtlinge – den Anweisungen gemäß ohne Papiere unterwegs – waren offensichtlich gut eingestellt und gut vernetzt, sie wissen, was sie in Germany zu sagen und zu erzählen haben. Die EU-Bürger bekannten sich alle hilfsbereit, anständig und respektvoll gegenüber den Flüchtlingen. „Aber das monatelange Rumsitzen schadet ihnen!“, so die einhellige Meinung des gesamten Abteils.

Ein deutscher Mitreisender erzählte von einem riesigen Flüchtlingslager in einem Staat des Nahen Ostens (wohl Libanon), das ein EU-Bürger – ein Bekannter des Reisegefährten – im Auftrag der UNO leite. Dieser Chef des Lagers habe etwas sehr Sinnvolles eingeführt, nämlich: Arbeit für alle, Arbeitspflicht für alle. Alle Bewohner des Lagers müssen oder sollen zumindest einer geregelten Beschäftigung nachgehen, z.B. dem Bau eines Wassergrabens, der Reinigung der Straßen und Plätze, der Müllbeseitigung, dem Garten- und Feldbau. Die Lagerverwaltung zahlt für jede Arbeitsstunde einen geringen Lohn, der dann  in den Läden ausgegeben werden kann.

Die Arbeitspflicht für alle Flüchtlinge hat sich als wohltuend erwiesen. Sie ist der Renner! Die Trübsal des Wartens hat ein Ende, Arbeit und Arbeitslohn schaffen Selbstwertgefühl, „wir können etwas“, dieses Gefühl trägt die Menschen. Die Kriminalität, eine fast unvermeidliche Begleiterscheinung jeder längeren Lagerexistenz, ging sehr deutlich zurück.

Ich bin überzeugt: Die Flüchtlinge in Deutschland sollen und müssten eigentlich auch in Deutschland dazu angehalten werden, von Tag 1 an zu arbeiten, zu lernen, zu ackern und sich zu plagen. Und wenn es nur Deutschlernen ist. Sie sollten von Anfang Pflichten für ihr Wohl und für das Gemeinwohl übernehmen. So kommt auch Struktur in den Alltag rein.

Zur Zeit werden sie wirklich in eine quälende Warteschleife hineingedrängt. Sie wissen zwar, dass praktisch niemand aus Deutschland abgeschoben wird, dass also eigentlich jeder, der hier in Deutschland eingetroffen ist, auch dauerhaft hier bleiben wird. Aber der Wartestatus, bis es endlich so weit ist, hat etwas Zermürbendes. Besser ist es, den erwachsenen Flüchtlingen, all den jungen, meist arbeitsfähigen, meist wohlgenährten Männern, die ja die übergroße Mehrheit der Flüchtlinge stellen, gleich zu sagen: Ihr seid freie Menschen. Hier lebt ihr in Sicherheit. Wir wissen, dass ihr uns irgendwas erzählen werdet. Eure phantasievollen Geschichten interessieren uns nicht allzu sehr. Sucht euch eine Arbeit, verdient euch den Lebensunterhalt selber. Lernt mindestens Deutsch. Arbeitet. Tut was.

 

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An einem letzten Sommermorgen, vor Sonnenaufgang

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Sep 012015
 

Dienstliches zwang mich heute, vor Tagesanbruch loszufahren. Ich schwang mich aufs Radl und nahm den Weg von Schöneberg durch den Park am Gleisdreieck. Noch war der erste Sonnenstrahl nicht hervorgebrochen.  Ein Tier raschelte unerkannt davon, dumpfe Feuchtigkeit lag lastend auf Laub, Bank und Stein. Und mitten hindurch – ein freier Mensch, das Rad des eigenen Willens steuernd, das Ich, einsam, und folglich ganz bei sich.

Schon gestern war von den Meteorologen angekündigt worden: dies wird der letzte heiße Sommertag des Jahres.

Wie sehnsüchtig erwarteten die Menschen im Altertum früher den ersten Strahl des Tages. Wie dankbar rühmten und priesen sie das Hervorbrechen des Lichtes! Fanfaren erklangen, Haydn und Beethoven wählten stets lautes Blech und vorzeichenloses C-dur, um diesen Schöpfungs-Augenblick hervorbrechen zu lassen.  Himmelstore knarrten prasselnd, Phöbus Räder rollten rasselnd, Propheten und Weissager bezogen sich auf den Moment, ehe die Perlenkette des Lichtes zuerst aufschimmerte. Das Fasten beginnt in genau diesem Augenblick im Monat des Fastens. Der freie Wille ergibt sich damit dem Hervortreten eines Größeren. Der freie Wille, das aus sich rollende Rad, erkennt, dass er aus einem größeren Willen entspringt, und er dankt und preist.

Als ich am Hoftor des Dienstgebers anlangte und den elektrischen Summer drückte, umgab uns schon der Dämmerschein des letzten Sommermorgens in diesem Jahr. Und dieser Tag, der letzte große heiße Tag dieses sehr großen Sommers, erhob beschwingt die Flügel.

 

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Europäisches Gegenglück: der Geist, das Wort, die Schönheit und Wahrheit

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Feb 252015
 

Wo alles sich durch Macht beweist
Und tauscht das Geld und tauscht die Ringe
Im Weingeruch, im Rausch der Dinge -:
Dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

Mon Dieu, c’est tellement beau! Kein anderes Buch hat mir in den letzten Wochen so viel Glück gegeben wie das Buch „Le principe“ von Jerôme Ferrari. Diese behutsame Annäherung, diese erfundene Zwiesprache eines offensichtlich gescheiterten, heute lebenden französischen Physikstudenten an den verstorbenen deutschen Physiker Werner Heisenberg ist der perfekte Gegenentwurf zu dem, was die verehrte Zentralmacht des Geldes nicht leistet, nicht leisten kann: das Verstehen-Wollen, das Anfragen, das An-die-Tür-Klopfen. Das Schreiben, das Hören, das Miteinander-Reden.

Was hat das mit Europa zu tun? Sehr viel! Denn Heisenberg versuchte nichts anderes, als was die Philosophen und Physiker Europas vor ihm seit Jahrtausenden, beginnend von den Zeiten eines Heraklit, Thales oder Platon wieder und wieder versucht hatten: ein einigendes Prinzip, eine leitende Idee, eine erklärende Formel all dessen zu finden, was sich in bunter Vielfalt darbietet.

Im philosophischen Bereich konkurrieren in Europa seit Jahrtausenden eher idealistische mit eher empiristischen Ansätzen.

„Das Wahre ist eins. Und das absolut Eine ist Geist. Die Materie ist für den Geist letztlich erkennbar. Der Geist kommt zu den Dingen selbst. Er trifft wahre Aussagen über Seiendes.“ So der Platon der Politeia, so der Hegel der Enzyklopädie.

„Nein! Das Wahre ist vieles. Und eine absolute Erkennntnis ohne Erkenntnis der mannigfaltigen Bedingtheiten des Erkennens ist unmöglich. Das Wahre ist eine Vielfalt von Einzelerkenntnissen. Das Ding an sich bleibt prinzipiell unerkennbar.“ Mindestens hierin kommen Aristoteles und Kant überein.

Heisenberg wiederum gelangte in Abhebung von Einsteins Relativitätstheorie zur Überzeugung, dass die Materie im subatomaren Bereich, also bei den sogenannten Quanten, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht mehr eindeutig, nicht mehr unabhängig vom Standpunkt des Messenden zu bestimmen seien. Im letzten, im kleinsten Bereich herrsche also ein „Unbestimmtheitsprinzip“, eine „Unschärferelation“, die nicht mehr hintergehbar seien. Das letzte gründende Prinzip der Physik wäre also nicht das Eine – sondern eine Relation zwischen dem Zweierlei aus Impuls und Masse, wobei weder Impuls noch Masse außerhalb dieser Relation existierten.

Etwas Übergreifendes, etwa Zusammenführendes vermochte Heisenberg noch im Erlebnis des Schönen, in der Musik etwa, im Erklingen etwa der Bachschen d-moll-Chaconne für Violine solo, im Anblick des Walchensees zu erkennen. Das Ding an sich, die unverhüllte Wahrheit bliebe unabschließbar, bliebe in der gegebenen langen oder kurzen Zeit unerfindlich.

Man könnte sagen: Lang oder kurz ist die Zeit, es ereignet sich allenfalls das Wahre.

Zu „erkennen“? Nein, das Letzte, den tiefsten Grund – so schildert es mehrfach Ferrari – den konnte er nicht mehr erkennen. Den kann er nur „heraushören“, oder „hineinhören“.

Ich höre jetzt den ungeduldigen Zwischenruf:
„Schluss damit! Einheit oder Vielfalt? Platon oder Aristoteles? Kant oder Hegel? Albert Einstein oder Werner Heisenberg? Wer hat denn nun letztlich recht? Es können doch nicht beide recht haben!“

Wenn man nur lange genug forsche, dann müsse doch auch einmal die wissenschaftliche Wahrheit ein für alle Mal hervortreten, sagt unser Gegenüber. So dachte auch ich als Kind, so denken heute noch viele. Und doch deutet bis heute nichts darauf hin. Im Gegenteil, alles deutet darauf hin, dass mit jeder neuen Erkenntnis die Unabschließbarkeit des Erkennens sich deutlicher offenbart.

Genau dieses Hin und Her zwischen Alternativen, diese unabgeschlossene Bewegtheit und Beweglichkeit ist es, die so etwas wie Freiheit eröffnet. Wenn es so ist, dass am Grund der Materie keine letzte Bestimmtheit herrscht, dann ist genau diese Unbestimmtheit auch eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Freiheit gedacht werden kann.

Und der bewusste Träger dieser Freiheit ist – was? Oder wer? Die Antwort lautet: Im einen Fall ist es Werner Heisenberg, im anderen Fall ist es Jérôme Ferrari. Oder der Leser Heisenbergs, der Leser Ferraris.

Inbild und Inhaber dieser Freiheit kann sein oder ist überhaupt und jederzeit, so er dies will – der Mensch: das Du, das Ich, das Wir. Alle. Il maggior dono di Dio all’uomo è la libertà.

Ich erlebte das öffentliche Gespräch über Ferraris „Principe“, zu dem die Französische Botschaft in Berlin eingeladen hatte, als rundweg gelungenes europäisches Miteinander über Sprachengrenzen hinweg, als Gegenglück, als lustvolles Eintauchen in den Kern des europäischen Freiheitsdenkens.

Und die Reaktion darauf waren – Tränen. Was ist ist inopportun oder schlimm an solchen Tränen?

Der Dichter sagte doch: Lasst mich weinen. Das ist keine Schande. Weinende Männer sind gut.

Zitat:
Jérôme Ferrari, Le principe. Roman. Actes Sud, Paris, mars 2015, hier bsd. S. 75 sowie S. 3 (handschriftliche Widmung des Autors)

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Lass deine Stimme laut erschallen …

 Antike, Freiheit, Freude, Singen  Kommentare deaktiviert für Lass deine Stimme laut erschallen …
Nov 112014
 

Theater Pamukkale 2013-07-23 12.49.30

[…] denn du sprichst und singst ja gern in Gärten, in Sälen, in Hallen, in Tempeln und Theatern ohne Mikrophon; gegen den Wind, mit dem Wind, gegen das Meeresrauschen, mit dem Meeresrauschen, mit und ohne Murmeln im Mund. So hast du  vor einem Jahr im Sommer im jahrtausendealten Theater von Hierapolis in Kappadokien einige griechische Verse von Sophokles laut ins Rund hinab rezitiert, und in diesem Jahr im Sommer sangest du  im Garten eines Kreuzberger Pflege- und Altenheims in der Wilhelmstraße vor den Alten, den Uralten ein deutsches Volkslied von Felix Mendelssohn Bartholdy laut und tönend   – ohne Mikrophon, ohne technische Hilfsmittel, ohne Subwoofer und Bass-Booster, gehört von allen, die dies hören wollten, gestützt allein auf die Kraft des Leibes, des Atems, der Stimme.

Die freie Stimme, die singende Stimme, die nur durch Atem, Leib und Wind getragene Stimme – welche Freiheit, o welche Lust!

Lass deine Stimme laut erschallen!

Bild: ein Blick in das Theater der antiken griechischen Stadt Hierapolis im heute türkischen Pamukkale, August 2013

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… чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам … Hat uns Tschaadajew noch etwas zu sagen?

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Freiheit, Lenin, Russisches  Kommentare deaktiviert für … чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам … Hat uns Tschaadajew noch etwas zu sagen?
Sep 062014
 

Engels 2014-08-10 09.18.19

„Мы жили и сейчас еще живем для того, чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам.“

So schrieb es Pjotr Jakovlevich Tschaadajev, verdienter Offizier im Vaterländischen Krieg. Als leidenschaftlicher russischer Patriot und spitzzüngiger Polemiker  ging er in seinem berühmten ersten philosophischen Brief, erschienen 1836 in der Moskauer Zeitschrift Teleskop, sehr hart ins Gericht mit seinem Vaterland, für das er Leib und Leben riskiert hatte. Er vermisste in der nachnapoleonischen russischen Gesellschaft seiner Zeit den Willen zur Modernisierung; Russland, so führte er aus, habe den Freiheitsimpuls, zu dem es durch die Niederringung Napoleons und durch die Abschüttelung des französischen Jochs einen bedeutenden Beitrag geleistet hatte, nicht genutzt.

Wir erinnern uns: 3 Millionen Menschen in Europa hatten in den von Napoleon entfesselten Kriegen ihr Leben verloren; wozu waren sie gestorben, wenn die europäischen Völker, darunter auch die Russen, Polen und Deutschen, doch wieder in die Fürstenherrschaft und Despotie zurückfielen? Wozu der ganze „Freiheitskampf“, wenn die Fürsten Europas nach Willkürart doch wieder schalteten und walteten, wie sie wollten? So fragten Tschaadajew und seine „Westler“, aber auch die geistesverwandten „Göttinger Sieben“, darunter die Brüder Grimm, oder auch Heinrich Heine in Deutschland.

Napoleon hatte Europa mit Waffengewalt und willkürlich losgetretenen Angriffskriegen zu einen gesucht und war 1812 in Russland endgültig niedergerungen worden; gut 100 Jahre später, ab Oktober 1917  folgten ihm in den Fußtapfen  Lenin und die Bolschewiki, die ebenfalls mit Waffengewalt ganz Europa und dann die ganze Welt ins ewige Reich der Freiheit führen wollten; ihr sogenannter Befreiungskampf brachte ab 1917 erneut Blut, erneut millionenfaches Gemetzel  und Tränen über Russland und die eine, die östliche  Hälfte Europas einschließlich Russlands, der Ukraine, Polens, Ungarns, Estlands, Lettlands und Litauens; die Unfreiheit, die Lenin, Feliks Dzierżyński, Stalin, Lawrenti Berija und viele andere mehr von Russland aus über den ganzen Kontinent ab 1917 auszubreiten suchten, dieses von Russland ausgehende kommunistisch-sowjetische Joch wurde erst 1989/1990 endgültig abgeschüttelt.

Ab 1933 versuchte erneut eine diktatorische Gewalt, den ganzen Kontinent – diesmal von Deutschland aus – mit Waffengewalt ins 1000-jährige Reich der Freiheit zu führen. Auch dieser nach Napoleon und Lenin/Stalin dritte, auf Lüge und Gewalt gestützte Versuch der gewaltsamen Einigung Europas durch das Schwert versank in Terror, Blut und Gemetzel. Nach zwölf Jahren, 1945 war das deutsche Joch von den Völkern Europas abgeschüttelt.

Die kommunistische Gewaltherrschaft, die Lenin und Stalin ab 1917 über einen Teil Europas errichtet hatten, ging hingegen erst 1989/1990 zu Ende. Doch das Werk der Befreiung ist damit nicht vollendet! In allen vom Kommunismus befreiten Staaten, darunter Russland, Ukraine, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Tschechien galt und gilt es, die Trümmer und Hinterlassenschaften der jahrzehntelangen, von Russland ausgehenden, als „russisch“ empfundenen kommunistischen Diktatur, die auf Lüge und Gewalt gestützt war,  aufzuarbeiten. Kein Staat – selbst das seit 1989 von Marx, Lenin, Dzierżyński, Stalin befreite Russland – ist gefeit dagegen, wieder in Unfreiheit und Terror zurückzufallen.

Tschaadajew wurde 1836 für seine literarischen Beiträge, für seine satirisch-polemische Beleidigung des „heiligen“ Russentums  für verrückt erklärt und unter psychiatrische Beobachtung gestellt.  Über Tschaadajews  Diskussionspartner, die Dekabristen, ließ Zar Nikolaus Hinrichtungen, Verbannung und Internierung verhängen. Sie kamen nicht so gnädig davon. Straflager, Verbannung, Publikationsverbote, Einweisung in die Psychiatrie, das sind alles Methoden, die in Russland auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblicken.

Was hat uns Tschaadajew zu sagen? Hat er uns überhaupt noch etwas zu sagen?

„Мы жили и сейчас еще живем для того, чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам.“
„Infine siamo vissuti e viviamo per servire da chissà quale grande lezione per i posteri lontani.“
„Wir haben gelebt und leben noch dafür, um den fernen Nachkommen irgendeine großartige Lehre zu erteilen.“

Was ist die „großartige Lehre“ der Russen des 19. Jahrhunderts?

Ich würde sagen: Es ist die Einsicht, dass der Freiheitsimpuls überall zu verteidigen und zu verstetigen ist. Napoleon wurde nicht deswegen abgeschüttelt, damit Zar Nikolaus oder die europäischen Fürsten der Karlsbader Beschlüsse ein mindestens ebenso gewalttätiges Regime installieren konnten.  Die europäischen Freiheitskämpfer der nachnapoleonischen Zeit, die oftmals Verse von Friedrich Schiller oder Puschkin, dem Jugendfreund Tschaadajews, auf den Lippen geführt hatten, sahen sich bitter enttäuscht durch die Oligarchen und Autokraten, die steinreichen Fürsten, Zaren, Präsidenten und Speichellecker der damaligen Zeit.

Tschaadajew verlangte – statt serviler Speichelleckerei und Prostration vor dem Zaren – Reformen und Modernisierung von Russland. Er wollte Russland für die Freiheitsideen des Westens öffnen. Ihm behagte das Dunkelmännertum, das bequeme Bündnis zwischen russischer Kirche und russischer Staatsmacht, zwischen Thron und Altar, symbolisiert im Schutzherrn und Oberhaupt aller Reußen, dem Zaren, nicht.

Tschaadajew musste erkennen: Die Unfreiheit, die mit Unterdrückung, Waffengewalt und Terror arbeitet, hört nicht dadurch auf, dass die eine Gewaltherrschaft einfach durch eine andere ersetzt wird.

Insofern – wir sind gemeint! Wir sind auch einige der Nachkommen, für die die Westler im Russland des 19. Jahrhunderts kämpften, litten und starben.

Bild: „Der Pole Feliks Dzierżyński, der Georgier Stalin, der Russe Lenin sind nicht mehr da!“ Ihre Denkmäler sind aus dem Stadtbild Moskaus verschwunden.  Aber Friedrich Engels, der deutsche Kapitalist, hat seinen festen Platz in Moskau behalten und schaut sich seelenruhig die ihm gegenüberliegende Christus-Erlöser-Kirche an. Aufnahme des reisenden Bloggers vom 10.08.2014

 Posted by at 15:26

Turgenjews Liebe zur Wahrheit, zur Freiheit, zum Guten

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Aug 242014
 

Turgenjew 2014-08-10 09.08.38

Die Literatur ist kein Echo, sie spricht auf ihre Art über das Leben und das Lebensdrama. Turgenjew hat vielfach die Liebe der russischen Menschen zur Wahrheit, zur Freiheit und zum Guten beschrieben.“ So schrieb der Chemiker, Rotarmist, Journalist, Frontkämpfer, Kommunist Wassili Grossman, 1905 in Berditschew in der Ukraine geboren, im Jahr 1962 in seinem Brief an den Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita S. Chruschtschow.

Grossman – seiner  Herkunft nach ein Russe, ein Jude, ein Ukrainer – war wie die allermeisten anderen Ukrainer, die allermeisten anderen Juden, die allermeisten anderen Russen vom tiefen Glauben an die Wahrheit, die Freiheit, an das Gute beseelt. In den Schrecken der Geschichte des 20. Jahrhunderts versuchte er, Fingerzeige eines Gottes zu erkunden, an den er keineswegs mehr glaubte. Er sprach deshalb lieber als von dem nichtexistenten Gott des Judentums von „Schicksal“, und „Leben und Schicksal“ ist denn auch der Titel seines großen, riesenhaften Romans, in dem er den deutsch-sowjetischen Krieg einfing. Der Roman wurde 1961 beschlagnahmt, 1962 versuchte der Autor vergeblich, für das beschlagnahmte Manuskript ein gutes Wort bei Chruschtschow einzulegen. 1964 starb Grossman, 1980 konnte das Buch erstmals auf Russisch in der Schweiz erscheinen.

Es ist ein Epos, das Zeugnis von der tiefen Liebe Grossmans zur Wahrheit, der Liebe zur Freiheit des Wortes, der Liebe zum Menschen ablegt. Es sind jene Vorzüge, die Grossman auch an Iwan Turgenjew rühmte.

Gerade in schwierigen Zeiten wie den unsrigen kann uns die Rückbesinnung auf die überragenden Leuchttürme der russischen, ukrainischen und jüdischen Geisteswelt ein Anlass sein, um Atem zu schöpfen und uns zeiten- und völkerüberspannende Werte ins Gedächtnis zu rufen.

Quelle:

Wassili Grossman: Leben und Schicksal. Roman. Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfman, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke. Mit je einem Nachwort versehen von Jochen Hellbeck und Wladimir Woinowitsch. List Taschenbuch, Berlin 2008, hier bsd. das Zitat aus dem Brief an N. Chruschtschow, siehe S. 1056

Bild:

Das Haus, in dem Iwan Turgenjew Kindheit und Jugend verbrachte, gelegen in der Ostoschenka-Straße 37, Moskau. Aufnahme des hier schreibenden Kreuzberger Bloggers vom 10.08.2014

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Weißt du auch, was du glaubst?

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Aug 012014
 

 

 

Ahornbaum 2014-08-01 08.19.12

 

Der gestrige Beitrag über den Ahornbaum BBB 000241  im Prinzenbad Kreuzberg erfuhr unterschiedlichstes Echo:

„Woher willst du wissen, dass es wirklich dieser Ahorn war, an dem du früher, vor 10 Jahren, Klimmzüge machtest?“, fragte ein Leser.

Antwort: Ich glaube mich zu erinnern, an genau diesem einen Ast in etwa 2,50 m Höhe mit der charakteristischen Krümmung  Klimmzüge gemacht zu haben. Einen Beweis außerhalb der Erinnerung kann ich nicht anbieten.

Ich bitte euch darum, dass ihr mir glaubt. Glauben heißt: der Erinnerung eines anderen, der dir davon erzählt, vertrauen.

„Bäume wachsen schneller als Menschen, wie du richtig sagst. Aber Menschen springen höher als Bäume“, wandte ein anderer ein.

Antwort: Richtig, ein Trost! Wir Menschen können uns vom Boden ablösen; wir sind frei – im Gegensatz zu Bäumen.

„Willst du immer noch wachsen? Bist du nicht schon groß genug?“, schalt mich ein dritter.

Antwort: Nein, ich will nicht mehr wachsen. Ich bescheide mich. Bäume hingegen scheinen viel länger zu wachsen als Menschen.

„Vielleicht fehlt dir der Mut, so hoch zu springen wie früher“, so der Zweifel eines vierten.

Antwort: Das kann ich nicht ausschließen. Möglicherweise ist mir das Risiko zu hoch, nach dem Springen unglücklich aufzuprallen. Früher war ich wagemutiger. Es fehlt bei dieser Aufgabe das letzte Zutrauen in die eigene Kraft, es fehlt auch an den ermunternden Worten von Zuschauern.

Wer weiß, vielleicht würde das Wagnis gelingen, wenn einer dem Morgensportler zuriefe: „Traue Dich, du schaffst es. Ich traue es dir zu.“

Im Zuspruch des Zutrauens wachsen wir oft über uns selbst hinaus, wir wagen den Sprung in die Freiheit des Gelingens. Ohne diesen Zuspruch sammeln wir nicht die berühmten ungeahnten Kräfte. Wir verzagen.

Glauben, Vertrauen in die eigene Freiheit, Zutrauen in die Erinnerung eines anderen, Vertrauen in die erzählte Vergangenheit – das sind die Zutaten, aus denen sich allmählich eine Erinnerungsgemeinschaft bildet.

Wie dem auch sei: Beim Betrachten des herrlichen Ahornbaumes erfasste mich heute morgen ein großes Erstaunen und eine große Freude über den prachtvollen Wuchs dieses kleinen Naturwunders, dessen Werden, Gedeihen und Reifen ich seit vielen Jahren verfolgen darf.

Stiller, gütiger Ahorn BBB 000241, Du breitest über uns deine Arme aus. Du erduldest gnädig unsere Versuche, die Freiheit des Menschen zu erfahren. Danke, Ahorn BBB 000241.

Bild: Der Ahorn BBB 000241 im Prinzenbad, Aufnahme von heute, 08.19 Uhr.

 Posted by at 18:17
Jul 182014
 

Der seit 22. Februar 2014 amtierende italienische Ministerpräsident Matteo Renzi verwahrt sich gegen Belehrungsversuche des Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann mit den Worten: „L’Europa non appartiene ai tedeschi –  Europa gehört nicht den Deutschen“.  So zitiert ihn heute, am 18.07.2014,  die angesehene italienische Tageszeitung La Repubblica auf S. 15.

Zugleich wird eine Steuergutschrift von 80.- Euro für Bezieher niedriger Einkommen in Italien durch den Wirtschaftsminister Carlo Padoan  als dauerhafte „strukturelle Maßnahme“ erklärt – „dando maggiore certezza ai cittadini“.

Die Entlastung von 80.- für Steuerzahler soll den erhofften Wirtschaftsaufschwung befördern – und zugleich sagen die neuesten Vorhersagen der italienischen  Wirtschaftsinstitute ein Wachstum von nur 0,0 – 0,5% voraus (La Repubblica heute, S. 14).  Viel zu wenig, um die lastende Staatsschuld Italiens zurückzufahren oder die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen!

Vor wenigen Tagen forderte der frühere Bundespräsident und habilitierte Staatsrechtler Roman Herzog „Abwehrrechte“ der Mitgliedsstaaten gegenüber der Europäischen Union. Er artikuliert damit ein tiefes Misstrauen gegenüber den EU-Institutionen, die sich immer mehr in die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Mitgliedsstaaten einmischen. Dazu passt, dass neuerdings die EU-Kommission ganz offen und trockenen Auges als „mächtige europäische Gesetzgebungsbehörde“ bezeichnet wird, so etwa in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2014 auf S. 1.  Eine Behörde als gesetzgebende Gewalt – unerhört! Bedenklich: eine mächtige Behörde, die stillschweigend zur einflussreichsten legislativen Gewalt der EU-Mitgliedsstaaten geworden ist!

Eine Behörde, die an die Stelle der herkömmlichen legislativen Gewalt, nämlich der Parlamente getreten ist! Hier stellt sich in aller Dringlichkeit die Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimität der gesamten EU. Hier stellt sich die brennende Frage, ob Europarecht Bundesrecht bricht, und ob nicht schleichend die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes in eine Art EU-Superstaat überführt wird, der von einer Behörde geführt wird, die zugleich legislative und exekutive Befugnisse hat.  Ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der europäischen Verfassungen! Was wohl Montesquieu dazu sagen würde? Ich glaube, er würde sich im Grabe umdrehen. Das Zusammenfallen von legislativer und exekutiver Gewalt, wie es die EU-Kommission verkörpert, wäre für ihn das Ende der Freiheit. Er schreibt in Band 1 seines Geistes der Gesetze: „Lorsque, dans la même personne ou dans le même Corps de magistrature, la puissance législative est réunie à la puissance exécutrice, il n’y a point de liberté“, also zu deutsch etwa: „Wenn in derselben Person oder derselben Behörde die gesetzgebende mit der ausführenden Gewalt vereinigt ist, gibt es keine Freiheit.“

Ich denke, sowohl Matteo Renzi als auch Roman Herzog verdienen Gehör. Sie drücken für alle fassbar aus, dass das ganze Gefüge der EU in eine strukturelle Schieflage geraten ist. Man sollte sie nicht vorschnell als Europafeinde abkanzeln. Sie legen den Finger auf die Wunde: Die Staaten bzw. die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten haben offenkundig nicht mehr das Gefühl, Herr im eigenen Haus zu sein. Es droht unter dem jetzigen EU-Regime nichts Geringeres als das Ende der politischen Freiheit in den Mitgliedsstaaten.

Und wir einfachen europäischen Bürgerinnen und Bürger ohne politischen Einfluss und ohne politisches Amt? Wir haben mehrheitlich zunehmend das Gefühl, dass da eine europäische Maschinerie ohne ausreichende Legitimität über unsere Köpfe hinweg unser Schicksal bestimmt, dass sich also eine Art EU-Fürstenherrschaft etabliert hat – wobei die Steuerleute, die europäischen Fürsten in der Maschinerie selber uneinig sind, weil das EU-Regelwerk sie immer wieder in nahezu unauflösbare Zielkonflikte stürzt.

Einer dieser Zielkonflikte, aber bei weitem nicht der einzige, ist die absolute Vorrangstellung der Stabilität des Euro gegenüber allen anderen Zielen der Wirtschaftspolitik – also etwa gegenüber dem Ziel der Vollbeschäftigung oder des Wirtschaftswachstums.

Ich werte sowohl Renzis Protest gegen die – wohl eher so wahrgenommene als echte – deutsche Bevormundung als auch Herzogs Mahnruf gegen die Selbstherrlichkeit der EU-Institutionen als deutliche Signale eines tiefen Unbehagens gegenüber der gesamten Europäischen Union in ihrer jetzigen Verfasstheit.

Quellen:

Daniel Brössler und Cerstin Gammelin: „Juncker startet machtbewusst“, Süddeutsche Zeitung, 16. Juli 2014, Seite 1
Roberto Petrini: „Allarme Padoan: la ripresa stenta“, La Repubblica, 18 luglio 2014, Seite 14
Andrea Tarquini: „La Ue chiede più riforme non meno regole ma noi tedeschi ci fidiamo delle promesse di Roma“, Intervista con Wolfgang Schäuble, La Repubblica, 18 luglio 2014, Seite 15

http://fr.wikisource.org/wiki/Page:Montesquieu_-_Esprit_des_Lois_-_Tome_1.djvu/318

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Vergeben in Freiheit

 Freiheit, Kain, LXX, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Vergeben in Freiheit
Jun 112014
 

An Pfingsten, dem „lieblichen Fest“  versuchte ich einige Seelen für einen Besuch bei Kain zu gewinnen. Und bei mir vor der Kreuzberger Haustür tobte zeitgleich der Karneval der Kulturen mit offiziell 740.000 Besucher*innen. Beste Gelegenheiten!

Ein glühender Hauch hing über der Stadt Berlin, es war das heißeste Pfingstfest seit Beginn der Aufzeichnungen. 

 

Ich wartete bis 15.58 Uhr und murmelte der steinernen, geduldigen Königin Luise ein paar Verslein aus dem Purgatorio und aus dem Faust II zu. 

 

Das Warten in der sengenden Hitze Arkadiens half, denn ich fand dadurch das ganz große entscheidende Thema heraus, nämlich die Frage des Umgangs mit Schuld und Scheitern, auch die Frage des Verzeihens.

μειζων η αιτια μου του αφεθηναι με.

„Meine Schuld ist zu groß, als dass sie mir vergeben werden könnte.“

So sagte es laut der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, Kain, der Brudermörder, nachdem Gott ihm auf die Schliche gekommen war. Kain erkannte die Schwere seiner Schuld. Sie schien ihm untragbar und unverzeihlich.

Was mochte Königin Luise wohl zum Kains-Thema denken? Für Königin Luise gab es ja den Vertreter des Bösen schlechthin, das moralische Scheusal, den Kain in moderner Gestalt. Sie begegnete ihm am 6. Juli 1807 in Tilsit. Zweifellos änderte sie bei dieser persönlichen Begegnung ihr vorgefasstes Bild vom Menschen Napoleon. Sie vermenschlichte ihn gewissermaßen, sie entdämonisierte ihn, wie wir zweifelsfrei aus ihren Äußerungen schließen dürfen.   Wäre sie bereit gewesen ihm zu verzeihen?

 

Als krönenden Schlussstein des Gedankenganges erreichte ich schließlich das Evangelium nach Johannes von Pfingsten:

 ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας ἀφέωνται αὐτοῖς, ἄν τινων κρατῆτε κεκράτηνται.

„Nehmt den heiligen Hauch. Wenn ihr die Verfehlungen irgendwelcher vergebt, sollen sie ihnen vergeben werden. Wenn ihr sie verfestigt, sollen sie verfestigt sein.“

 

Die Nachfolger Jesu haben – so die Ansage des Johannes in Joh 20, 21-23 – die Gabe und den Auftrag, Sünden zu vergeben.  

Verzeihung der Schuld, das ist also laut Jesus keine Gnade, kein Wunder, keine Leistung der Flüsse Lethe und Eunoe, keine Leistung des Vergessens (Lethe) oder des Wohlwollens (Eunoe), sie ist keine überpersönliche Einwirkung der arkadischen Natur, wie das Goethe zu Beginn des Faust II, wie es Dantes Matelda in Purgatorio XXVIII verkündet, sondern eine persönliche Erfahrung  der vom Geist angeleiteten Begegnung zwischen Menschen in Fleisch und Blut.

Diese Verzeihung erfolgt aus der Freiheit des Entscheidens. Sie ist weder an einen Ritus und noch viel weniger an ein bestimmtes Gottesbild geknüpft. Sie ist an den Geist und an den Menschen geknüpft. Sie ist zweifellos an sprachliches Handeln geknüpft. Sie vollzieht sich im Medium des in Freiheit gesprochenen Wortes.

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Il maggior dono europeo: die Freiheit

 Dante, Europäische Union, Freiheit, Gouvernance économique, Subsidiarität  Kommentare deaktiviert für Il maggior dono europeo: die Freiheit
Mai 262014
 

 

Sicherheit und ein stabiler Euro. So will ich Europa.“ Mit dem großen Versprechen auf Sicherheit traten sie an; Währung, das Geld, die Wirtschaft, die umfassende Sicherheitsverheißung der zentraleuropäisch lenkenden, zentraleuropäisch ausgleichenden Politik – das waren im Grunde die tragenden Aussagen, mit denen viele Parteien die Europawahlen bestritten und auch mehr oder minder erfolgreich ihren guten Platz in der Wählergunst behaupteten. Wir übersetzen:  „Wenn es dem Geld gut geht, wenn der Euro stabil ist, dann geht es auch den Menschen gut. Dann herrscht Sicherheit. Ohne Sorge seid ohne Sorge!“

Lo maggior don fu de la volontà la libertate – das größte Geschenk war die Freiheit des Willens“. So Dante Alighieri, in unseren Ohren heute der Europa-Dichter par excellence,  im 5. Gesang des Paradiso seiner Divina Commedia. Für einen überzeugten Europäer wie Dante konnte die Steuerung des Geschehens nicht durch einen einzigen, zentralen Regelungsmechanismus erfolgen; weder der Papst noch der Kaiser durften beanspruchen, alle Zügel in der Hand zu halten.

Vielmehr sah Dante die letzte Verantwortung beim einzelnen Menschen und seiner Freiheit. Die Freiheit jedes Christenmenschen sah Dante als größtes Geschenk Gottes an den Menschen. Martin Luther ist ihm hierin gefolgt und schrieb darüber sogar eine ganze Schrift.

Freiheit zuerst! „Die Freiheit ist das Wichtigste„,  diese Kernaussage Willy Brandts bzw. Dante Alighieris scheint so manche europäische Wähler vom Stabilitätsanker und vom Sicherheitsversprechen der soliden und zentral bewährten europäischen Parteien abwendig gemacht zu haben.

Das gleiche Bild bietet auch der Volksentscheid Berlin. Die Wählerinnen und Wähler wollen den zentralen Versprechungen der Politik offenbar nicht folgen. „Wir wollen gar nicht, dass die obrigkeitliche Politik für uns Wohnungen auf dem Tempelhofer Feld der Freiheit baut. Wir Bürger sollen und wollen selber bauen, und zwar da, wo wir dies wollen.“

Das europäische Wahlergebnis ist zweifellos ein Votum für mehr Dezentralisierung, für mehr Subsidiarität, für weniger zentrale Wirtschaftslenkung, für mehr Marktwirtschaft und weniger zentralistische Staatswirtschaft in Europa.

Die europäischen Wähler holen sich ihre Freiheit zurück.

Die Europäische Union muss, wenn sie verlorenes Vertrauen beim Menschen zurückgewinnen will, die Einsichten eines Dante Alighieri, eines Willy Brandt oder eines Martin Luther beherzigen: Sie muss der Freiheit des Menschen mehr Vertrauen schenken. Sie muss weniger zentral regeln. Sie muss Europa neu denken und Europa neu erzählen.

„Erkenne den Wert der Freiheit!“ Darin liegt der hohe Wert des Votums der europäischen Wähler – l’alto valor del voto, wie dies Dante nennen würde.

Lies selbst im 5. Gesang des Paradiso:

«Lo maggior don che Dio per sua larghezza
fesse creando, e a la sua bontate
più conformato, e quel ch’e‘ più apprezza,
fu de la volontà la libertate;
di che le creature intelligenti,
e tutte e sole, fuoro e son dotate.
Or ti parrà, se tu quinci argomenti,
l’alto valor del voto, s’è sì fatto
che Dio consenta quando tu consenti; […]

via Divina Commedia di Dante (TESTO INTEGRALE).

Bild: Aufnahme aus der Sicht des Willy-Brandt-Hauses vom 29.04.2014, Kreuzberg, Berlin

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