Jun 132019
 

Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.

„Bald sind wir aber Gesang.“ So Hölderlin, in seiner Hymne „Friedensfeier“ (Fassung vom 28.09.1802). Vom Gespräch, das wir von Morgen an sind, zum Gesang, der wir bald sind. Eine großartige Aufgipfelung, die vermutlich auf Erasmus von Rotterdam zurückgreift, der ja Joh 1,1 übersetzt hatte mit: Im Anfang war das Gespräch.

Eine weitere gedankliche Hymne auf das Gesangliche, dieses Mal am Geigen, stimmt heute in der FAZ auf S. 11 der Frankfurter Geiger Alois Kottmann an. Höchst lesenswert! Er beklagt die heutige artistisch-zirzensische Geigenbetriebsamkeit und sagt:

„Die Geige ist nicht da, um zu geigen, sondern um etwas zu sagen. Denn der Gesang ist das Ursprünglichste in Tönen. Ich nehme an, das Erste, was der Mensch konnte, war nicht sprechen, sondern summen. Der Gesang stimuliert den Menschen. Der Gesang macht das ganze Gemüt aus und war schon da, bevor die Sprache sich in ihrer ganzen Komplexität entwickelt hatte. Und da müssen wir im Geigenspiel wieder hin, zu dieser Ursprünglichkeit, dieser Ganzheit des Gemüts, aus der heraus sich erst wieder tonsprachlich arbeiten lässt.“

Quellen:
Friedrich Hölderlin: Friedensfeier, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Herausgegeben von D. E. Sattler. Luchterhand Verlag, München 2004, Band IX, S. 231-236, hier S. 234

„So kann man doch nicht Geige spielen!“ Wir müssen zurück zum Gesang, zum Ton als Sprache – und weg von der reinen Selbstdarstellung. Ein Gespräch mit dem Hochschullehrer Alois Kottmann. Das Gespräch führte Jan Brachmann. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Juni 2019, S. 11

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/der-geiger-alois-kottmann-im-gespraech-16233272.html

Bild: Feld- und Wiesengeigen inmitten summender Mückchen und Fliegen. „Das Märchen von dem Frettchen und dem Stier Ferdinand.“ In Irenes Garten. Der hier schreibende Geiger mit seinem Sohn Ivan. Aufnahme vom 05.07.2009. Bildhintergrund: Die rückwärtige Einbandansicht der Septuaginta-Ausgabe des Jahres 1935 von Alfred Rahlfs, Verlagsnummer 5121. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1979


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Mai 202019
 
Siehe! Eine Hummel saugt Nektar aus einer Rainfarn-Phacelie. 19.05.2019, 13:21 Uhr, Feldrain an der Allee am Königsgraben von Luckenwalde nach Jänickendorf

13לֹֽא־תַעֲשֹׁ֥ק אֶת־רֵֽעֲךָ֖ וְלֹ֣א תִגְזֹ֑ל לֹֽא־תָלִ֞ין פְּעֻלַּ֥ת שָׂכִ֛יר אִתְּךָ֖ עַד־בֹּֽקֶר׃

14לֹא־תְקַלֵּ֣ל חֵרֵ֔שׁ וְלִפְנֵ֣י עִוֵּ֔ר לֹ֥א תִתֵּ֖ן מִכְשֹׁ֑ל וְיָרֵ֥אתָ מֵּאֱלֹהֶ֖יךָ אֲנִ֥י יְהוָֽה׃

15לֹא־תַעֲשׂ֥וּ עָ֨וֶל֙ בַּמִּשְׁפָּ֔ט לֹא־תִשָּׂ֣א פְנֵי־דָ֔ל וְלֹ֥א תֶהְדַּ֖ר פְּנֵ֣י גָדֹ֑ול בְּצֶ֖דֶק תִּשְׁפֹּ֥ט עֲמִיתֶֽךָ׃

οὐκ ἀδικήσεις τὸν πλησίον καὶ οὐχ ἁρπάσεις, καὶ οὐ μὴ κοιμηθήσεται ὁ μισθὸς τοῦ μισθωτοῦ παρὰ σοὶ ἕως πρωί. οὐ κακῶς ἐρεῖς κωφὸν καὶ ἀπέναντι τυφλοῦ οὐ προσθήσεις σκάνδαλον καὶ φοβηθήσῃ κύριον τὸν θεόν σου· ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν.

Du sollst deinem Nächsten nichts rauben; du sollst den Lohn des Taglöhners nicht über Nacht bei dir bleiben lassen, bis morgen. Du sollst keinem Tauben fluchen, keinem Blinden Anstoß in den Weg legen, sondern dich vor deinem Gotte fürchten; Ich, der Ewige!“

Du sollst einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen!“ Beim dankbaren Nachsinnen über den gestrigen Tag fiel mir soeben dieser Vers aus dem 3. Buch Mose ein. Eine blinde Frau suchte mühsam tastend den Weg zur Toilette im Regionalzug von Berlin-Südkreuz nach Luckenwalde. Wie beschwerlich war es doch für sie, die komplizierten Türverriegelungen und die Entriegelung zu bedienen. Eine Kette an Missverständnissen und Missgeschicken! Wir halfen, so gut wir konnten. Doch es gelang uns nur unzureichend. Die Blinde ließ sich nicht beirren und meisterte die Klippen in Gestalt einer halbautomatischen Tür mit bewundernswerter Gleichmut und unbeirrbarer Würde.

Wie unendlich wertvoll, weise, beherzigenswert sind doch die mosaischen Vorschriften über die Heiligung des Alltags! Sie können auch heute noch, im Jahr 2019, zuverlässig ein gedeihliches Miteinander in Regionalbahnen, Interregios und ICEs, auf Bahnhöfen, Bürgersteigen und Fußgängerzonen, in Parklets und Parkhäusern erleichtern. Wie anrührend, wie bedachtsam und feinfühlig findet Mendelssohn den richtigen Ton in seiner Übersetzung der Tora! So findet die Hummel den Nektar am Grund der Blüte der Phacelie!

Hier sind die Verse 13-19 aus dem Buch Levitikus, Kap. 19, in Hebräisch (Tora), Griechisch (Septuaginta) und schließlich in der deutschen Übersetzung durch Moses Mendelssohn wiedergegeben.

Übersetzung Mendelssohns hier zitiert nach: Artikel „Mendelssohn“, in: Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Unveränderter Nachdruck der 3. vermehrten und verbesserten Auflage von 1936, erschienen im Philo-Verlag Berlin. Jüdischer Verlag im Athenäum-Verlag, Königstein/Ts. 1982, Spalte 467-468

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Apr 052017
 

Gutes, dankbares, weidliches Nachblättern im Sündenbock, den uns René Girard geschenkt hat!  Dieser Autor ist einer der wenigen Kulturwissenschaftler unserer Jahre, die es wirklich auf sich genommen haben, die Evangelien genauestens anzuhören, sie wieder und wieder zu lesen, im griechischen Original ebenso wie in den verschiedenen modernen Sprachen. Er empfiehlt sogar, mithilfe des Sich-Versenkens in den Wortlaut der Evangelien andere Sprachen von innen zu erkunden, wenn er sagt:

Quand on connait les Évangiles, leur traduction dans une lange inconnue est un excellent moyen de pénétrer, à peu de frais, dans l’intimité de cette langue.

Zentral ist bei diesem Bemühen für Girard die Passionserzählung, insbesondere in der Fassung des Johannes, des vierten Evangelisten; ihr widmet er zwei ganze Kapitel seines Büchleins. Die Verurteilung und Hinrichtung Jesu deutet Girard als den Widerhall, die Überbietung, die Zusammenfassung und die Überwindung aller bisherigen Opferungen.

Hart in der Nähe des weltberühmten Mahnmals, mit dem deutsche Erinnerungskultur sich ein Denkmal gesetzt hat, fügen wir noch einige unvorgreifliche Gedanken an, die sich aus einigen Gesprächen mit Holocaustforscherinnen und -forschern meiner Bekanntschaft ergeben haben:

Das übliche, in der judengriechischen Bibel, der Septuaginta hunderte Male vorkommende Wort für die ganzkörperlichen Opfer ist der Holokaust bzw. der Holocaust (meist im Plural ὁλοκαυτώματα / holokautomata verwendet). Wer hätte das gedacht, dass die prophetischen Bücher der jüdisch-griechischen Bibel so oft von den Holokausts sprechen und den ständigen, zunehmend trivialisierten Bezug auf die Holocausts wieder und wieder verwerfen und zurückweisen!

Hier nur ein Beispiel für viele mögliche andere, entnommen  aus Buch Amos 5:

21μεμίσηκα ἀπῶσμαι ἑορτὰς ὑμῶν καὶ οὐ μὴ ὀσφρανθῶ ἐν ταῖς πανηγύρεσιν ὑμῶν·

22διότι καὶ ἐὰν ἐνέγκητέ μοι ὁλοκαυτώματα καὶ θυσίας ὑμῶν, οὐ προσδέξομαι αὐτά, καὶ σωτηρίου ἐπιφανείας ὑμῶν οὐκ ἐπιβλέψομαι.

Wir halten fest: Mehrfach hat er sich in den Schriften des Judentums über den Mund der Propheten (etwa Amos, etwa Jeremias) beschwert, dass die Menschen ihm mit ihren Holocausts in den Ohren lägen. Ich mag eure Holokausts nicht mehr, ich kann sie nicht mehr riechen, spricht er.

Nach diesem Tod Jesu, so die Deutung, die bereits der Brief an die Hebräer vorgeformt hatte, werden vollends nicht nur die ritualisierten Tieropfer entbehrlich, vielmehr wird jedes weitere ganzkörperliche Opfer überflüssig; kein einzelner muss mehr sterben, damit das Volk leben kann. Das Leiden als solches um eines höheren Zieles willen ist nichts, womit man Gott beeindrucken könnte.

All die Opfer, mit denen die Menschen Gott in den Ohren liegen, werden nach Golgatha überflüssig.  Das Geschehen am Golgatha ist das letzthinnige Opfer; danach wird der Opfergedanke entkräftet; kein Mensch soll mehr geopfert werden, kein Mensch soll mehr sterben für ein größeres Ziel; Gott will keine ganzkörperlichen Opfer mehr! Wir werden vom Gedanken der Opferung befreit oder erlöst, wobei Befreiung und Erlösung häufig als Synonyme auftreten.

Nur noch die Erinnerung an das letzthinnige Opfer, der ritualisierte, symbolische Nachvollzug, der bleibt, in der Sprache, in den Sprachen, im Wort, in den Künsten, im Gespräch.

René Girard: Le Bouc émissaire. Grasset, Paris 1982; darin insbesondere: Les maîtres mots de la passion évangélique, S. 151-167; Qu’un seul homme meure…, S. 167-186. Zitat hier: S. 227

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Nov 202016
 

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Verführerisch nahe Begegnung mit der Spitzkopfnatter im Aquarium des Berliner Zoos! Drei Exemplare dieser Art – gonyosoma oxycephala – boten uns gestern einen Tanz der Bewegungen, ein so wiegendes Züngeln, ein so geschmeidiges Schlängeln und Schlingen, ein Schwanken und Sich-Ranken, dass ich den Blick nicht abwenden konnte. Nur die Glasscheibe trennte uns. Aber die Beziehung schien da zu sein. So mochte es den alten Vätern ergangen sein! Sie erkannten, dass Schlangen den Bewegungen des Menschen zu folgen scheinen, – oder dass die Augen des Menschen den Bewegungen der Schlangenleiber folgen.

Die hellgrüne Färbung der Spitzkopfnatter schützt sie vor dem allzu neugierigen Blick der Unvorbereiteten; bis in 1 m Höhe spannte sich dieses Exemplar gestern auf, um zu zeigen, was sie konnte! Hätte sie sich bedroht gefühlt, sie wäre blitzschnell zum Angriff übergegangen, daran hegte ich nicht den geringsten Zweifel. Auch ihr übelriechendes Analsekret hätte sie bedenkenlos eingesetzt.

Doch wollen wir der Natter nicht unrecht antun. Sie ist ungiftig.

Vielmehr zollen wir ihr hier Anerkennung und Bewunderung – nicht anders als es die Siebzig Dolmetscher in ihrer Übersetzung der heiligen Schriften getan. Die 70 bezeichneten die Schlange („den Schlang“, wie wir sagen dürfen, denn diese Art ist im Griechischen der 70 ein Maskulinum) als den klügsten aller Tiere. Sie schreiben über die Schlange in Gen 3,1:

῾Ο δὲ ὄφις ἦν φρονιμώτατος πάντων τῶν θηρίων τῶν ἐπὶ τῆς γῆς, ὧν ἐποίησεν κύριος ὁ θεός· καὶ εἶπεν ὁ ὄφις τῇ γυναικί Τί ὅτι εἶπεν ὁ θεός;

„Und der Schlang war der verständigste aller Tiere auf der Erde, die Herr der Gott gemacht hatte; und der Schlang sagte zu der Frau: Was hat der Gott eigentlich gesagt?“

Der Schlang hat also der Frau  zuerst die Frage nach Gott gestellt. Er – der Schlang – brachte damit über die Frau das jahrtausendealte Fragen nach dem Wort Gottes in Gang. Er verwickelte und verstrickte nach Schlangenart  den Menschen in das Gespräch über Gottes Wort. Er lehrte den Menschen das Fragen nach Gott. Das ist der Anfang der Theologie.

Nicht böse sei dein Sinn der Schlange,
Dass sie deinen Blick dir fange,
Solch ein herrliches Gewimmel
Bringt auf Erden uns den Himmel.

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Jun 232016
 

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„Fangen Sie nie einen selbständigen Hauptsatz  mit „und“ an! Auch ein Cicero, ein Caesar haben niemals einen Hauptsatz mit Et oder ac oder atque angefangen!“

Dies war die Ermahnung unseres hochverdienten Dr. Weinold, der uns am Gymnasium St. Stephan in lateinischer und deutscher Stilkunde unterwies.

Und – eine aneinanderreihende Konjunktion. Im guten deutschen Stil begann man keinen Hauptsatz nach einem Punkt mit „Und“.

Und um so weniger beginnt man ein ganzes Buch mit „und“, nicht wahr? Das wäre schlechter Stil, nicht wahr?

Und doch – drei der wichtigsten Bücher des Judentums beginnen mit der aneinanderreihenden Konjunktion ו (gesprochen ve), also  „und“: das zweite, das dritte und das vierte Buch Mose beginnen mit einem „und“ –

וְאֵ֗לֶּה שְׁמֹות֙ „Und das sind die Namen“
וַיִּקְרָ֖א „Und er rief“
וַיְדַבֵּ֨ר יְהוָ֧ה „Und redete in der Wüste“

Keine der geläufigen Übersetzungen, so genau sie auch sein mögen, lassen die drei mittleren der 5 Bücher Mosis mit einem Und beginnen, weder die Septuaginta noch die heutigen Bibeln des Christentums in englischer, italienischer oder irgendeiner anderen modernen Sprache.

Warum ist das so? Was fehlt? Mit welcher Berechtigung wird aus dem kanonischen Text ein „Und“ herausgenommen?

Ich befragte einmal hierzu einen Rabbiner in meinem Bekanntenkreis. Wir kamen erstaunt überein: „Jawohl, das Und bleibt unübersetzt.“ Aber warum? Wir fanden keine Antwort.

Eigentlich heißt es ja beim Umgang mit kanonischen Texten „nichts wegnehmen / nichts hinzufügen“, etwa im 5. Buch Mosis 4,2 oder 13,1. „Kein Jota soll davon weggenommen werden“, so sagt es auch Jesus (Matthäus 5,18) mit Bezug auf Moses.

Ganz ähnlich im allerletzten Kapitel im allerletzten Buch der christlichen Bibel, der Apokalypse (Offb 22,19).

Vermutlich drückt sich im aneinanderreihenden „und“ eine gänzlich andere Weltsicht aus als die, wie sie etwa das klassische Stilideal eines Cicero oder eines Caesar oder eines bayerischen Gymnasialprofessors vertreten mag.

Bild: und in der Wüste wachsen die Blüten … die Grauwacke im Park am Gleisdreieck am heutigen Tage.

 

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Jan 282016
 

„Die jüdische Übertragung der jüdischen Bibel ins Griechische wurde zur Voraussetzung der Kirche aus Juden und Heiden.“
Michael Tilly

“ Christianity is not buried in a book. It existed before the N. T. was written. It made the N. T. It is just because Christianity is of the great democracy that it is able to make universal appeal to all ages and all lands and all classes. The chief treasure of the Greek tongue is the N.T.“
A.T. Robertson

Wir spinnen den Faden fort:
Das Griechische ist immerfort die eigentliche Muttersprache, der Mutterschoß des Christentums, so wie das Hebräische die Muttersprache und Vatersprache des Judentums war, ist und immerfort bleiben wird. Wenn man wissen will, was Paulus von Tarsus, – der Hl. Paulus, der Apostel Paulus, der Heidenapostel, wie er auch genannt wird – in seinem Hohenlied der Liebe gesagt, gedacht, geglaubt, gefühlt und gesungen hat, wird man um eine nachhaltige Befassung mit den ältesten, in griechischer Sprache überlieferten Textzeugen nicht herumkommen.

Ja noch einen Schritt weiter müssen wir gehen: wenn wir wissen und erfahren wollen, was die Zuhörer Jesu, die Zuhörer Pauli, die Zuhörer des Evangelisten Johannes fühlten, glaubten, hörten, oder gar was Jesus Christus selbst wohl dachte, glaubte, lehrte, werden wir um eine eifrige Versenkung in die verschiedenen griechisch überlieferten frühesten Fassungen des Evangeliums nicht herumkommen.

Griechisch war die Muttersprache des Apostels Paulus, in der er geläufig predigte und gerne schrieb und dichtete; Hebräisch und Aramäisch sowie etwas Latein kannte und konnte er sicherlich auch; Aramäisch war eine wichtige Umgangs-, Alltags-, und auch Amtssprache im Ostteil des Imperium Romanum. Hebräisch war, ist und bleibt die Kult- und Kultursprache der Juden, von denen der Apostel einer war. Paulus hatte die Bibel sicherlich im Gottesdienst in hebräischer Sprache gehört.

Aber sein eigenes dichterisches Schaffen und griechisches Predigen beruhte – bis heute hörbar! – auf der verbreitetsten griechischen Übersetzung der Bibel, der sogenannten Septuaginta.

Das Hohelied der Liebe (1 Kor, 13) ist ein kultischer Gesang, eine Dichtung in freien Versen („vers libres“), ein Psalm, der nahtlos an den Schluß des Psalters (Ps. 150) aus der Septuaginta anschließt. Das geht bis in einzelne Wendungen hinein.

So sagt etwa Septuaginta in Ps 150,3-5:
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν ἤχῳ σάλπιγγος
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν ψαλτηρίῳ καὶ κιθάρᾳ
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν τυμπάνῳ καὶ χορῷ
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν χορδαῖς καὶ ὀργάνῳ
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν κυμβάλοις εὐήχοις
αἰνεῖτε αὐτὸν ἐν κυμβάλοις ἀλαλαγμοῦ

Paulus singt in 1 Ko 13,1:
Ἐὰν ταῖς γλώσσαις τῶν ἀνθρώπων λαλῶ
καὶ τῶν ἀγγέλων, ἀγάπην δὲ μὴ ἔχω
γέγονα χαλκὸς ἠχῶν ἢ κύμβαλον ἀλαλάζον

Man höre, singe und staune beide Psalmen einmal hintereinander weg! Was hört man da? Etwas Unerhörtes, nämlich die drei unterschiedlich gebeugten Wörter ἤχῳ/ἠχῶν/εὐήχοις (Hall, Schall, wohlklingendes Getöse), κύμβαλον/κυμβάλοις (Metallbecken), ἀλαλαγμοῦ/ἀλαλάζον (ängstliches oder kriegerisches Schreien).

Das ist kein Zufall! Es ist ein klarer, unüberhörbarer Anklang, ein Anknüpfen des Paulus an die ihm so vertraute, ihm so geläufige Dichtungstradition seines Herkunftskultes!

1 Ko 13, 1 ist also selbst ein lauttönender, ungeheurer Widerhall, ein Echo, eine gewaltige Überbietung, eine unerhört kühne Neuausprägung von Ps 150!

Paulus selbst nennt seinen hyperbolischen Psalm mit einem Terminus technicus der griechischen Rhetorik einen „Weg gemäß der Überbietung“ eine „καθ’ ὑπερβολὴν ὁδὸν“ (1 Ko 12, 31b).

Nur der singende Vortrag der Psalmen in Ps 150 und 1 Ko 13 wird die gesamte Bedeutungsfülle – das „ungeheure Getöse“, wie es zu Beginn des Faust II heißt – sinnlich und sinnesfroh erfahrbar machen.

Zitatnachweise:

Michael Tilly: Einführung in die Septuaginta. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Stuttgart 2005, S. 103

A. T. Robertson: GRAMMAR OF THE GREEK NEW TESTAMENT IN THE LIGHT OF HISTORICAL RESEARCH, 3. Auflage, Hodder&Stouton, London 1919, S. 1207
https://faculty.gordon.edu/hu/bi/ted_hildebrandt/new_testament_greek/text/robertson-greekgrammar.pdf, hier Seite 1207

https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/septuaginta-lxx/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/19/1500001/1509999/ch/05bb088a3c63bdd063c4c227d0c8f351/

https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/novum-testamentum-graece-na-28/lesen-im-bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/56/120001/129999/ch/f31d4ef29b41e6c819548227babea05c/

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Jun 112014
 

An Pfingsten, dem „lieblichen Fest“  versuchte ich einige Seelen für einen Besuch bei Kain zu gewinnen. Und bei mir vor der Kreuzberger Haustür tobte zeitgleich der Karneval der Kulturen mit offiziell 740.000 Besucher*innen. Beste Gelegenheiten!

Ein glühender Hauch hing über der Stadt Berlin, es war das heißeste Pfingstfest seit Beginn der Aufzeichnungen. 

 

Ich wartete bis 15.58 Uhr und murmelte der steinernen, geduldigen Königin Luise ein paar Verslein aus dem Purgatorio und aus dem Faust II zu. 

 

Das Warten in der sengenden Hitze Arkadiens half, denn ich fand dadurch das ganz große entscheidende Thema heraus, nämlich die Frage des Umgangs mit Schuld und Scheitern, auch die Frage des Verzeihens.

μειζων η αιτια μου του αφεθηναι με.

„Meine Schuld ist zu groß, als dass sie mir vergeben werden könnte.“

So sagte es laut der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, Kain, der Brudermörder, nachdem Gott ihm auf die Schliche gekommen war. Kain erkannte die Schwere seiner Schuld. Sie schien ihm untragbar und unverzeihlich.

Was mochte Königin Luise wohl zum Kains-Thema denken? Für Königin Luise gab es ja den Vertreter des Bösen schlechthin, das moralische Scheusal, den Kain in moderner Gestalt. Sie begegnete ihm am 6. Juli 1807 in Tilsit. Zweifellos änderte sie bei dieser persönlichen Begegnung ihr vorgefasstes Bild vom Menschen Napoleon. Sie vermenschlichte ihn gewissermaßen, sie entdämonisierte ihn, wie wir zweifelsfrei aus ihren Äußerungen schließen dürfen.   Wäre sie bereit gewesen ihm zu verzeihen?

 

Als krönenden Schlussstein des Gedankenganges erreichte ich schließlich das Evangelium nach Johannes von Pfingsten:

 ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας ἀφέωνται αὐτοῖς, ἄν τινων κρατῆτε κεκράτηνται.

„Nehmt den heiligen Hauch. Wenn ihr die Verfehlungen irgendwelcher vergebt, sollen sie ihnen vergeben werden. Wenn ihr sie verfestigt, sollen sie verfestigt sein.“

 

Die Nachfolger Jesu haben – so die Ansage des Johannes in Joh 20, 21-23 – die Gabe und den Auftrag, Sünden zu vergeben.  

Verzeihung der Schuld, das ist also laut Jesus keine Gnade, kein Wunder, keine Leistung der Flüsse Lethe und Eunoe, keine Leistung des Vergessens (Lethe) oder des Wohlwollens (Eunoe), sie ist keine überpersönliche Einwirkung der arkadischen Natur, wie das Goethe zu Beginn des Faust II, wie es Dantes Matelda in Purgatorio XXVIII verkündet, sondern eine persönliche Erfahrung  der vom Geist angeleiteten Begegnung zwischen Menschen in Fleisch und Blut.

Diese Verzeihung erfolgt aus der Freiheit des Entscheidens. Sie ist weder an einen Ritus und noch viel weniger an ein bestimmtes Gottesbild geknüpft. Sie ist an den Geist und an den Menschen geknüpft. Sie ist zweifellos an sprachliches Handeln geknüpft. Sie vollzieht sich im Medium des in Freiheit gesprochenen Wortes.

 Posted by at 23:39
Nov 102011
 

Das Christentum entsteht ganz wesentlich aus der Übersetzung gesungener und gesprochener hebräischer und aramäischer Worte in die damalige Weltsprache Griechisch. Alle europäischen Völker haben durch Übersetzungen der Grundtexte des Christentums den Weg zur Schriftlichkeit gefunden. Nachhören, Nachtasten verschiedener Übersetzungen vermag unterschiedlichste Schichten der Bedeutung freizulegen. Erst im bewussten Wählen und Entscheiden für eine Übersetzung entsteht das aufleuchtende Nu der Begegnung des Du.

καὶ δώσεις τῷ δούλῳ σου καρδίαν ἀκούειν καὶ διακρίνειν τὸν λαόν σου ἐν δικαιοσύνῃ τοῦ συνίειν ἀνὰ μέσον ἀγαθοῦ καὶ κακοῦ· ὅτι τίς δυνήσεται κρίνειν τὸν λαόν σου τὸν βαρὺν τοῦτον;

Anhand der kanonischen griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, der Septuaginta, übersetze ich die vorstehende Stelle 1 Könige 3, 9 in meine grobschlächtige, unbehauene Sprache:

„Gib deinem Sklaven ein Herz um zu hören und zu rechtleiten dein Volk in Gerechtigkeit des Vernehmens nach dem Maß des Guten und Bösen: denn wer wird können dein Volk rechtleiten dieses plumpe?“

Die Einheitsübersetzung verlautet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden weiß. Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren?“

Beim Lesen einer Kinderbibel mit meinem neunjährigen Sohn erreichte mich die folgende Wiedergabe derselben Stelle: „Wenn du mir wirklich etwas schenken willst, so erbitte ich für mich ein Herz, das auf dich hört und das versteht, was du wünschst. Denn deine Hilfe und deinen Rat werde ich brauchen, wenn ich dein Volk weise und gerecht führen und regieren soll.“

Martin Luther übersetzt:

So woltestu deinem Knecht geben ein gehorsam hertz / das er dein Volk richten müge / vnd verstehen / was gut und böse ist / denn wer vermag dis dein mechtig Volk zurichten?

Das griechische τὸν βαρὺν τοῦτον gebe ich eher sinnlich-wörtlich, deutlich anders wieder als der Hauptstrang der europäischen Übersetzungen: Salomon lässt sich hier heftig anklagend über dieses „schwere“, „schwierige, widerspenstige, unregierbare“ Volk aus. Das Substantiv Rechtleitung, das Verbum rechtleiten wiederum entnehme ich geläufigen deutschen Übersetzungen anderer Grundschriften anderer Religionen. Es scheint mir das gemeinte Amt des Richter-Königs am besten zu treffen.

Ein unregierbares Volk! Nicht umsonst geht’s ja gleich im ersten Gerichtsverfahren um zwei Huren, die einander das Kind wegnehmen wollen. Und so etwas soll das Volk Gottes sein!

Die hier soeben entstandene Übersetzungsvariante setzt sich ab von der eingeführten Auffassung der früheren Deuter. Das Volk wird in der hier vorgeschlagenen Übersetzung als unregierbare, unsteuerbare Menge geschildert, die jederzeit bereit ist, den Einflüsterungen der umgebenden Religionen und Kultstätten zu folgen, „da dem Namen des Herrn noch kein Haus gebaut war“. Multiple Kulte, Multikulti statt Monotheismus! Ein buntes Treiben.

Für kanonisch, für prägend halte ich jedoch die Wendung“Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz“.

Großartig ist da der weise salomonische Ratspruch: Gut ist das, was dem Kind dient. Welchen rechtlichen Status das Kind hat, wird unerheblich, solange es ihm nur gut geht. Ein großartiges Zeugnis, ein bezwingendes Zeignis für den überragenden Rang des einzelnen Lebens, das seine Würde unabhängig von rechtlicher Eindeutigkeit behauptet.

Quellen:
Septuaginta, ed. Rahlfs, Stuttgart 1979, S. 633
Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Stuttgart 1980, S. 417
D. Martin Luther. Die gantze Heilige Schrifft. Wittenberg 1545. Nachdruck im dtv Verlag, München 1974, S. 629
Sabine Rahn: Die Kinderbibel zum Vorlesen. Bilder von Britta Gotha. Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg 2009, S. 71

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Apr 182010
 

„Du sollst den Zuwanderer lieben wie dich selbst.“ 3. Buch Mose (Levitikus 19,34). Genaue Überprüfung des griechischen Textes der Septuaginta ergibt: Es ist bis in die letzte Verb-Endung hinein derselbe Wortlaut wie beim neutestamentlichen Gebot der Nächstenliebe, das Levitikus (19,18) ebenfalls bringt und das bekanntlich Jesus von Nazaret zitierend wieder aufgreift (Mt 5,43).

Gottesliebe, Liebe zum Nächsten, Liebe zum Zuwanderer, Selbstannahme-Selbstliebe: ein erstaunlicher Vierklang. Sie gehören alle zusammen. Leider ist das Gebot der Zuwandererliebe kaum bekannt bei uns. Ich habe noch nie einen Christdemokraten dieses Gebot zitieren hören. Lesen sie noch die 5 Bücher Mosis? Enttäuschend. Was läge darin für ein Schatz.

 Posted by at 16:25