„Да и мы тоже.“ Dostojewskis universale Einsicht

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Jan 042018
 

В большинстве случаев люди, даже злодеи, гораздо наивнее и простодушнее, чем мы вообще о них заключаем. Да и мы тоже.

Endlose, quälende Hustenanfälle in der Nacht treiben den schlaflos Schreibenden immer wieder hoch. Dieser Husten, dieser Schleim, ach all dieses Ungemach, das aus dem Inneren des eigenen Leibes hervorzuquillt! Wer oder was bringt hier Linderung?

Der Schreibende befindet sich in Russland, auf dem Land, in einer Datschensiedlung hart am Ufer der kraftvoll dahinströmenden Moskwa. Moskwa, Fluss des Schicksals, Fluss des Lebens, der die Jahrzehnte verbindet!

Hin und her streifen die Augen des Schreibenden über die Buchrücken, die in hundertjährigen Holzregalen vor ihm aufgereiht sind. Ich ziehe dieses und jenes Buch hervor, suchend irren meine Augen über die Seiten hin. Da – endlich ein Buch, dem ich verfallen war, das ich als Jugendlicher schon durchlas, dem ich dann erneut in Niederbayern nächtens begegnete beim Tode eines Onkels. Und auch damals las ich mich darin fest. Sollte jetzt der Augenblick gekommen sein, das Buch erneut vorzunehmen? Genau da, wo ich jetzt bin, genau jetzt, da ich an unstillbarem Husten leide?

Ich ziehe das Buch hervor, öffne die ersten Seiten. Da ist sie schon, die Stelle, bei der ich hineinspringe in diesen Fluss des Lesens! Da!

Da, da – Да и мы тоже, „… ja, und wir sogar auch…“ So beschließt Dostojewski das erste Kapitel seines Romans von den drei Brüdern. Ja, wir sind so auch, wir können so auch sein, wie die da, die Schlechten, die Verworfenen. Tröstlich stärkende Einsicht! Sie kann sogar den Husten stillen. Dieses Da, dieses Да eröffnet die Pforten zum Du! Ja, so könntest du auch sein! Denke daran, ehe du dich schlafen legst. Du bist wahrscheinlich auch ein Teil der Mehrheit, erkenne, dass Du einer aus der Mehrheit bist!

Wisse: In der Mehrheit der Fälle sind die Menschen, auch die niederträchtigen, viel unbefangener, zutraulicher als wir gemeinhin von ihnen annehmen. Ja sogar wir auch.

Dostojewski schreibt es so:

В большинстве случаев люди, даже злодеи, гораздо наивнее и простодушнее, чем мы вообще о них заключаем. Да и мы тоже.

 

Bild: Der Fluss Moskwa, am heutigen Tag. Bei Nikolina Gora

 Posted by at 20:31

… ktoś kaszle, płacze, ktoś złorzeczy – Was bleibt von der gerühmten Hochkultur?

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Jan 172016
 

Beatrice:
„Ktoś kaszle, płacze, ktoś złorzeczy!“
Und nun, Kulturmensch, o du Freund höherer Kultur, du geschworener Europäer!
Hörst es nicht:
Da weint jemand, da hustet jemand, da flucht jemand!
Und, Wandrer, eingefleischter Europäer,
was bleibt nachert von aichener herrlichen Hochkultur?

Der Wandrer:
Sprich mir nicht von höherer Kultur und höherer Bildung!
Auch wenn ich alle Verse Dantes und Goethes auswendig könnte,
auch wenn ich jeden Tag einen Festtag mit Mickiewicz und Miłosz zusammen feierte,
und wenn ich jubelte jeden Tag
mit Johann Sebastian Bachs Ciacona und mit il Davide di Michelangelo,
und hörte es aber nicht,
wie nebenan jemand hustet und auf den Husten flucht,
wie nebenan jemand weint,
und wenn ich unsern kranken Nachbar auch nicht besuchte,
so wäre ich nur ein Haufen Wisssen,
sarei un’accozzaglia di regole,
una farragine della cultura e del sapere,
ich wäre Gerümpel, Geröll, ein Gelump europäischer Regeln,
ineinandergefahren, rettungslos, echolos.

 Posted by at 14:43
Apr 292011
 

„Eine Zeitlang hat er uns vorgespielt, Krebs oder Tuberkulose zu haben. Er lief in München herum, mit dem Gesicht eines Mannes, der wußte, daß er sterben muß, aber das Beste daraus machen will. Er tat immer so, als würde er Blut in sein Taschentuch husten, aber das Tuch blieb weiß.“

So berichtete es uns ein Schulkamerad über einen Mitschüler, der später ein sehr bekannter Mensch in der Bundesrepublik Deutschland wurde.

In kaum einem Satz ist das Wesen des bundesrepublikanischen Terrorismus der 70er und 80er Jahre besser gefasst.

Diese Fabel vom eingebildeten Blutspucker kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn kluge Zeitgenossen mir etwas vom „mörderischen Charakter unseres Systems“ erzählen, vom bevorstehenden Untergang unserer Ökosysteme, vom unausweichlichen Ende des Kapitalismus.

Es gibt Unheilsapostel, die uns etwas weismachen oder besser „schwarzmachen“ wollen, was so einfach nicht stimmt.

Jedes dritte Kind in Berlin lebt in Armut. Berlin ist die Hauptstadt der Kinderarmut.“ Ein großer, ein unausrottbarer Unsinn, eine Torheit, die auch in den besten Parteien unermüdlich verbreitet wird!

Ich sage: Es gibt in Berlin keine Armut. Dann müsste ich sie ja sehen, da ich seit vielen Jahren in einem von Armut geprägten Stadtbezirk lebe und tagtäglich mit genau diesen Kindern rede, die angeblich in Armut leben.

Die eingebildeten Blutspucker! Sie spucken Blut ins Taschentuch, aber es bleibt weiß.

Zitat:
Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex. Hoffmann und Campe, Hamburg 1985,  S. 18

 Posted by at 23:30