Die neue, die alte, ach die allzu alte Kriegswut

 Friedrich Schiller, Krieg und Frieden, Süddeutsche Zeitung  Kommentare deaktiviert für Die neue, die alte, ach die allzu alte Kriegswut
Nov 282015
 

Aus aktuellem Anlass fügen wir heute ein Gedicht eines in Deutschland vergeßnen Dichters bei. Sein Name tut nichts zur Sache. Nennen wir ihn, diesen unbekannten deutschen Dichter, einfach Fritz Marbacher. An wen richtete sich sein Gedicht? Niemand weiß es. Vielleicht an uns.

Der Marbacher hat damals sehr genau erfasst und verfolgt, was auf der weltpolitischen Bühne geschah: Napoleon erobert mehr als den halben Kontinent Europa, sein Ziel ist die Schaffung eines einzigen großen europäischen Reiches unter französischer Vorherrschaft. Pläne für eine europäische Einheitswährung waren entworfen, doch wollte Napoleon zunächst die politisch-militärische Einheit, erst danach dann die europäische Einheitswährung durchsetzen. 3 Millionen Kriegstote kostete Europa der französische Griff zur Weltmacht innerhalb von weniger als 2 Jahrzehnten. Die europäische Landkarte wurde umgepflügt.

Das ägyptische Abenteuer der Franzosen (1798/99) wurde zum Startschuß für den Wettlauf der beiden führenden Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts um neue Herrschaftsgebiete – Großbritannien und Frankreich. In Afrika, im Nahen Osten und überall. Beider Ziel war die Vorherrschaft rings um den gesamten Globus. Frankreich und Großbritannien richteten so die Determinanten der gesamten Nahostpolitik ein; bis zum heutigen Tage prägt die damalige Eroberungs- und Kriegspolitik der Briten und der Franzosen das weltpolitische Geschehen im Nahen und Mittleren Osten.

Freilich haben mittlerweile die USA und Russland – die neuen führenden Kolonialmächte – Frankreich und Großbritannien überflügelt; China und Indien versuchen aufzuschließen. So haben wir ein überraschend stabiles weltgeschichtliches Tableau vor uns: USA, Russland (1917-1991 Sowjetunion), Frankreich und Großbritannien führen seit damals immer wieder „Koalitionskriege“ mit wechselnden Bündnissen – deren erster fand 1792-1797 statt. Die 4 großen Kolonialmächte, THE BIG FOUR der letzten beiden Jahrhunderte, sind wieder da auf der weltpolitischen Bühne! Sie setzen die kriegerischen Akzente, sie erklären den Kriegszustand, sie beginnen und beenden Kriege. Seit 1792 werden an dieser Stelle in unterschiedlichen Koalitionen Kämpfe um die regionale und globale Vorherrschaft geführt. Der Nahe Osten ist seit 2 Jahrhunderten Schauplatz erbitterter Stellvertreterkriege. Die Völker kommen nicht zur Ruhe.

Und wir? Deutschland lässt sich fast blindlings herumtappend hineinziehen: „Der Krieg im Nahen Osten hat endgültig auch Deutschland erreicht.“ So schreibt es die Süddeutsche Zeitung heute auf S. 1. Man betrauert die 130 Todesopfer von Paris. Zu recht. Aber wer betrauert die 180 zivilen Todesopfer allein im Monat Oktober des Bezirks Aleppo?

Ach, läse man doch hierzulande noch Fritz Marbacher. Ach, könnten doch mehr Menschen in Deutschland die schöne französische Sprache verstehen und lesen! Dann würde es den deutschen Politikern wie Schuppen von den Augen fallen. Dann wäre schon viel gewonnen.

Dann müsste das Austrocknen oder besser Aushungern all der Stellvertreterkriege folgen: Stopp der Waffenlieferungen von außen. Stopp der Finanzflüsse, die diese Kriege seit mehr als 2 Jahrhunderten nähren und füttern. Wiedereinführung des Völkerrechts unter Führung der UN. Wiederherstellung souveräner Staaten. Einhaltung und Durchsetzung des Interventionsverbotes gemäß dem Völkerrecht. Wiederherstellung des grundgesetzlich garantierten Rechtsstaatsprinzips in der Bundesrepublik Deutschland durch Stärkung des Bundestages.

Und hier das Gedicht Fritz Marbachers in der Urfassung von 1802:

An ***

Edler Freund! Wo öfnet sich dem Frieden,
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öfnet sich mit Mord.

Und die Grenzen aller Länder wanken,
Und die alten Formen stürzen ein,
Nicht das Weltmeer sezt der Kriegswut Schranken,
Nicht der Nilgott und der alte Rhein.

Zwo gewalt’ge Nationen ringen
Um der Welt alleinigen Besitz;
Aller Länder Freiheit zu verschlingen,
Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.

Gold muß ihnen jede Landschaft wägen,
Und wie Brennus in der rohen Zeit,
Legt der Franke seinen ehrnen Degen
In die Waage der Gerechtigkeit.

Seine Handelsflotten streckt der Britte
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schließen, wie sein eignes Haus.

In des Südpols nie erblickten Sternen
Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf,
Alle Inseln spürt er, alle fernen
Küsten – nur das Paradies nicht auf.

Ach, umsonst auf allen Ländercharten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.

Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum;
Doch auf ihrem unermeßnen Rücken
Ist für zehen Glückliche nicht Raum.

In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.

Quelle:
Gedichte 1800-1830. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Jost Schillemeit [=Epochen der deutschen Lyrik. Herausgegeben von Walther Killy, Band 7], Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Aufl., München 1978, S. 67-68

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„Faut-il frapper du glaive?“ – „Sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“

 Jesus Christus, Krieg und Frieden  Kommentare deaktiviert für „Faut-il frapper du glaive?“ – „Sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“
Nov 272015
 

„Tous ceux qui prennent le glaive, périront par le glaive.“ – „Alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen.“

Eine klare Absage an die Gewalt! Ausgesprochen an einem bedeutenden Wendepunkt der Geschichte, ausgesprochen vor etwa 2000 Jahren, nur wenige Suchoi-Bomber-Flugsekunden vom syrischen Azaz im Nordwesten Aleppos entfernt.

Ganz unabhängig davon, ob man nun Jesu Aufruf zum Verzicht auf Gewalt folgt oder nicht folgt, gilt es doch – so meine ich – bei jedem Einsatz militärischer Gewalt Sinn und Zweck der Maßnahme zu befragen. Auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen und die große Frage nach dem politischen Danach gilt es zu bedenken.

Hier eine Gesamtbilanz der (in diesem Fall russischen) Luftangriffe im Regierungsbezirk Aleppo im Monat Oktober, wie sie das „Institut syrien pour la Justice“, eine aus Aleppo stammende, nach Gaziantep exilierte Vereinigung bietet, die von der Zeitung Le Monde heute als verlässlich eingeschätzt wird:

128 Luftangriffe gegen militärische Ziele
110 Luftangriffe gegen Wohngebiete
Unter den Zielen der Luftschläge waren nach Angaben der Monde (heute S. 4) auch:
16 Fabriken, 6 Krankenhäuser, 3 Schulen, 3 Moscheen
Todesopfer der Luftschläge im Monat Oktober im Bezirk Aleppo: 180 Zivilisten und 20 bewaffnete Kämpfer

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Nov 212015
 

Starkes Wiederauftauchen des Generals de Gaulle und des Gaullismus in genau diesen Tagen! Was für eine Gestalt! Der Sozialist Hollande greift in seiner kriegerischen Rhetorik klar auf ihn zurück! Und der Flugzeugträger, der de Gaulles Namen trägt, ist unterwegs ins östliche Mittelmeer.

Oskar Lafontaine bekennt sich heute im Magazin der Süddeutschen Zeitung „in einem Punkt als überzeugter Gaullist„: er setzt wie de Gaulle die sicherheitspolitischen Interessen Europas an die erste Stelle; und die lassen seiner Meinung nach einen Interventionskrieg nicht zu.

Lafontaine ist wehrrechtlich ein waschechter Nationalkonservativer. Er beschränkt das Recht zur Kriegführung wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf den Verteidigungskrieg. So steht es ja auch wirklich im Grundgesetz! Man sollte es nicht glauben, aber es ist so. Und auch die Völkerrechtler verneinen weltweit überwiegend das Recht auf den Interventionskrieg, während jedem Staat unstrittig das Recht zur bewaffneten Selbstverteidigung zugesprochen wird. Lafontaine sagt: „Für mich ist die Bundeswehr eine Verteidigungsarmee und keine Interventionsarmee.“

Mehr zufällig entdeckte ich dann beim Blättern in einem Buch über die Entstehung der Sowjetunion ein verschwommenes Schwarz-Weiß-Bild de Gaulles aus seinen frühen, den russischen Tagen als Kämpfer der Weißen Armee im Bürgerkrieg, dem sowjetisch-polnischen Krieg zwischen den Roten, den Bolschewiki einerseits, den Polen, Sozialdemokraten, Konservativen und Alliierten verschiedener europäischer Länder andererseits! Dem überragenden militärischen Geschick Trotzkijs, seiner Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung, der konsequenten Liquidierung der Gegner, der massenhaften Ermordung der innenpolitischen Feinde, der flächendeckenden Errichtung von Konzentrationslagern, der unerbittlichen Härte der von Trotzkij geschmiedeten Roten Armee hatten die Weißen keine annähernd gleichwertige Kampfkraft entgegenzusetzen. Auch fehlte ihnen eine konsequente Strategie.

Die Roten verjagten schließlich die Interventionsarmee der Weißen und setzten alsbald zu den Angriffskriegen auf das vorübergehend unabhängige Georgien, auf die vorübergehend unabhängige Ukraine, auf die vorübergehend unabhängigen baltischen Länder, auf das wiedererstandene Polen und auf Finnland an. Lenin, Trotzkij, Berija, Dzierzinski, Stalin, Sinowjew, Swerdlow schossen sich 1920/21 in einem gnadenlos geführten Bürgerkrieg ihren welthistorischen, mit Strömen von Feindesblut getränkten Weg frei und betrieben von da an, von den frühen 20er Jahren an konsequent eine militärisch aggressive Expansionspolitik selbst noch über die Grenzen des ehemaligen Russischen Reiches hinaus – mit dem vorläufigen Endpunkt der Besetzung Ostpolens in den Jahren 1939-41.

Die Rote Armee war ursprünglich zusammengeschmiedet als Bürgerkriegsarmee. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg wurde sie umgeschmiedet zur Angriffsarmee, in deren Schatten die Tscheka, die GPU, der NKWD ihren Terror gegen die Volksmassen entfalten konnten.

Und De Gaulle? Er hatte seinen frühen militärischen Kampf gegen die Bolschewiki verloren. Hätte es sich aber der Rechtskonservative de Gaulle je träumen lassen, dass er in den 40er Jahren den Schulterschluß mit den früher erbittert bekämpften Bolschewiki, dass er das Bündnis mit der UDSSR suchen würde, um den gemeinsamen Feind, das Deutsche Reich und dessen Verbündete Italien, Finnland, Ungarn, Rumänien niederzuringen?

Im Zug nach Hamburg las ich als Dreingabe einen glänzend formulierten, höchst lesenswerten Aufsatz des Althistorikers Egon Flaig über den Historikerstreit, der eigentlich eher ein erinnerungspolitischer „Bürgerkrieg“ war, in dem es kaum um Fakten, sondern mehr um Meinungen über höchst selektiv erinnerte Fakten ging. Auch heute werden die über die letzten 25 Jahre gesammelten Erkenntnisse der Fachhistoriker zu den Ländern des ehemaligen Sojewtblocks im bundesdeutschen Feuilleton nur spärlich zur Kenntnis genommen. Die Sowjetunion bleibt die große Unbekannte im deutschen Erinnerungsdiskurs. So kann kein „Haus Europa“ gebaut werden.

Lesehinweise:
„Nur tote Fische schwimmen immer mit dem Strom.“ Interview mit Peter Gauweiler und Oskar Lafontaine. Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 47, 20.11.2015

Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Mit zahlreichen Schwarzweißfotos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, Foto des Majors Charles de Gaulle: Seite 127

Egon Flaig: Die ‚Habermas-Methode“ und die geistige Situation ein Vierteljahrhundert danach. Skizze einer Schadensaufnahme. In: Mathias Brodkorb (Hrsg.): Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre „Historikerstreit“. Adebor Verlag, Banzkow 2011

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Wer trägt Verantwortung für die Bürger eines Staates?

 Armut, Flüchtlinge, Krieg und Frieden, Migration, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Wer trägt Verantwortung für die Bürger eines Staates?
Sep 062015
 

Wer trägt Verantwortung für die Bürger eines Staates? Antwort: die Machthaber dieses Staates zunächst einmal; sofern es sich um eine echte Demokratie handelt, tragen die Bürger selbst die Hauptverantwortung.

Immer wieder wird auf ein angebliches Versagen oder auch auf unterstellte Konzeptionslosigkeit  der europäischen Staaten bei der Aufnahme der afrikanischen und orientalischen Flüchtlinge hingewiesen. Dem kann ich mich nicht anschließen. Ich vermisse bitter bei der ganzen Flüchtlingsdebatte den dringend nötigen Hinweis auf die Verantwortung der Machthaber in den jeweiligen Herkunftsstaaten. Afrika und der Nahe Osten hätten eigentlich das Zeug dazu, auf eigenen Beinen zu stehen: es gibt Ressourcen ohne Ende, die Bevölkerung ist jung, lernfähig; kein üppiges Sozialsystem ist durch den Staatshaushalt zu finanzieren. Die Menschen wissen, dass der Staat sich nicht um sie kümmert,  wenn sie alt und krank sind, und dementsprechend sind sie bereit zu arbeiten, zu lernen und füreinander zu sorgen.

Es gibt meines Erachtens keine Ausrede mehr, keine Entschuldigung für das verheerende Chaos, das die Machthaber in den afrikanischen und den vorderasiatischen Staaten angerichtet haben; so verheerend ist das Chaos, dass ihnen die Menschen davonlaufen. Sie fliehen aus ihren eigenen Ländern. Dafür trägt nicht Europa, am allerwenigsten die Europäische Union die Schuld.

Beim Lesen der Bücher von Rafik Schami findet der Germanist Kurt Rothmann für hundert Jahre syrischer Geschichte die folgenden treffenden Worte, die, stellvertretend für andere Länder, hier ungefähr aneinandergereiht sein mögen – die meisten Syrer würden sie ohne Bedenken unterschreiben:

„Lächerlich eitle, gesichtslose politische Machthaber, die Putschisten, Diktatoren sowie deren Generäle und Geheimdienstler“ schaffen in der Bevölkerung ein Klima der Angst „voller Zwietracht, Dünkel, Demütigungen, Intrigen, Verrat, Hass, Blutfehden, Folter und Mord“.  Es fehlt an Rechtsstaatlichkeit, an Freiheit, an Friedenswillen bei den Mächtigen.

Falsch wäre es, so meine ich, angesichts der anschwellenden Migrationsströme den Regierungen Afrikas oder des Nahen Ostens noch mehr Geld zur Verfügung zu stellen oder vielmehr in den Rachen zu werfen, sei es in Gestalt von noch mehr „Entwicklungshilfe“, noch mehr Militärhilfe, noch mehr Flüchtlingshilfe, „Rückkehrhilfe“  oder auch „Klimaschutz-Hilfe“ oder irgendetwas sonstiges. Diese mehr oder minder phantasievoll bezeichneten Formen der Hilfe führen absehbar nur zur weiteren Selbstbereicherung der Machthaber.

Auch die jüngste militärische Einmischung westlicher Staaten wie der USA, Frankreichs und Großbritanniens hat offensichtlich nichts Gutes gebracht. Im Gegenteil, sie hat die Lage verschlimmert.

Nein, bad governance, verheerend schlechte Regierungsführung, Unterdrückung und Ausplünderung des eigenen Volkes, darin meine ich nach zahllosen Gesprächen mit Flüchtlingen und Kennern jener Länder die Hauptursache des aktuellen Flüchtlingselends zu erkennen. Ich meine: die afrikanischen Staaten und die Länder des Nahen und Mittleren Ostens müssen im wesentlichen endlich selbst zurechtkommen; sie müssen die Verantwortung für ihre Bevölkerung endlich ernst nehmen.

Erfolgreiche Staaten Asiens wie etwa Südkorea, die selbst noch vor 50 Jahren relativ arme Entwicklungsländer waren, sind dafür ein Vorbild.

Zitate:
Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. 20., durchgesehene und erweiterte Auflage, Philipp Reclam jun. Stuttgart 2014, S. 520-521

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Aufbruch und Befreiung: von Berlin über Torgau nach Eisenach

 Krieg und Frieden, Thüringer Städtekette  Kommentare deaktiviert für Aufbruch und Befreiung: von Berlin über Torgau nach Eisenach
Jul 302015
 

Torgau 20150716_081319
Dieses Jahr hatten wir uns die Thüringer Städtekette, einen gut ausgebauten Radfernweg, als Urlaubsroute gewählt. Sehr früh brachen wir am 16. Juli auf. Die Bahn sollte uns beide – meinen Sohn Ivan und mich – mit zweimaligem Umsteigen nach Eisenach bringen.
AUFBRUCH in aller Frühe! Den Schlaf wischen wir schon vor dem Läuten des Weckers aus den Augen. Am Bahnhof Südkreuz sagen wir Berlin für 5 Tage Adieu. Die Stationen ziehen gemächlich vorbei. Wir blinzeln hinaus. Das Wetter ist frisch, sonnig, einladend. In Falkenberg steigen wir um. Der zweite Halt hinter Falkenberg erzählt eine Geschichte: Hier im nordsächsischen Torgau reichten sich am 25. April 1945 sowjetische und US-amerikanische Truppen am Ufer der Elbe die Hände. Es war genau dieses Bild vom Händedruck der Amerikaner und der Russen, von dem für mich als kleines Kind stets die tröstliche Gewissheit ausging, dass der schlimme Krieg und die böse Hitlerzeit vorbei war. Im Grundschulalter wurde also für mich ausgerechnet TORGAU die Stadt des Feiertages, die Stadt der Befreiung! Es gibt wohl nur wenige, denen die Kreisstadt Torgau als die entscheidende Stadt für die Wende zum Besseren im Gedächtnis steht. Ich hatte, vielleicht zufällig, vielleicht unter Anleitung der Eltern, dieses Bild in dem bayerischen Geschichtsbuch „Wir erleben die Geschichte“, das ich als 8-jähriger las, so wahrgenommen.

Bild: ein zufälliger Blick auf Torgau aus dem wartenden Zug heraus. 16. Juli 2015. Im Vordergrund sichtbar: die beiden Fahrräder der Reisenden, hier mit dem deutlich erkennbaren Lenkeraufbau zum Einstecken der äußerst hilfreichen Lenkertasche

Zur Reisevorbereitung und zur Einstimmung hatten wir übrigens folgendes Radtourenbuch genutzt:
Thüringer Städtektte. Die schönsten Städte in Thüringen. Ein original bikeline-Radtourenbuch. Verlag Esterbauer, Rodingersdorf 2012

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… und wenn der „Euro“ stattdessen „Sterco“ hieße? Würde dies etwas ändern?

 Europäische Union, Faschismus, Geld, Italienisches, Krieg und Frieden, Südtirol, Verdummungen, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für … und wenn der „Euro“ stattdessen „Sterco“ hieße? Würde dies etwas ändern?
Jul 292015
 

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Recht behaglich wars mir immer zumut, wenn ich nach durchwandertem Tag in Südtirol ein paar Verslein aus dem 4. Akt von Goethes Faust II, ein paar kluge Sentenzen aus dem Wirtschaftsblatt Sole24ore nachmurmelte oder auch ein paar der italienisch- oder deutschsprachigen Fernsehsender aufrief.

Auf RAI 3 sah ich da auch zu bester Sendestunde nach 20.15 Uhr am 25. Juli eine lange Gesprächssendung zum Thema GEIZ – AVARIZIA. Der Geizige, so fanden die kundigen Gesprächspartner mit Flavio Insinna heraus, klebt am Geld, für ihn verkörpert das Geld sein ganzes Selbst, er hält am Gelde fest, er sieht nichts außer dem Geld und verliert darüber alles andere, was werthaltig ist oder sein könnte. Der Paperon de‘ paperoni Walt Disneys, der Onkel Dagobert unserer Kindheit, der Geizige Molières, der Scrooge eines Charles Dickens … sie und viele andere haben über dem Geld den Blick auf den anderen Menschen verloren. Das Geld entzweit sie von allen anderen Menschen – und auch von sich selbst, denn ihre Seele leidet über dem ständigen Nachsinnen und Nachdenken Schaden. Das Geld, so fand man auf RAI 3 heraus, trennt die Menschen untereinander, es trennt aber auch den Menschen von sich selbst. Der pfiffige Italiener nennt deshalb spöttisch und in seinem stets wohllautenden Idiom das Geld von alters her auch „lo sterco del Diavolo“.

„Lasciatemi divertire! Ich will Spaß!“ So hieß die Sendung von RAI TRE. Freunde, amici miei, wir wollen uns mal einen Spaß machen! Zurück zur Nominalismus-Debatte, zu der uns vorgestern Nikolaus von Cusa, der Brixner Bischof einlud!

Die ehrfürchtige Scheu, mit der Europa im Euro seine tiefste Bestimmung, seine unio mystica europea zu finden glaubt – ist sie ein bloßer Flatus vocis, eine Narretei, die letztlich mit dem Namen „Euro“ steht und fällt? Könnte man den Euro nicht auch – angelehnt ans deutsche Wort „Stärke“ – auch einfach „Sterco“ nennen? Würde sich dadurch etwas ändern?

Es wäre passend, gilt der Euro in Italien doch seit längerem weithin als „moneta tedesca“, als starke deutsche Währung, mit der die Deutschen wieder einmal versuchen, ihre Herrschaft über den ganzen Kontinent auszudehnen. So schreibt es erneut Aldo Cazzullo im angesehenen Corriere della sera am 24.07.2015 ganz explizit: „Oggi l’Europa non è l’Europa; è un impero tedesco. Come Roma antica, Berlino ha creato una rete di Paesi satelliti“. Das ist zu Deutsch: „Heute ist Europa nicht Europa; es ist ein deutsches Reich. Wie das antike Rom hat Berlin ein Netz von Satellitenstaaten geschaffen.“ Als Waffe zur Errichtung des deutschen Reiches der Jetztzeit gilt für Cazzullo, aber auch in weiten Teilen der italienischen und der griechischen Öffentlichkeit – der Euro.

So spaßig oder lachhaft das auch klingen mag, es steht immer wieder so in den Gazzetten und Corrieri Italiens und Griechenlands. Gestrickt wird in Italien (und auch in Griechenland) bereits jetzt fleißig am Mythos der „moneta non voluta“, der „nicht gewollten Währung“, so als wäre Italien seinerzeit gezwungen worden, dem Euro mit seinem vertraglich sehr eindeutigen Regelwerk beizutreten.

Es erinnert auf lustige Weise an den Mythos von der „Guerra non voluta“, dem „nicht gewollten Krieg“, so als wäre Italien damals durch das deutsche Reich gezwungen worden, durch die italienische Kriegserklärung an Frankreich und Großbritannien vom 10.06.1940, durch den italienischen Überfall auf Griechenland vom 28.10.1940 in den 2. Weltkrieg einzutreten! War das so? Wurde Italien durch das Deutsche Reich gedrängt oder gezwungen, in den 2. Weltkrieg einzutreten? Nein. Dem ist entschieden zu widersprechen.

Der teilweise heute immer noch verkündete italienische Mythos von der „guerra non voluta“ hält einer historischen Überprüfung schlechterdings keine Minute lang stand. Italien hat schließlich den Krieg gegen Frankreich, gegen Großbritannien und gegen Griechenland aus eigenem freien Entschluss selbständig begonnen und zunächst auch selbständig geführt und sich auf eigenen Wunsch bereitwillig mit 400.000 Soldaten auch dem deutsch angeführten Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, dem berüchtigten Unternehmen „Barbarossa“ angeschlossen.

Aber wozu sich aufregen? Wir erfahren es handgreiflich: Der absolutgesetzte Euro, vielmehr der absolute Glaube an den Euro entfaltet Tag um Tag seine diabolische Kraft. Das Geld, der Glaube an die Macht des Geldes spaltet europäische Staaten, spaltet europäische Völker, spaltet europäische Menschen entzwei. Das mutwillig begonnene scholastische Gedankenexperiment, den Euro einen Augenblick lang „Sterco“ zu nennen, wühlt leider die gesamten Lasten der Vergangenheit auf unschöne, betrübliche Weise wieder auf. Lo sterco del passato, der ganze Dreck der Vergangenheit kommt wieder hoch. Und das ist alles andere als lustig.

Und beim Krämer am Hafen schallte mir auch bei meinem jüngsten Italienaufenthalt des öfteren ein militärisches „Jawoll!“ entgegen, sobald man mich als Deutschen erkannt hatte. Tja, amici europei, non mi diverto. Das find ich nicht so lustig.

Zitatnachweis:
Aldo Cazzullo: La questione tedesca. Nessun paragone con il passato. Ma non aveva torto l’ambasciatore francese che disse a Ciano: „I tedeschi sono padroni duri. Ve ne accorgerete anche voi“. In: Corriere della sera, 24.07.2015, Beiheft SETTE, Seite 14

Bild:
Eine Abbildung einer Abbildung einer Abbildung des Kaisers auf einer Münze des Kaisers Konstantin (Münze datiert wohl auf 337-350 n. Chr.). Gefunden bei Tiefbauarbeiten auf dem Gebiet des späteren Prichsna, des heutigen Brixen. Fotografiert gestern auf dem archäologischen Lehrpfad in Brixen.

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Lernen, mit der Lücke zu leben: war die Sowjetunion ein Phantom?

 Krieg und Frieden, Russisches, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für Lernen, mit der Lücke zu leben: war die Sowjetunion ein Phantom?
Jun 032015
 

Auffällig an den zahlreichen Gedenkreden, Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum 8. Mai 2015 war in Deutschland wie auch in Europa überhaupt eine fast völlige Nichtbefassung mit der Geschichte Russlands, der Geschichte der Sowjetunion, eine Nichtbefassung mit der kleinteiligen, durch rechts- und linksextreme Diktaturen aller Art geprägten osteuropäischen Staatenwelt der Jahre 1918-1939, – und ein obsessives Starren auf das Deutsche Reich und nur auf das nationalsozialistische Deutsche Reich, das bekanntlich den 2. Weltkrieg entfesselt hat, – was wir alle genug und übergenug wissen und was aus diesem Grunde auf Schritt und Tritt wiederholt wird.

Dafür, für diese Unwilligkeit also, sich mit der Geschichte der Sowjetunion zu befassen, greifen wir nur einige zufällige Beispiele heraus, die nahezu beliebig ins Unendliche erweiterbar sind:
„Das Zeitalter der Weltkriege“, eine fundamentale, mit dem Segen der Bundeszentrale für politische Bildung zum Preis von € 4,50 ausgegebene Überblicksdarstellung, erwähnt in der Zeitleiste fein säuberlich alle Angriffsfeldzüge des Deutschen Reiches und die meisten Angriffsfeldzüge der anderen europäischer Diktaturen in den Jahren 1914-1945. Und doch fehlt jeder Hinweis auf den Krieg gegen die soeben unabhängig gewordene Ukraine, den die neue russisch-sowjetische Regierung am 17.12.1917 entfesselt hat. Und doch fehlt der Hinweis auf die gemeinsame Siegesparade, die sowjetrussisch-kommunistische und nationalsozialistische Truppen am 22. September 1939 in Brest abhielten. Und doch fehlt jeder Hinweis auf den Finnisch-Sowjetischen Krieg, den „Winterkrieg“, also den Krieg, den die Sowjetunion am 30. November 1939 gegen das viel kleinere Finnland entfesselt hat.

Warum fehlt hier und auch sonst die Sowjetunion fast überall in den Gesamtdarstellungen? Warum verschweigen gerade unsere lieben Landsleute, die Deutschen immer, dass im Zeitalter der Weltkriege auch andere Staaten, insbesondere die Sowjetunion ab 1917 eine waffenstarrende, mörderische Unterdrückungspolitik gegen das eigene Volk betrieben und gegen benachbarte Staaten räuberische Angriffskriege entfesselten? War der finnisch-sowjetische Winterkrieg etwa kein Bestandteil des Zeitalters der Weltkriege? Waren die von der Sowjetunion ab 1917 bis 1941 gegen die Ukraine, gegen Finnland, gegen Polen, gegen Lettland, Litauen, Estland entfesselten Kriege und Terrormaßnahmen keine Kriege und keine Terrormaßnahmen?

Selbst der glänzende Historiker Heinrich-August Winkler, der doch die Geschichte Deutschlands so kenntnisreich wie kein zweiter zu erzählen vermochte, hat über die beispiellos mit Aggressivität aufgestaute, von wechselseitigen Angriffs- und Vernichtungsdrohungen geprägte europäische Staatenwelt der sogenannten Zwischenkriegszeit kein Wort verloren, als er die Feier des 8. Mai 2015 im Deutschen Bundestag maßgeblich prägte. Auch er stellte in seiner großartigen Rede letztlich die politische Entwicklung Deutschlands ausschließlich als endogenen Prozess dar, der von sich aus, aus der Tiefe der deutschen Nationalgeschichte heraus Elend, Not, Mord kurzum das Böse schlechthin über den Rest Europas gebracht habe.

Man möchte geradezu theologisch in lateinischer Sprache fragen: Estne Germania unica origo et vera incarnatio mali XX. saeculi? Ist Deutschland der einzige Urquell und die wahrhaftige Verkörperung des Bösen in der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts? Geht man durch die Straßen Berlins mit dem düsteren Denkmal, diesem faszinierenden Touristenmagnet an der Hannah-Arendt-Straße, möchte man dies so glauben!

Woher kommt dieser auffällige moralische Bonus, den die Sowjetunion Lenins, Trotzkis, Berijas, Swerdlows, Jeschows und Stalins in weiten Teilen der deutschen Historikerzunft und der deutschen Politologen genießt? Warum spricht man in Deutschland tagein tagaus vom Holocaust und fast nie vom Holodomor, der diesem doch vorausging? Speist sich der prosowjetische Bonus der Deutschen aus völliger Unvertrautheit mit den Grundtatsachen der Geschichte Osteuropas? Speist er sich aus einem tiefsitzenden, nagenden Schuldgefühl der Deutschen angesichts des Leides, das DIE Deutschen und nur DIE Deutschen (unter ihnen auch der Deutsche Albert Einstein, auch die Deutsche Hannah Arendt, auch der Deutsche Karl Jaspers, auch die Deutsche Margarethe Buber-Neumann, auch der Deutsche Thomas Mann, auch der Deutsche Bert Brecht, auch der Deutsche Walter Ulbricht) durch die Entfesselung der Weltkriege über den gesamten Rest der Menschheit gebracht haben?

Ist jeder Vergleich zwischen den beiden Großdiktaturen des 20. Jahrhunderts, zwischen der kommunistischen Staatenwelt unter Führung der Sowjetunion und der faschistisch-nationalsozialistischen Staatenwelt unter Führung des Königreiches Italien und des Deutschen Reiches unangemessen?

War die Sowjetunion ein Phantom? Müssen wir lernen, mit der Lücke zu leben, so wie die Deutschen und die Russen und die nationalsozialistisch-sowjetisch beherrschten Völker Osteuropas damals lernten, mit der Lüge zu leben?

Wachen wir Deutschen eifersüchtig darüber, dass keine andere Nation auch nur im mindesten an unsere Schuld und Schuldigkeit heranreicht?

Woher kommt der so deutlich ausgeprägte antideutsche Affekt bei einem großen Teil der deutschen Historiker und Politologen?

So viele Fragen!

Beleg:

„Zeittafel“, in: Ernst Piper (Hrsg.): Das Zeitalter der Weltkriege. Helmut Lingen Verlag, Köln 2014. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 1553, Bonn 2015, S. 280-296

 Posted by at 13:59
Jun 012015
 

„Sonderfall Ukraine“, unter diesem zutreffenden Titel beschreibt Hugo Portisch in seinem phantastisch reich bebilderten Band über „Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus“ das in der Tat beispiellose Leiden der Ukraine unter der militärischen Bedrohung, der Unterdrückung und Zerstückelung der Ukraine durch Polen, durch das Russische Reich, durch die Sowjetunion und durch das Deutsche Reich in den Jahren 1917-1945. Wir fassen einige Grunddaten ukrainischer Geschichte zusammen:

Starke Bestrebungen, das Land aus russischer Herrschaft in die Unabhängigkeit zu führen, brachen sich nach der russischen Februarrevolution des Jahres 1917 Bahn. Alle ukrainischen Parteien – auch die linken Sozialdemokraten – forderten damals nationale Unabhängigkeit, wobei grundsätzlich der Verbleib innerhalb des Russischen Reiches nicht ausgeschlossen wurde. Nach dem gewaltsamen bolschewistischen Staatsstreich, der „Oktoberrevolution“ des Jahres 1917, verweigerte die ukrainische Rada den Bolschewiki Lenins die Anerkennung und erklärt die staatliche Eigenständigkeit. Die neue Sowjetregierung erklärt der Ukraine umgehend am 17.12.1917 den Krieg.

Am 9. Januar 1918 ruft die Zentralrada in Kiew die „Unabhängige Souveräne Ukrainische Volksrepublik“ aus. Danach marschieren die deutschen sowie die österreichisch-ungarischen Truppen ein. Am 1. November 1918 wird die „Westukrainische Volksrepublik“ proklamiert. Am 6. Februar 1919 marschiert die Rote Armee Trotzkis in Kiew ein, und die Ukraine wird am 8. April 1919 fester Bestandteil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Am 25.04.1920 wiederum erteilt der polnische Diktator, der General Józef Piłsudski, den Befehl, Sowjetrussland entlang der gesamten Grenze anzugreifen.

Allein schon diese wenigen Daten zeigen, dass die Ukraine in der sogenannten „Zwischenkriegszeit“ mehrfach von Polen, Russland und Deutschland angegriffen wurde, ehe sie dann vorerst endgültig Teil der Sowjetunion wurde.

Doch das Schlimmste waren nicht die Kriege, die Russland, Polen und das Deutsche Reich gegen die Ukraine vom Zaun brachen, das Schlimmste war der sowjetisch-nationalsozialistische Doppelschlag aus erstens dem Holodomor und zweitens dem Holocaust. Letzterer, der Holocaust, füllt viele Buchregale, Videotheken und Bibliotheken, der erste, der Holodomor ist nahezu vergessen. Wie kam es dazu?

Im Jahr 1929 fordern die sowjetischen Kommunisten wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage die Vernichtung eines Großteils der ukrainischen Landbevölkerung, der sogenannten Kulaken.

Die bäuerliche Landwirtschaft wird von der kommunistischen Führung im Zuge der Zwangskollektivierung systematisch zerstört. Die Kulaken – also die selbständige ukrainische bäuerliche Bevölkerung – werden teils sofort erschossen, teils in Lager deportiert, aus denen sie meist nicht wiederkehren. Andere Kulaken werden verbannt, die Menschen werden in Viehwaggons eingepfercht, „in eisiger Kälte oder in brütender Hitze ohne Wasser“. Die Ärmsten unter den Kulaken werden obdachlos gemacht, sie vegetieren in den 30er Jahren unter sowjetischer Herrschaft auf den Straßen dahin und sterben wie die Fliegen.

Es gibt Augenzeugenberichte und Fotos darüber, wie hungernde ukrainische Familien in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung nach und nach die Schwächsten töteten und danach verspeisten. Kannibalismus, Menschenfresserei aus Hunger – von Trotzki ausdrücklich gutgeheißen – war unter der Herrschaft der sowjetischen Kommunisten in der Ukraine, der einstigen Kornkammer des Russischen Reiches, ein nicht nur vereinzeltes Phänomen.

Berichte über diese Massenmorde, über die Vernichtung eines großen Teils der ukrainischen Bevölkerung erreichten sehr wohl regelmäßig das Ausland. Doch keine ausländische Macht griff ein.

Etwa 10 Millionen Ukrainer wurden in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die sowjetische Führung planmäßig durch Massenerschießungen, durch Vertreibungen und Zwangsarbeit sowie durch gezieltes Verhungernlassen vernichtet. Massenerschießungen, Deportationen, häufig zum Tod führende Zwangsarbeit in der Sowjetunion: Es handelt sich zusammen mit den Kolonialgreueln in Kongo unter dem belgischen König Leopold und zusammen mit dem nationalsozialistischen Holocaust an den europäischen Juden wohl um den schrecklichsten Genozid im Europa des 20. Jahrhunderts. Je nach Bewertungsmaßstab übertrifft der Holodomor am ukrainischen Kulakentum den Holocaust an den europäischen Juden in Grausamkeit und Brutalität sogar noch oder kommt ihm nahe. Der Holodomor ist zweifellos grausamer und schrecklicher gewesen selbst noch als die auf ihn folgenden „Säuberungen“ des sowjetkommunistischen Systems der späten 30er Jahre. Denn der Holodomor dauerte länger als die Säuberungen, der Holodomor forderte nach Schätzungen 8 bis 10 Mal so viele Menschenleben, er betraf eine gesamte Bevölkerung. Und es gab fast keine Überlebenden. Selbst heute ist dieser Genozid am ukrainischen Volk, der ungesühnt und kaum erinnert dem ebenso schrecklichen Holocaust vorausging, selten Gegenstand der öffentlichen Erinnerung außerhalb der Ukraine.

Der Bildband von Hugo Portisch (ich kaufte ihn gestern auf dem Flohmarkt am Rathaus Schöneberg für € 1.-) sei allen empfohlen, die sich für eine vollständige Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts im Zeitalter der Weltkriege interessieren und insbesondere das militärisch-politische Zusammenspiel zwischen der kommunistischen Sowjetunion und dem Deutschen Reich in den Jahren 1924 bis 1941 näher erkunden möchten.

Hinweis:
Hugo Portisch: „Sonderfall Ukraine“, „Die Vernichtung der Kulaken“, in:
Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Mit zahlreichen Schwarzweißfotos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, S. 124-131 sowie S. 220-223

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Bronsteins Kinder, oder: die Macht des Menschen über Leben und Tod

 1917, Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Hebraica, Krieg und Frieden, Mutterschaft, Opfer, Religionen  Kommentare deaktiviert für Bronsteins Kinder, oder: die Macht des Menschen über Leben und Tod
Mai 292015
 

Von der ungeheuren Macht, besser: der grenzenlosen Selbstermächtigung des 1879 im damaligen Neurussland, heute ukrainischen Janowka geborenen kommunistischen Revolutionärs Lew Davidovitsch Bronstein, besser bekannt als Trotzki, zeugt der folgende Wortwechsel zwischen einem (hier nicht näher bestimmten) Prof. Kusnetzow und Trotzki aus dem Jahr 1919. Zur Erinnerung: Wir stehen im Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen, Moskau wird belagert und ausgehungert. Der militärische Chef der Roten ist Trotzki, der unumstrittene Führer der Roten Armee.

Professor Kusnetzow schreibt an Trotzki: „Moskau stirbt buchstäblich vor Hunger“. Trotzkis überlieferte Antwort: „Das ist kein Hunger. Als Titus Jerusalem einnahm, aßen jüdische Mütter ihre eigenen Kinder. Wenn ich also Ihre Mütter zwinge, ihre eigenen Kinder zu essen, dann können Sie kommen und sagen: „Wir hungern“.

Wenn ich eure Mütter zwinge, ihre Kinder zu essen …“ Dieser hammerartig niederfallende Nebensatz scheint mir geradezu emblematisch die Signatur des frühen 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Weltkriege und Revolutionen zu sein. Trotzki, der hochintelligente, rhetorisch brillante, rundum gebildete, kluge Mensch, der sowohl den jüdischen Cheder in der ländlichen Ukraine wie auch die lutherische deutsche St.-Paulus-Schule in Odessa besucht hatte, gibt damit den Ton der Selbstermächtigung durch die Revolution im Zeichen von Hammer und Sichel an. Er sagt gewissermaßen: „Ich, Trotzki, erteile mir hiermit die Macht über Leben und Tod, die Macht über Mütter und deren Kinder.“

Trotzki, der sich in der Kommunistischen Partei handschriftlich unter seiner Volkszugehörigkeit Jude eingetragen hat, ordnet darüber hinaus die russische Oktoberrevolution ganz bewusst in die welthistorische Ereigniskette ein. Er stellt somit die von ihm maßgeblich bewirkte russische Oktoberrevolution auf eine Stufe mit der verheerenden Niederlage und Zerstörung des Judentums, mit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70! Das ist der Hammer, das ist die Sichel.

Das durch den jüdischen Historiker Flavius Josephus im 6. Buch seines „Jüdischen Krieges“ erzählte Geschehen, wonach im Jahr 70 unter der Belagerung und Aushungerung Jersualems durch die Römer eine jüdische Mutter ihr eigenes Kind schlachtete, briet und verzehrte, wird durch Trotzki in bewusster Übertreibung noch überboten: In der kommunistischen Revolution, im Kampf zwischen Roten und Weißen wird also nicht nur der Hunger als bewusstes Kampfmittel eingesetzt, vielmehr wird das erste und innigste Band der Menschen untereinander, das zwischen Mutter und Kind, durch Gewalt ganz bewusst zerstört.

Hier im Original das Zitat, wie es Swetlana Alexijewitsch wiedergibt. Die originale Fundstelle habe ich bisher allerdings nicht gefunden. Die Echtheit des Zitats kann ich somit nicht bezeugen. Ich halte es für durchaus für möglich, dass diese Zitate echt sind.

«Москва буквально умирает от голода» (профессор Кузнецов — Троцкому). «Это не голод. Когда Тит брал Иерусалим, еврейские матери ели своих детей. Вот когда я заставлю ваших матерей есть своих детей, тогда вы можете прийти и сказать: “Мы голодаем”» (Троцкий, 1919).

http://pda.litres.ru/svetlana-aleksievich/vremya-sekond-hend/chitat-onlayn/

Die obenstehende Übersetzung des Trotzki-Zitates aus dem Russischen hat der hier Schreibende angefertigt.

Eine andere gedruckte deutsche Übersetzung des Zitates findet sich hier:

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2013. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, hier S. 11

Eine handschriftliche Selbstauskunft Trotzkis aus dem Jahr 1922 anlässlich des 10. Kongresses der Sowjets findet sich in folgendem Buch:
Robert Service: Trotsky. A biography. Pan Macmillan Books, London 2010, Abbildung Nr. 14, digitale Ausgabe Pos. 15528

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Apr 272015
 

„Mein finnischer Großvater schloss sich 1940 freiwillig der SS an, wie ich kürzlich mit Entsetzen feststellen musste“, so erzählte es mir kürzlich ein finnischer Bekannter.

„Und mein bayerischer Großvater weigerte sich am 9. März 1933 trotz körperlicher Bedrohungen durch die SA, einen Befehl der NSDAP auszuführen und die Hakenkreuzflagge an dem Rathaus auszuhängen, dem er damals als Bürgermeister vorstand. Er wurde kurz darauf – nach 2-wöchiger Inhaftierung – abgesetzt und durch einen NSDAP-genehmen Mann ersetzt“, erwiderte ich.

2 europäische Großväter, 2 europäische Geschichten! Lang ist’s her, dennoch entdeckt man immer wieder Überraschungen!

Von sowjetischem oder russischem  Boden ging im 20. Jahrhundert immer wieder Krieg aus. Der sowjetische Überfall auf Finnland ist nur ein Beispiel dafür. Wieso schlossen sich so viele Finnen und Balten 1939 und danach der SS an? Antwort: Die Sowjetunion betrieb damals eine aggressive Außenpolitik und plante – wie man heute nachweisen kann – die Annexion des gesamten finnischen Territoriums.

Die Sowjetunion hatte Finnland, nachdem dieses den verlangten Gebietsabtretungen nicht zugestimmt hatte, am 30.11.1939 angegriffen, zivile Ziele bombardiert und in diesem letztlich gewonnenen „Winterkrieg“ sich tatsächlich einen Teil des finnischen Territoriums einverleibt (12.03.1940).

Wer griff wen an? Wer war schuld an der Entfesselung des finnisch-sowjetischen „Winterkriegs?“ Die Antwort der sowjetischen Kommunisten auf diese Frage war klar! Wie es die russische Wikipedia schreibt, wusste die Sowjetunion sich als Opfer finnischer Aggression darzustellen. Nach sowjetischer Darstellung war der Überfall auf Finnland ein Präventivkrieg:

Ответственность за начало военных действий была полностью возложена на Финляндию.

„Die Verwantwortung für den Beginn der kriegerischen Ereignisse wurde ausschließlich Finnland angelastet.“

Nach dieser Teilannexion Finnlands wurden auch die drei baltischen Staten Estland, Lettland, Litauen durch die Sowjetunion annektiert (21.07.1940) und verloren ihre staatliche Eigenständigkeit.

Ähnlich wie Italien ab 1935 und das Deutsche Reich ab 1938 betrieb also die Sowjetunion damals eine aggressive, kriegerische Annexionspolitik. Sie wurde deshalb am 14.12.1939 aus dem Völkerbund ausgeschlossen.

Diese drei Mächte – Italien, Deutschland, Sowjetrussland – schienen damals miteinander zu wetteifern, wer mehr Gebiete der Nachbarn gewissermaßen auffraß.

In dieser Situation sahen viele Finnen nur noch im Waffenbündnis mit Deutschland eine Möglichkeit, den Fortbestand Finnlands zu sichern, und schlossen sich den Freiwilligenverbänden der SS an. Sie wurden Teil eines (wie wir heute urteilen) verbrecherischen Systems, um sich vor einem anderen verbrecherischen System zu schützen, das sie existenziell bedrohte.

Wir dürfen sagen: Die Sowjetunion bzw. Russland ab 1917, Deutschland ab 1933 und Italien ab 1924 wiesen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf: alle drei betrieben Konzentrationslager, sie schalteten „innere Feinde“ gewaltsam aus, sie unterdrückten die Minderheiten, sie errichteten einen totalitären Staat, und sie waren bestrebt, ihr Staatsgebiet durch kriegerische Handlungen zu erweitern.

So bereiteten Italien, Spanien, Deutschland und Russland etwa ab 1935 die Bühne für den nächsten großen Europäischen Krieg, der dann ab 22.06.1941 in den 2. Weltkrieg umschlug. Ab Sommer 1941 war der 2. Weltkrieg kein 2. Europäischer Großer Krieg mehr, sondern der europäische und der asiatische Kriegsschauplatz gehörten zusammen.

So begann der 2. Weltkrieg.

Советско-финская война (1939—1940) — Википедия.

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„Affe … hat … Affe getötet“, oder: Caesars revolutionäre Einsicht in die eigene Schuldfähigkeit

 Das Böse, Gedächtniskultur, Gemeinschaft im Wort, Kain, Krieg und Frieden, Rassismus, Rechtsordnung, Tätervolk, Versöhnung, Vertreibungen  Kommentare deaktiviert für „Affe … hat … Affe getötet“, oder: Caesars revolutionäre Einsicht in die eigene Schuldfähigkeit
Apr 012015
 

Sturmtief Oskar

Der Film „Planet der Affen – Revolution“, 2014 in unserer Kinos gekommen, wird wohl in jedem nachdenklichen Menschen einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Als Regisseur des amerikanischen Streifens zeichnet Matt Reeves. Wir sahen das Kunstwerk mit Kind und Kegel und Popcorngeruch im Cinemaxx am Potsdamer Platz an einem feuchtkalten Sonntag des Jahres 2014.

Der im Original „Dawn of the Planet of the Apes“ betitelte Film spielt 10 Jahre nach einer allvernichtenden Katastrophe in der ferneren Zukunft. Eine düstere, von ständigen Regengüssen gepeitschte Landschaft ermöglicht vorläufig den wenigen überlebenden Menschen und den Affen eine vorläufige, jederzeit gefährdete Existenz, nicht weit entfernt von San Francisco.

Eine Horde Laboraffen, die tierquälerischen medizinischen Experimenten entkommen ist, hat den fast vollständigen Untergang der Menschheit überlebt, hat Lesen und Schreiben gelernt und baut sich mühselig auf den Trümmern der menschlichen Zivilation eine neue, äffische Kultur mit Brauchtum, Riten und Religion auf. Sie bilden also das, was man die „Urhorde“ nennen könnte.

Die gnadenlose Ausbeutung des Affen durch den Menschen ist eine fest verankerte, das kulturelle Gedächtnis der Affen prägende Erinnerung; ein Teil der Affen ist durch die erlittenen qualvollen medizinischen Experimente zutiefst traumatisiert; sie lehnen jeden Kompromiss mit den ehemaligen Unterdrückern ab. Sie schwören auf Rache und Vernichtung der wenigen überlebenden Menschen. „Mit den Menschen kann es keine Versöhnung geben; die Menschen werden sich nicht ändern; sie werden uns weiterhin jagen, quälen und töten! Töten wir sie, bevor sie uns töten!“ So etwa lässt sich der kulturelle Subtext dieser Affen-Ideologie zusammenfassen. Der Führer dieser Unerbittlichen ist Koba, ein außergewöhnlich groß gewachsener Bonobo, der unermessliche Qualen in einem medizinischen Labor der Menschen erlitten hat.

Dieser unversöhnlichen Feindschaft zwischen Affe und Mensch setzt Caesar, der charismatische Anführer der äffischen Urhorde, sein grundlegendes Tötungsverbot entgegen: „Affe nicht töten Affe“. Caesar predigt den solidarischen Zusammenhalt aller Affen und fordert den Verzicht auf Gewalt im Umgang der verschiedenen äffischen Sippen.

Gegenüber der Menschenhorde setzt Caesar auf Verhandlungslösungen, Abgrenzung der Territorien und gewaltlose Koexistenz. Caesar ermöglicht so, dass die Menschenhorde Zugang zu einem stillgelegten Kraftwerk hoch droben in den Bergen erhalten und sich so eine Grundlage für nachhaltige Existenz schaffen kann.

Doch sowohl bei der äffischen wie bei der menschlichen Horde behalten Scharfmacher und Hetzer vorerst die Oberhand. Bürgerkriegsartige Konflikte brechen auf, sowohl bei den Menschen wie bei den Affen. Die Mechanismen sind in beiden Horden die gleichen: Hetze, Verrat, Lüge, Gewalt.

Im Zuge dieser zahlreichen Scharmützel und gewaltsam ausgetragenen Binnenkonflikte wird auch der jugendliche Schimpanse Ash getötet, nachdem er sich aus Gewissensgründen und eingedenk der Lehren Caesars geweigert hat, unbewaffnete menschliche Zivilisten zu töten. Kein anderer als der Affe Koba ist es, der den Affen Ash gnadenlos hinrichtet! Ein Affe tötet einen Affen. Hier gefriert einem das Blut in den Adern. Tiefer Winter bricht im Frühling herein!

Einen gewaltigen Schritt in der Gewissensbildung der Affengesellschaft vollzieht jedoch der Schimpanse Caesar. Denn Caesar, der selbst durch Koba schwer an der Schulter verwundet worden ist und auf medizinische Hilfe durch die Menschen hofft, bricht in seiner schwersten Stunde zu der tiefen Einsicht durch. „AFFE … HAT … AFFE GETÖTET!“, seufzt er in seiner für Menschenohren schwer verständlichen Sprache, in seinem von Schluchzen unterbrochenen Bekenntnis. Er trifft diese bittere Feststellung ausgerechnet gegenüber dem Menschen Malcolm, und er gesteht damit ein, dass die eigene äffische Horde sittlich nicht besser ist als die bei den Affen doch so oft verachtete menschliche Horde.

„Wir selber, die eigenen Leute haben die eigenen Leute getötet. Wir Affen sind von Natur aus auch nicht besser als ihr Menschen.“ So deute ich mir Caesars Geständnis. Ich meine: Caesars Redlichkeit, Caesars Mut und Caesars Schuldbekenntnis sind der wahrhaft revolutionäre Durchbruch zu einer möglichen Versöhnung zwischen der Urhorde der Menschen und der Urhorde der Affen! Caesar nimmt aus dieser Position der Schwäche heraus auch Hilfe vom Menschen Malcolm an; er bittet sogar um Hilfe; er gesteht schuldhafte Verstrickungen der eigenen Leute ein. Und er reicht damit die Hand zur Versöhnung zwischen Affe und Mensch.

Caesars ursprüngliche Einsicht in die Schuldfähigkeit des Affen weist im Grunde auch die unerlässliche Voraussetzung zur Versöhnung der in Europa siedelnden Menschenvölker auf. Wie oft sehen wir doch, dass die Schuld für eine Katastrophe nur bei einem Volk allein gesucht wird!

Obwohl in diesem Film „Planet der Affen – Revolution“ die größere Schuld zweifellos beim Menschen liegt, tut der Affe Caesar den ersten Schritt zu Versöhnung und Frieden: er gesteht offen ein, dass auch die eigene Seite Verbrechen begangen hat. Eigene Verbrechen, die nicht schon dadurch gerechtfertigt werden können, dass „die andere Seite“ angefangen hat und ja bekanntlich weit schlimmere und zahlreichere Verbrechen begangen hat. Schwere und schwerste Verbrechen, die, so weiß Caesar, sowohl im Bürgerkrieg gegenüber den eigenen Artgenossen wie auch im Krieg der Horden gegeneinander gegenüber den Angehörigen anderer Arten begangen worden sind.

Echte Aussöhnung – dies ist die große, befreiende Einsicht, die ich 2014 aus diesem Film nachhause nahm – kann nur gelingen, wenn alle Seiten die Fähigkeit zur Einsicht in eigene Verfehlungen mitbringen, eigene Sünden offen bekennen und nicht immer die ganze Schuld nur bei den anderen suchen. Der Schimpanse Caesar weist den europäischen Völkern den Weg zu echter Vergangenheitsbewältigung!

Wird der Frieden gelingen, oder wird der am Ende des Films drohende Krieg zwischen Affen und Menschen in aller Rohheit ausbrechen? Wird echte Vergangenheitsbewältigung im offenen, ehrlichen Dialog der Bürgerkriegsparteien gelingen? Oder behalten die Hetzer auf beiden Seiten die Oberhand?

Wir wissen es nicht. Eine weitere Folge der Serie „Planet der Affen“ ist angekündigt; aber die Zukunft der Geschichte ist offen. Der Produzent und der Regisseur haben sich öffentlich noch nicht festgelegt.

Planet der Affen: Revolution | Jetzt als Digital HD.
http://en.wikipedia.org/wiki/Dawn_of_the_Planet_of_the_Apes

Bild von gestern, 31. März 2015, 08.55 Uhr. Winter im Frühling. Kreuzberg. Ein Blick durch den Park am Gleisdreieck auf den Potsdamer Platz. Dahinter, hier nicht sichtbar: das Cinemaxx-Kino.

 Posted by at 13:42
Sep 032014
 

«Мы один народ», so äußerten sich in den letzten Tagen sowohl Gorbatschow als auch Putin. Sie beschwören damit hochheilig die ewige Bruderschaft, die ihrer Meinung nach die Ukraine seit jeher an Russland binden soll, ja die Ukraine geradezu zu einem Teil Russlands mache.

Ich besprach diese Aussagen in Russland mit einer Moskauer Kinderärztin. Unser gemeinsamer Befund dieser mittlerweile nur noch mit den Begriffen der Psychopathologie zu erfassenden Konfliktlage: Genau in diesen Aussagen Putins oder Gorbatschows liegt der Kern des Problems. Wenn der Stärkere sagt: „Ihr gehört uns, ihr seid unser“ und diesen Anspruch mit Waffengewalt durchsetzt,  der Schwächere aber das anders sieht, dann liegt genau hierin das Problem. Es ist der Keim des Krieges. Zwar mag es durchaus sein und es ist wohl auch so, dass ein Teil der Ukrainer sich als durch und durch russisch fühlt. Russland lockt darüber hinaus mit höherem Lebensstandard, höheren Renten, besserer Versorgungslage als die Ukraine. Wenn Russland meint, diese Lasten stemmen zu können, sollte es diese Neubürger innerhalb seiner jetzt bestehenden Grenzen aufnehmen und integrieren.

Noch wichtiger scheint aber die historische Tiefenprägung zu sein. Diejenigen Ukrainer, die sich zur Orthodoxie bekennen, suchen vielfach weiterhin den Zaren, den Herrscher, der beide Schwerter, das der weltlichen und geistlichen Macht, in einer Hand hält. Sie erblicken in Putin eine Art Sendboten des Weltgeistes, eine mächtige Kaiser- und Vatergestalt, dessen Macht sie sich willig unterwerfen: sie vollführen das seelische Sich-Niederwerfen, die Prostration  vor einer historischen Herrschergestalt. Der Zar stiftet die Brücke zwischen Gott und dem Volk. „Du betest jetzt für Putin!“ schrieen sie einen Popen an, der sich weigerte, sich politisch im Gottesdienst auf Seiten Russlands zu stellen. Dann wurde er von der aufgestachelten Menge mit Tomatensaft bespritzt. Er ließ es abprallen, verlor die Ruhe nicht. So verlief vor drei Wochen eine Szene im russischen Fernsehsender 1, die ich mit eigenen Augen sah! Die identitätsstiftende Rolle der Konfessionen in diesem Konflikt wird übrigens im Westen nicht ansatzweise erkannt. Sie ist nicht zu unterschätzen!

Diesen Menschen, die sich dem Blute nach als völkische Russen fühlen,  muss selbstverständlich freistehen, die ungeliebte Ukraine zu verlassen. Russland hat unendlich weite Steppen, unbesiedelte Räume; in ihnen sollten die Neubürger ihr Neu-Russland innerhalb der heutigen Grenzen der Russischen Föderation  aufbauen.

Ein sehr großer Teil der Ukrainer sieht sich aber eben durch historische Tiefenprägung nicht als Untertanen des russischen Autokrators. Das sind insbesondere die weiten Landesteile, die früher unter österreichisch-ungarischer bzw. polnisch-litauischer Hoheit standen und erst im 20. Jahrhundert an die Sowjetunion fielen.  Dieser große Landesteil der heutigen Ukraine kämpfte sowohl nach dem ersten wie nach dem zweiten Weltkrieg noch jahrelang gegen das sowjetische Joch. Letztlich behielten die Kommunisten die Oberhand. Aber die gezielten Ausplünderungen der Ukraine durch die sowjetische Führung, die Auslöschung der Kulaken zu Hunderttausenden unter dem Vorwand „antisowjetischer Umtriebe“, sind in der Ukraine zumindest unvergessen.

7000 eingesickerte Tschetschenen scheinen bereits in der Ukraine auf Seiten der Separatisten zu kämpfen.  So berichtete es mir eine Ukrainerin, deren Vorhersagen seit Monaten bisher alle eingetroffen sind. Diese nichtrussischen, durch die früheren Grenzkriege gestählten Kämpfer sind in der Tat nicht mehr zentral zu steuern.

Eine Aussöhnung zwischen diesen in der historischen Tiefenprägung so verschiedenen Bevölkerungsteilen hätte Offenheit, Klarheit, Versöhnungswillen und Transparenz auf beiden Seiten der Grenze verlangt. Daran hat es aber gefehlt. Daran fehlt es bis zum heutigen Tag. Und so mag denn das „Auseinandergehen“ ohne allzuviel Blutvergießen im Augenblick tatsächlich eine Art Lösung sein. So meine Eindrücke, die ich in Gesprächen mit Ukrainern und Russen gewinnen konnte.

via  ВЗГЛЯД / «Мы один народ».

In deutscher Sprache zu empfehlen:
Claus Leggewie: Holodomor: die Ukraine ohne Platz im europäischen Gedächtnis? In: ders., Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Beck Verlag, München 2011, S. 127-143.

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„Une politique étrangère vague et hasardeuse“ – Wohin treiben die EU-Außenpolitiken?

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Sep 012014
 

Pierre Lellouche, der französische, Paris vertretende Abgeordnete, geht in der Monde vom 25. August 2014 (S. 15) mit der Außenpolitik Frankreichs und indirekt auch mit den Außenpolitiken  der EU sehr hart ins Gericht.

Angesichts der Waffenlieferungen verschiedener EU-Staaten an die Kurden fragt er, welches politische Konzept dahinter stehe. Man, also die französische Außenpolitik, wechsele jetzt im Schlepptau der USA die Fronten. Zu spät, ohne politisches Konzept, ohne echte Kenntnis der beteiligten Gruppierungen, ohne Blick auf die Zukunft unterstütze man den Widerstand gegen die IS, ohne im Gegenzug von den Empfängern der Waffenlieferungen auch nur einen verbindlichen Plan, geschweige denn Zusagen zum erwünschten Gebrauch der Waffen erhalten zu haben. Lellouche fragt in seinem rhetorisch brillanten Beitrag:

Quelle résistance, quelles armes et pour quels résultats?

Lellouche findet keine Antwort auf seine bohrenden Fragen. Nicht zuletzt dürfte ihm noch erinnerlich sein, dass eine andere bewaffnete Widerstandsgruppe, die in Afghanistan mit westlichen Waffen ausgerüstet wurde, die Taliban, sich nach einigen Jahren mit aller Macht und kraftvoll gegen die eigenen Waffenlieferanten gewandt hat. Lellouches  Fazit: Frankreich betreibe seit langem eine unklare, glücksspielartige Hasardeur-Außenpolitik. Fast alle militärischen Afrika-Einsätze der Franzosen seien mehr oder minder gescheitert, hätten nie das erwünschte Resultat gezeitigt, sagt der Abgeordnete.

Nun, auch der Deutsche Bundestag, die deutsche Bundesregierung müssen sich diese Fragen gefallen lassen, wenn sie sich anschicken, mit Waffen in einen laufenden militärischen Konflikt einzugreifen.

Wie schaut das Ganze aus der Kreuzberger Sicht aus? Wir haben ja hier in Kreuzberg eine sehr starke kurdische Bevölkerungsgruppe; ich bin mit einigen kurdischen Familien bekannt.  Die Kurden erfreuen sich darüber hinaus im herrschenden linksalternativen Milieu, aber auch auf den diversen interreligiösen Kalendern in Kreuzberger Kitas größter Beliebtheit. Kurdische Väter, kurdische Ehemänner haben es immer wieder in die Spalten unserer Berliner Tageszeitungen gebracht. Wie sind die Waffenlieferungen an die Peschmerga aus Kreuzberger Perspektive zu beurteilen?

Ich will es kurz machen: Die Vorstellung, dass die Kurden im Irak, in Syrien, in der Türkei die deutschen Waffen ausschließlich zur Verteidigung gegen die IS einsetzen würden, offenbart eine erhebliche Unkenntnis der kurdischen Gruppierungen,  Strategien und der kurdischen Kulturen. Die Peschmerga werden die deutschen Waffen zur Erreichung ihrer Ziele, derzeit sicherlich vor allem zum Zurückschlagen der IS einsetzen. Was aber kommt danach? Darauf muss eine Antwort verlangt werden. Niemand kann diese Antwort geben.

Wichtig ist auch zu wissen: Die Kurden haben im Durchschnitt eine andere, kulturell geprägte  Einstellung zur Gewalt und zum Gebrauch von Waffen als wir.  Für uns sind Waffen etwas Schreckliches.  Wir wollen Waffengebrauch auf ein Minimum reduzieren. Die meisten Kurden dürften das anders sehen. Dazu brauchen die Waffen auch nicht „in falsche Hände zu gelangen“, wie es immer wieder heißt. Es genügt schon ein „Seitenwechsel“. Und der Seitenwechsel der bewaffneten Gruppierungen ist nun einmal Normalität im gesamten Nahen und Mittleren Osten! Er ist seit Jahrzehnten Routine.

So haben die USA oder der „Westen“ lange die Aufständischen, also gewollt oder ungewollt auch die islamistischen Milizen  in Syrien unterstützt. Man wollte die amtierende säkulare syrische Regierung weghaben, man wollte den Regimewechsel von außen befördern. Jetzt stellt sich heraus, dass die IS eine echte Bedrohung für die säkulare amtierende syrische Regierung sind, dass also letztlich diese Regierung wieder durch den Westen unterstützt werden muss. Alles andere würde militärisch überhaupt keinen Sinn ergeben. „Rin in die Pantoffeln, raus aus den Pantoffeln“ – das ist keine Strategie, das ist das berühmte Stochern im Nebel der EU-Außenpolitiken.   Mit der Waffenlieferung an die Peschmerga reiht sich Deutschland also konfliktbefeuernd letztlich – ob es will oder nicht will – auf einer Seite in die Frontlinien der verschiedenen bewaffneten Konfliktlinien im Nahen und Mittleren Osten ein. Und es gibt weder in der EU noch in Deutschland eine außenpolitische Doktrin, über die man wenigstens streiten könnte. Es gibt nur die verschiedensten Außenpolitiken. Wohin treiben sie uns?

Der deutsche Bundestag hat heute eine große Verantwortung. Er muss die bohrenden Fragen, die ein Pierre Lellouche von der UMP stellt, ebenfalls stellen!

Beleg:
Pierre Lellouche: M. Hollande malmène son „domaine réservé“. Une politique étrangère vague et hasardeuse. Le Monde, 25. August 2014, Seite 15

 

 Posted by at 09:58