„Sermo potius quam oratio dicitur“. Note sulla traduzione erasmiana di Giovanni 1,1

 Desiderius Erasmus von Rotterdam, Erasmus, Johannesevangelium, Novum Testamentum graece  Kommentare deaktiviert für „Sermo potius quam oratio dicitur“. Note sulla traduzione erasmiana di Giovanni 1,1
Feb 042024
 

Traduzione dal tedesco del post del 18 novembre 2016:

Per la comprensione della formula erasmiana „in principio erat sermo“ come traduzione del noto Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, l’uso ciceroniano del vocabolo sermo mi sembra abbastanza decisivo. Cicerone e, in misura minore, Cesare erano la linea guida vincolante di un buon uso esemplare del latino per gli umanisti come Erasmo. Nell’opera di Cicerone, sermo si riferisce a una conversazione, o a un discorso sciolto, fluente, gentile, non violento, in lingua naturale, come diremmo oggi. Mentre il discorso retorico, l‘oratio abilmente realizzata – sia in tribunale, sia nell’assemblea del popolo, sia in senato o durante le celebrazioni – suscita passioni, cerca di influenzare e sopraffare l’ascoltatore, il sermo filosofico coltiva un’interazione socievole; Il sermo cerca lo scambio, non la vittoria; l’incontro, non la sopraffazione; il dialogo, non il monologo (unius oratoris lucutio); la comunione nella parola, non l’unione forzata in una volontà collettiva. Cicerone scrive, ad esempio, nel suo Orator ad Brutum:

Mollis est enim oratio philosophorum et umbratilis nec sententiis nec verbis instructa popularibus nec vincta numeris, sed soluta liberius; nihil iratum habet, nihil invidum, nihil atrox, nihil miserabile, nihil astutum; casta, verecunda, virgo incorrupta quodam modo. Itaque sermo potius quam oratio dicitur. Quamquam enim omnis locutio oratio est, tamen unius oratoris locutio hoc proprio signata nomine est.

Cicero, Orator ad M. Brutum, 64

Il sermo lascia quindi all’interlocutore la sua libertà di scelta; l‘oratio mira ad accattivare, influenzare, incantare e persuadere – per cui ogni mezzo è giustificato, compresi gli insulti, le lodi, l’istigazione all’odio, il balbettio supplichevole.

Cicerone attribuisce la suddetta libertà di scelta in particolare al dialogo filosofico, non al discorso pubblico impreziosito.

Ora, con la sua proposta di traduzione di Giovanni 1 „In principio erat sermo“, Erasmo attribuisce anche questa libertà di scelta all’azione creatrice di Dio; viceversa, la frase del prologo di Giovanni acquista un nuovo e profondo significato in quanto questa libertà di dialogo viene attribuita anche all’uomo. Erasmo, che conosceva e venerava Cicerone, trasferisce il discorso informale del dialogo filosofico al dialogo di Dio con la creazione, al dialogo della creatura con Dio, al dialogo tra gli esseri umani.

Un concetto così ampio di libertà nettamente separa Erasmo da Lutero. Lutero non conosceva e non riconosceva la libertà in questo senso ampio e globale. La formula di Lutero era servum arbitrium; Erasmo, invece, ha abbracciato la causa del liberum arbitrium, la libertà del libero arbitrio. Questa è la fede erasmiana nella libertà, che lo distingue profondamente da Lutero, con la sua dipendenza assoluta e fatale dell’uomo dalla volontà di Dio.

Ma noi andiamo ancora oltre: con la formula „In principio erat sermo“, Erasmo rifiuta la dipendenza dell’uomo dal destino. La comunità di destino diventa una comunità di dialogo. Il dialogo divino da cui emerge il mondo non è già con Dio, ma piuttosto verso Dio (πρὸς τὸν θεόν), e quindi ci rende liberi. Ci libera dalla schiavitù della colpa. Livella la differenza abissale tra Dio e l’uomo. „Spianate nella steppa la strada“, questo versetto di Isaia (40,3), riferito a Cristo, significa: c’è un dialogo tra Dio e l’uomo, e colui che apre la strada a Dio, per la fede erasmiana nella libertà, non può che essere Gesù. In lui, attraverso di lui e con lui, si verifica l’emergere di un nuovo modo di pensare la libertà, che non esisteva in questa forma radicale prima del Vangelo di Giovanni, e che da allora è stato abbandonato tante volte.

Vangelo secondo Giovanni, Novum testamentum graece, ed. Erasmiana, 1,1-13

Foto:
Un dialogo. Affresco a Castel Roncolo presso Bolzano, foto del blogger chi scrive, 12/08/2016

 Posted by at 20:02

Wie heißt du: Hansi, Johannes, Ἰωάννης, יֹוחָנָן, Yahya, يحيى, Ivan, Wanja…?

 Gnade, Hebraica, Novum Testamentum graece, פרקי אבות  Kommentare deaktiviert für Wie heißt du: Hansi, Johannes, Ἰωάννης, יֹוחָנָן, Yahya, يحيى, Ivan, Wanja…?
Aug 292020
 

Ἰωάννης ἐστὶν ὄνομα αὐτοῦ. καὶ ἐθαύμασαν πάντες. „Sein Name ist Johannes. Und da gerieten alle in Verwunderung.“

So beendet der Evangelist Lukas die äußerst erstaunliche Geschichte der Namensfindung des nach christlichem Glauben letzten Propheten des alten Judentums, Johannes des Täufers. Beachtlich: Der Name wird dem jungen Juden beim Beschneidungsfest nicht durch den Vater, sondern durch seine Mutter Elisabet beigelegt. Sie ist es, die sich dem Wunsch der Verwandten und Nachbarn widersetzt und den vorgeschlagenen Vatersnamen Zacharias ablehnt. Sie ist es, die entgegen dem Drängen der Umstehenden NEIN sagt und anordnet: οὐχί, ἀλλὰ κληθήσεται Ἰωάννης. – „Nein, der wird Johannes heißen!“ Der seit längerem durch Sprachverlust gezeichnete Vater Zacharias stimmt zu – und dank seiner Zustimmung gewinnt er seine Sprechfähigkeit wieder. Und da gerieten alle in Verwunderung.

Die Vorbesichtigung der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin am Freitag, dem 21. August, spätnachmittags bot uns reichlich Anlass, über die gegenstrebigen Verwebungen des Judentums und Christentums nachzudenken. Verwebungen, die sehr tief gehen, die die Sprachgrenzen überschreiten, die enge Verwandtschaften und Nachbarschaften verbunden und zerrissen haben, oft auf schmerzhafte Weise.

Am Beginn der beeindruckenden neuen Dauerausstellung wird man aufgefordert, den eigenen Namen ins Hebräische „übersetzen“ zu lassen – ich gebe meinen Namen ein, und es erscheint mein deutscher Name in hebräischen Buchstaben transliteriert, wie man ihn heute in hebräischen Texten lesen kann: יוהנס

Ins Hebräische zurückübersetzt würde er anders lauten – nämlich   יֹוחָנָן / Jochanan, denn bekanntlich ist ja die griechische Namensform Johannes eine „Übersetzung“ aus dieser hebräischen Namensaussage, die in etwa bedeutet: „Gott tut immer wieder mal aus eigenem Wollen etwas Ungewöhnliches, etwas Großes, etwas Tolles! Gott ist gnädig.“

Der ungewöhnliche Akt der Rebellion der weiblichen Namensfindung – gegen den Mehrheitswillen der Nachbarn und Verwandten – verhalf diesem Namen in der gesamten christlichen Welt zu einer ungeheuren Karriere, denn in allen europäischen Sprachen, aber auch im arabisch-islamischen Kulturraum ist er ein geläufiger Vorname geworden. Im deutschen Mittelalter wurde er etwa jedem zweiten männlichen Deutschen beigelegt. Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang Goethe sind zwei berühmte Träger dieses Namens, denen ich in meinem eigenen Leben seit vielen Jahren einen überragenden Platz gleich hinter jenem jüdischen Propheten, dem Weggefährten, Taufspender, Verwandten und Schicksalsgenossen Jesu zuspreche.

Was liegt an einem Namen? Viel, manchmal alles! Der Cheftrainer des FC Bayern München, Hansi Flick – bürgerlich Hans-Dieter Flick – besteht darauf, dass er mit seinem seit Kindheit vertrauten Rufnamen angesprochen wird. Auch dieses „Hansi“ ist eine späte Verwandlung dieses erstaunlichen Namens Jochanan, der es nun bis auf den beifallumtosten Gipfel der europäischen Champions League gebracht hat. καὶ ἐθαύμασαν πάντες. Beim Triumph des Hansi Flick geriet die gesamte Weltfußballöffentlichkeit in Erstaunen, ja in Verzückung.

Die ungeheure Karriere dieses Namens Johannes geht also weiter. Er ist topaktuell. Und uraltes Erbe des Judentums.

Belege:
Nestle-Aland. Novum Testamentum graece. 28., revidierte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012, S. 181-182 (Lc 1,59-66). Übersetzung aus dem Griechischen durch Johannes Hampel

Christian Eichler: Trainer Flick und seine Bayern-Bande. Der Champions-League-Sieger. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.08.2020 (Online-Ausgabe)

 Posted by at 21:27

„Warum seid ihr so feige?“ Die Schimpferei Jesu an seine Schüler in Mk 4,24-41

 Antike, Apokalypse, Corona, Feig, Griechisches, Homer, Novum Testamentum graece, Seuchen  Kommentare deaktiviert für „Warum seid ihr so feige?“ Die Schimpferei Jesu an seine Schüler in Mk 4,24-41
Mrz 292020
 
Weiter, immer weiter führt der geheinmisvolle Weg. Was hinter der Ecke wartet, wissen wir nicht.

τί δειλοί ἐστε οὕτω; πῶς οὐκ ἔχετε πίστιν; „Was seid ihr so feige?“, „warum seid ihr so feige?“, so der sichtlich ungehaltene Jesus in jener hübschen Begebenheit, welche uns Matthäus, Markus und Lukas in gleichen Grundzügen, obschon mit einigen Abwandlungen berichten.

Übersetzen wir zunächst einmal die Stelle aus den griechischen Textzeugen für Mk 4,24-41 heraus, wie sie uns die Handausgabe des Novum Testamentum Graece in der 28. Aufl. (Stuttgart 2012) bietet. Wir lesen da:

Als es an diesem Tag Abend geworden war, sagte er zu ihnen: Fahren wir hinüber! Sie schickten die Menschenmenge fort und fuhren ihn weg in dem Boot, in dem er war; und andere Boote waren auch dabei. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es schon vollzulaufen begann. Er lag hinten im Boot an der Kopfstütze und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Lehrer, geht es dich nichts an, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein. Da sagte er zu ihnen: Warum seid ihr so feige? Habt ihr denn kein Vertrauen? Da packte sie große Angst und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?

τί δειλοί ἐστε οὕτω; „Warum seid ihr so feige?“ Keine der heute üblichen deutschen Übersetzungen gibt dieses bestens bezeugte, von Homer bis zum heutigen Griechischen in den Jahrhunderten und Jahrtausenden vielfach belegte Adjektiv δειλός in seiner gängigen Bedeutung „feige, jämmerlich, nichtswürdig“ wieder. Das ist schade, geht doch die Pointe der Erzählung vom Sturm auf dem See damit verloren.

Denn der Vorwurf der Feigheit ist einer der schlimmsten, der gegen die Männer der Alten Welt im griechischen Sprachraum erhoben werden konnte. Bereits Achilles verwahrt sich mit zornigen Worten gegenüber Agamemnon gegen dessen unbillige Zumutungen, indem er genau dieses häufig verwendete Schimpfwort δειλός als Ausdruck besonderer Verächtlichkeit anführt (Homer Ilias, I, 293-294):

ἦ γάρ κεν δειλός τε καὶ οὐτιδανὸς καλεοίμην
εἰ δὴ σοὶ πᾶν ἔργον ὑπείξομαι ὅττί κεν εἴπῃς·

Ein Feigling und Nichtsnutz müsste ich heißen,
wenn ich dir nachgäb in allem, was du verlangst!

Wie so oft hat Jesus in dieser Lage heftige, schroffe Worte gewählt, die an Beleidigungen grenzen. Man geht nicht fehl, wenn man sagt: Er schimpft seine Schüler aus.

Der Vorwurf der Feigheit, den der jüdische Lehrer seinen Schülern entgegenschleudert, könnte darauf hinweisen, dass er die Lage auf dem See anders eingeschätzt hat als alle anderen. Der Schiffsuntergang war wohl objektiv Ausgeburt einer deutlich übertriebenen Furcht. Offensichtlich hatte sich unnötige Panik an Bord ausgebreitet, eine Art epidemische Angst, wie man sie in Gesellschaften der alten und der heutigen Zeiten immer wieder erlebt. Jesus, der ein überragendes Sensorium für kollektive Hysterien hatte, scheint ein Gespür dafür gehabt zu haben, dass die Wetterlage nicht so schlimm war, dass er seinen Schlaf hätte unterbrechen müssen. Er wollte offenkundig in Seelenruhe weiterschlafen und fühlte sich grob aus dem Schlaf gerissen. Deshalb auch seine unwirsche, kurz angebundene Ansprache an Wind, Wasser, Mensch.

In einem beeindruckenden Auftritt hat Papst Franziskus am vergangenen Freitag auf dem Petersplatz genau diese Stelle nach dem Evangelium des Markus gewählt, um seine Gedanken über die angstbeherrschte Lage, in der die Menschheit sich befindet, darzulegen.

Die Seelenruhe Jesu mag auch heute in heutigen hektischen Zeiten, wo allerorten in allen Kanälen mediale und soziale Schiffsuntergänge beschworen werden, als Aufruf zu mehr Gelassenheit, zu mehr Vertrauen verstanden werden.

Der Tag ist noch nicht zu Ende. Wir sind nicht am Ende! Es gibt Gefahren. Es hat sie immer gegeben. Ja. Aber wir werden nicht zu Grunde gehen. Die Schiffsuntergangspropheten haben nicht recht.

Übersetzungen aus dem Griechischen des Homer und des Evangelisten Markus durch den hier Schreibenden.

Belege:
Nestle-Aland. Novum Testamentum graece. 28., revidierte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012, S. 118 (Mc 4,35-41)

Der griechische Text in der griechisch-orthodoxen Fassung:

www.apostoliki-diakonia.gr/bible/bible.asp?contents=new_testament/contents_markou.asp&main=markou&file=1.2.4.htm

https://www.gottwein.de/Grie/hom/il01.php

https://www.vaticannews.va/it/papa/news/2020-03/preghiera-papa-francesco-coronavirus-adorazione-indulgenza.html

H. Hionides: Pocket Dictionary English-Greek, Greek-English, Atlantis, Athens o.J. Lemma δειλός

 Posted by at 15:33

Nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches

 Johannesevangelium, Novum Testamentum graece, Wanderungen, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches
Apr 012019
 
Links: Rundbogenöffnungen im Umgang der Sacrower Heilandskirche. Rechts: der Anfang des Johannesevangeliums in deutscher Übersetzung, nur mit Mühe zu entziffern

Ein winziger Augenblick aus der Wanderung vom vergangenen Samstag: Aus Mauerziegeln gewölbt sind die Arkaden des Säulenumgangs in der Sacrower Heilandskirche; sie öffnen den Blick auf das heilignüchterne Wasser des Sacrower Sees. Unter gequadertem Putz verschwinden sie als Werksteinimitation. Kannelierte Sandsteinsäulen streben nach oben, um schließlich in einem Ring feinprofilierter Palmetten aus gesandeltem Zinkguss zu enden. Ein alter Herr sitzt auf der Parkbank, völlig vertieft in das Lesen eines Buches.

Dem tastenden Blick erschließt sich nur nach und nach der Wortlaut und Sinn der in den gequaderten Putz eingetriebenen, eingeriebenen Lettern –

NICHT VON DEM GEBLÜT NOCH VON DEM WILLEN DES FLEISCHES NOCH VON DEM WILLEN EINES MANNES

und schließlich unterliegt es keinem Zweifel: hier ist der Anfang des vierten Evangeliums in Martin Luthers Übersetzung dem entdeckenden, forschenden Auge des Betrachters geboten. Fast nicht mehr lesbar dem Auge des Jetzt!

Staunendes Entzücken des in die steinernen Inschrift versenkten Archäologen, der hier die griechische Ausgangsschrift herauszulesen glaubt:
οὐκ ἐξ αἱμάτων οὐδὲ ἐκ θελήματος σαρκὸς οὐδὲ ἐκ θελήματος ἀνδρὸς

Das, was wir zuinnerst sein wollen und sein können, – so meint es Johannes – sind wir nicht „aus dem Blute“, also nicht durch Abstammung, noch „aus dem Willen des Fleisches“, also nicht als Ergebnis des biologischen Zeugungsaktes, noch „aus dem Willen des Mannes“, also fremdbestimmt durch den Willen eines anderen.

Der klassische griechische Tempel, die römische Basilika, der in griechischer Sprache verfasste Christushymnus vom Anfang des vierten Evangeliums, der erwachende Frühling, der alternde Mann auf der Bank, sie alle treten in einer zeitüberdauernden Harmonie des Gegenläufigen zusammen und enthüllen in der Rückschau einen großen Augenblick eines glückserfüllten großen Tages.

Aufnahme der Heilandskirche Sacrow bei einer Wanderung vom 30. März 2019. Zu den in Kursivschrift zitierten Einzelheiten der Baubeschreibung vgl.: Andreas Kitschke: Die Sacrower Heilandskirche. Herausgeber: Ars Sacrow e.V., 2014, S. 37-38

 Posted by at 15:25

τίς μείζων, Μαντέγνα ή Μπελίνι;

 Europäische Galerie, Kupferstichkabinett, Novum Testamentum graece, Philosophie  Kommentare deaktiviert für τίς μείζων, Μαντέγνα ή Μπελίνι;
Mrz 022019
 


ἐπηρώτα αὐτούς· τί ἐν τῇ ὁδῷ διελογίζεσθε; πρὸς ἀλλήλους γὰρ διελέχθησαν ἐν τῇ ὁδῷ τίς μείζων

„Er fragte sie: worüber habt ihr euch unterwegs auseinandergesetzt? Sie hatten sich nämlich auseindergesetzt, wer größer ist.“

Nun, an einem Stehtisch lauschte ich kürzlich, genüßlich eine Focaccia kauend, einer gelehrten Unterhaltung zweier Kunstfreunde. Das Thema lautete: Wer ist größer, Mantegna oder Bellini?

Diese Frage – „Wer ist größer?“ ist wohl alt, sehr alt. Der Evangelist Marcus, aus dem wir eingangs zitierten, hat uns ein hübsches kleines Gespräch mehrerer Wanderer überliefert. Er rahmt dieses Gespräch sehr passend ein in eine Rahmenhandlung. Framing, also Rahmung, nennt sich das heute bekanntlich, obwohl die Sache alt ist und schon einen Bart hat. Ich selber weiß die Antwort auf die Frage nicht, wer von den beiden der größere ist, Mantegna oder Bellini. Sehr wohl aber haben wir Hinweise darauf, was die Menschen meinen, wenn sie sagen: Dieser oder jener war ein großer Mann.

Was ist das eigentlich, ein großer Maler, ein großer Mann, ein großer Mensch? Die soeben glanzvoll eröffnete Ausstellung „Mantegna und Bellini“ bietet reichlich Gelegenheit, über diese Frage nachzudenken.

Wer ist ein großer Mann? Gaius Julius Caesar? Ja! Nach allem, was wir wissen, galt Gaius Julius Caesar als der größte Mann unter allen Lebenden seiner Zeit. Nicht zufällig wurde er als einer der wenigen Menschen zu Lebzeiten bereits durch Senatsbeschluss zum Gott erklärt. Wir haben steinerne Belege dafür spätestens seit seinem Sieg bei Thapsus im Jahr 46 vor Christus. Inschriften nennen ihn MP·C·IVLIVS·CAESAR·DIVVS: Imperator Gaius Iulius Caesar Divus.

So haben wir eine erste eindeutige Antwort auf die Frage, wer ein großer Mann ist: Gaius Julius Caesar ist in mancherlei Hinsicht der größte Mensch seiner Zeit gewesen. Dafür haben wir zahlreiche Zeugnisse.
Dass an der Größe Caesars keine Zweifel bestehen konnten und können, kann als ausgemacht gelten. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Eine andere Frage ist, ob der Evangelist Marcus dem so zustimmen würde. Gewusst hat er es sicher, dass die Menschen weltweit so denken.

Und so sahen ihn, so hörten, sie verehrten die Römer mit Trompeten diesen großen, den größten Mann seiner Zeit: mit pausbäckigen Musikanten, dickbauchigen Krügen, schmetterndem Schall, wogendem Gedränge:

„Divo Julio Caesari“. Holzschnitt von Andrea Andreani nach der Bilderserie von Mantegna: „Der Triumphzug Caesars“. Kupferstichkabinett Berlin. Derzeit zu sehen in der Gemäldegalerie Berlin in der Ausstellung „Mantegna und Bellini“.

Das griechische Zitat zu Beginn dieser Betrachtung haben wir dem Evangelium des Markus entnommen (Mk 9,34).

https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/mantegna-und-bellini.html

 Posted by at 00:19
Jan 042019
 
Charles-Joseph Natoire: Die Ruinen des römischen Kaiserpalastes auf dem Palatin, 6. Mai 1760. Kupferstichkabinett Berlin. Gesehen in der Ausstellung: Rendezvous. Die französischen Meisterzeichnungen des Kupferstichkabinetts. Ausstellung von 07.12.2018 bis 03.03.2019


ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν. So das Wort Jesu laut Lukas 13,35. Also geht euch verloren euer Haus, dürfen wir grobschlächtig übersetzen. Eine Klage über den Verlust des Hauses, in dem sie zu leben glaubten, eine Voraussage über die Zerstörung des Tempels, über das „Ende der Welt, wie sie sie kannten.“ Jesus lebte in der Naherwartung, er glaubte, das Ende der Welt, wie er sie kannte, stehe unmittelbar bevor. Das Ende seines Lebens wurde später von den Überlebenden, die sich zu ihm bekannten, als Vorwegnahme des Endes der Pracht und Herrlichkeit des alten Israel gedeutet, wie es dann als große Katastrophe im Jahr 70 eintrat.

Die Perikope aus dem Lukasevangelium kommt mir immer wieder in den Sinn, sobald ich an den Ruinen der großen Welt vorbeikomme. Nacherleben der verlorenen großen Welt!

Ob es nun der unter Kaiser Titus zerstörte Jerusalemer Tempel oder die Ruinen des Palatinspalastes sind: Die neue Ausstellung des Kupferstichkabinetts Berlin bietet reichlich Gelegenheit, dieses Vorher und Nachher zu bestaunen, nachzuerzählen, nachzuerleben.

Große Kunst – wie sie hier an den französischen Meisterzeichnungen zu erfahren ist – geht häufig aus der Erfahrung der Zerstörung des Großen hervor, aus der Erfahrung des Nachher. Sie ist Nachhall eines unersetzlichen Verlustes.

Aber sie, diese Zeichnung, verbürgt auch den Neuanfang. Sie legt Zeugnis davon ab, dass es auch ein Leben nach dem Zeitenbruch gibt. Friedlich weidende Kühe, die melkende Hirtin, nicht zuletzt aber die an einen Flußgott erinnernde, vorne lagernde Gestalt bekunden die Erwartung des Neuanfanges. Es ist, als raunte es uns aus der Zeichnung zu: „Das Leben geht ja weiter.“ Das Göttliche, der Gott ist vielleicht doch nicht ganz tot.

Nur das Haus des Großen, der Tempel des Göttlichen ist verloren, ist verworfen. Unser Haus ist zur Wüste geworden. Wir sind – die Unbehausten. Aber die Erinnerung daran lebt fort. Sie, Mnemosyne, spendet Kraft und schließt uns unter freiem Himmel zur Gedächtnisgemeinschaft zusammen.

 Posted by at 22:37

Wurde Jesus als künftiger „großer Mann“ geboren?

 Advent, Novum Testamentum graece  Kommentare deaktiviert für Wurde Jesus als künftiger „großer Mann“ geboren?
Dez 212018
 
Berliner Weihnachtsmänner rollen inmitten der Nacht auf ihren bulligen Bikes für einen guten Zweck über den Potsdamer Platz. Aufnahme vom 15.12.2018


Die zahllosen Legenden, Sagen und Phantasiebilder, welche – ausgehend von der Erzählung des Evangelisten Lukas – die Adventsgeschichte umranken, zeigen die Geburt Jesu nicht als die Geburt eines „großen Mannes“, sondern ganz im Gegenteil als etwas äußerst Unwahrscheinliches, als Geburt fast aus dem Nichts heraus, eine Geburt, die trotz größter Widrigkeiten und hochproblematischer sozialer Umstände doch noch einigermaßen gelang.  Und so habe ich mich bei der Planung eines Adventssingens vor vier Wochen auf die Suche in meinen Beständen gemacht, die diese Saite des „fast aus dem Nichts heraus“ zum Klingen bringen sollten, und da ja das Konzert unter dem Leitthema Maria stehen sollte, fand ich acht adventliche Marienlieder im Volksliedton, die tatsächlich „unterwegs“ zu Weihnachten sind und nicht das festliche Ereignis schon zur Unzeit vorwegnehmen, wie es die Supermärkte und Elektronik-Kaufhallen landauf landab zu tun pflegen.

Darunter fand ich auch ein Lied, in dem eine Fehlgeburt oder auch ein früher Kindstod Jesu angedeutet wird. Über Maria, die trotz ihrer Schwangerschaft eine beschwerliche Bergwanderung auf sich genommen hat, wird berichtet, ihr sei dabei Jesus entrissen worden:

„Sie hat wohl ihr liebes Kind Jesum verloren.“ 

Jesus – fast eine Fehlgeburt? Ein toller, albtraumartiger, zum Wahnsinn neigender Gedanke, der erhebliche Sprengkraft hat und das äußerst Merkwürdige, Sperrige, ja fast Unzumutbare der Adventsgeschichte trefflich einfängt.  Und dieses Marienlied, welches Walther Hensel 1919 im Schönhengstgau in Nordmähren aufgezeichnet hat, erzählt, dass das Baby oder der Fötus drei volle Tage lang verloren gegangen war. Verwaist, verlassen, mutterseelenallein, in einer feindlichen Natur, hart am Rand des Todes wird dieses noch nicht geborene oder auch neugeborene Junge geschildert. Das Junge – ich verwende diesen Ausdruck bewusst.

Nebenbei: Auch der Evangelist Lukas – von Beruf wohl Arzt – verwendet in seiner Erzählung von der Begegnung zwischen Maria und Elisabeth den Ausdruck „das Junge“, τὸ βρέφος, ein griechisches Wort, das für Tierjunges und menschlichen Fötus gleichermaßen verwendet wurde. Er hebt also des Johannes (und Jesu) gewissermaßen animalische Geschöpflichkeit hervor, wenn er sagt: ἐσκίρτησεν τὸ βρέφος ἐν τῇ κοιλίᾳ αὐτῆς, – „das Junge hüpfte in ihrem Bauch“.

Nachstehend der Text des Liedes, wie ich ihn in meiner Quelle fand:

 Maria, Maria ging übers Gebirg,
so begegnet ihr der heilige Ritter Sankt Jürg.
Wo gehst du hin, du heiliges Weib?
Du trägst den Herrn Jesum in deinem Leib.

Dort übers Gebirg, dort wehet der Wind,
dort sitzet Maria und wieget ihr Kind,
sie wiegt’s mit ihrer schneeweißen Hand;
so brachten ihr die Engel das Wiegenband.

Maria, Maria war hochgeborn,
sie hat wohl ihr liebes Kind Jesum verlorn;
sie hat ihn gesucht drei ganze Tag
mit weinenden Augen und großer Klag.

Maria, Maria hat ihn wiedergefunden:
Er war wohl mit Ruten und Geißeln gebunden;
er hat wohl zwei rote Wängelein,
das war der Maria ihr Söhnelein!


Quelle:

Inmitten der Nacht. Die Weihnachtsgeschichte im Volkslied. Herausgegeben von Gottfried Wolters. Mit Holzschnitten von Alfred Zacharias. Möseler Verlag, Wolfenbüttel 1957,  S. 12

 Posted by at 18:05

Von Sokrates zu Jesus. Eine Wanderung mit großartiger Rundumsicht

 Antike, Einladungen, Europäische Galerie, Jesus von Nazareth, Novum Testamentum graece, Platon, Sokrates  Kommentare deaktiviert für Von Sokrates zu Jesus. Eine Wanderung mit großartiger Rundumsicht
Dez 182018
 

Mich erreichte vor einigen Wochen die folgende Einladung zu einem Bibeltag in der Katholischen Akademie in Berlin – eine Einladung, der ich selbstverständlich aus vielen Gründen mit großer Wissbegierde Folge geleistet habe:

Bibeltag mit Prof. Dr. Michael Theobald am Samstag, dem 15. Dezember 2018, von 10.00-17.00 Uhr:
 
Von Sokrates zu Jesus.
Erzählungen vom Tod großer Männer in der Antike
 
Platons Darstellung vom Tod des Sokrates im Phaidon hat in der Antike gewaltigen Eindruck gemacht. Noch der vom Kaiser erzwungene Suizid des Seneca im 1. Jh. n.Chr. fand im Bericht des Tacitus eine Platon nachempfundene Stilisierung. Aus der alten Tradition der Erzählungen vom Tod großer Männer, zu denen auch die jüdischen Märtyrererzählungen aus den Makkabäerbüchern gehören, schöpften nicht zuletzt die neutestamentlichen Erzählungen vom Tod Jesu. Deren Besonderheit liegt darin, dass sie dank vieler Zitate und Anspielungen vor allem auf den Psalter in biblische Sprache gekleidet sind. Der Grund hierfür ist ihr ursprünglich liturgischer „Sitz im Leben“: Die Erzählungen dienten in den frühchristlichen Pesachfeiern der rituellen Erinnerung an Jesus.

Der Bibeltag möchte anhand der neutestamentlichen Erzählungen vom Tod Jesu auf dem Hintergrund ausgewählter paganer und jüdischer Texte einen Eindruck vom Ringen der ersten Christen um ihren Glauben an den Gekreuzigten vermitteln. Im Römischen Imperium sich zu einem wegen politischen Aufruhrs schändlich Hingerichteten zu bekennen, war ein Wagnis und zugleich eine Provokation herkömmlicher Gottesbilder. Angesichts heutiger Verharmlosung des Kreuzes lässt die Beschäftigung mit diesen Texten – gerade kontrapunktisch zur Weihnachtsseligkeit – ein wenig von der ursprünglichen Kraft des christlichen Glaubenserahnen.

Prof. Dr. em. Michael Theobald war Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen und ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V. Die Moderation des Bibeltages hat Pfarrer Dieter Wellmann.

Bild: Caspar David Friedrich: Ostermorgen. Öl auf Leinwand, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid

 Posted by at 11:23

„Continual state of being on the way to…“ Zu Joh 1,1

 Hebraica, Kupferstichkabinett, Novum Testamentum graece, Philosophie  Kommentare deaktiviert für „Continual state of being on the way to…“ Zu Joh 1,1
Jul 052018
 


Zu den erregendsten geistigen Erfahrungen überhaupt gehört es für mich, das Zusammenfließen, das streitige Miteinander-Ringen jüdischen und griechischen Sprachdenkens nachzuzeichnen. Ich könnte ein ganzes imaginäres Kupferstichkabinett mit Blättern aus der Geschichte dieses jahrtausendealten Versuches anhäufen! Einen herausgehobenen Platz nähme in diesem Kabinett zweifellos das vierte Evangelium ein.

Über etwa drei Jahrhunderte hinweg führten griechisches und jüdisches Denken eine besonders intensive Gesprächsbeziehung, und in genau diesen Jahrhunderten bildete sich das nachbiblische Judentum heraus; es entstanden aber auch auch die vier Evangelien, unter denen wiederum dem vierten, dem Johannesevangelium eine einzigartige Scharnierfunktion zukommt.

An einer intensiven Einbettung des Prologs zum Johannesevangelium in den Kontext der zeitgenössischen Midraschim versucht sich der in London und Melbourne lehrende Andrew Benjamin.

Ein genaues Nachlesen pagan-griechischer und geistlich-hebräischer Quellen führt ihn zu dem Schluss, dass insbesondere der erste berühmte einleitende Vers Joh 1,1 – wie mehrfach von dem hier Schreibenden behauptet – in der Tat vorrangig als Gerichtetsein, als Unterwegssein zu deuten und zu übersetzen ist. Eine dynamische, spannungsvolle, nicht ausschöpfbare Beziehung, die jeden dogmatischen Einhegungs- und Festlegungsversuch unterläuft! Benjamin fasst dies in Anlehnung an Franz Rosenzweig in die Wendung: „A continual state of being on the way“.

Beleg:
Andrew Benjamin: Hermeneutics and Judaic Thought, in: The Routledge Companion to Hermeneutics. Edited by Jeff Malpas and Hans-Helmuth Gander. Routledge, Oxon, New York 2015, S. 692-706, hier besonders S. 694

Bild:
Surferin auf stürmischer See. Antoniusaltar. Klosterkirche St. Anna im Lehel

 Posted by at 16:47
Feb 162018
 


23. 4. 81 – Palazzo vecchio, Firenze: Lettura su Dante.

Diesen handschriftlichen Eintrag entdecke ich in schwarzer Tinte in meinem reichlich mitgenommenen Exemplar der Commedia des Dante Alighieri. Soeben fand ich das schmucklose Taschenbuch in meinem Billy-Regal. Dante begleitet mich als lo duca mio seit Jugendjahren, genauer: seit ein Lateinlehrer irgendwann uns Buben in der neunten Klasse einfach so die Anfangsverse der Commedia rezitierte. Ich verstand kein Wort, aber ich verstand den Klang, ich verstand instinktiv die Sprachmusik Dantes, ich verstand: das ist Poesie.

Bei meiner ersten Fahrt nach Florenz im Jahr 1981 besuchte ich meine erste Lectura Dantis, erneut verstand ich wenig. Aber ich verstand: Das ist Philologie! Nur durch den öffentlichen Vortrag, die öffentliche Erläuterung eines solchen überragenden Werkes kann sich seine ungeheure Lebendigkeit erweisen.

Genug der Erinnerungen, zurück zu den drängenden Fragen der Jetztzeit! Der Theologe Eckhard Nordhofen wirft 2 Jahrtausenden Übersetzungsgeschichte vor, fast die gesamte Christenheit bete heute das Vaterunser mit einem eingebauten kapitalen Übersetzungsfehler. Die Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ sei falsch und widersinnig übersetzt. Es gehe gerade nicht um das gerade biologisch Lebensnotwendige, sondern um das im höheren Sinne Notwendige, das Hinzukommende, das Überwesentliche, das vom Himmel Fallende – das himmlische Brot: panis supersubstantialis. Die amtlichen Übersetzungen des Vaterunser in den unterschiedlichsten Sprachen (deren einige wir überprüft haben, darunter Russisch) seien grundfalsch. Eine taugliche Übersetzung dürfe nicht „unser tägliches Brot“, sondern müsse in etwa „unser überwesentliches, unser himmlisches Brot“ lauten.

Andere heutige Theologen und Bibelausleger wiederum – genannt seien hier Gianfranco Ravasi und Joseph Ratzinger – beharren in guter Kenntnis des textkritischen Befundes seit längerem darauf, das „tägliche Brot“ meine zunächst einmal das unmittelbare Lebenstaugliche, allenfalls sekundär mit hineingelegt und mitgedacht auch etwas hohes Hinzutretendes, ein „Epiphänomen“ der Gnade also.

Was hätte wohl Dante zu dem seit Jahrhunderten schwelenden brandaktuellen Zwist gesagt?

Bei seiner öffentlichen Lectura Dantis in Hamburg wies uns am vergangenen Dienstag der Schauspieler, Essayist und Philosoph Franco Ricordi darauf hin, Dante habe die vierte Bitte des Vaterunser eigenwillig übersetzt.

Wie? Nun, lesen wir zunächst noch einmal das griechische Original:

τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον

Dante gibt nun in seiner Umschreibung des Vaterunser in Purgatorio XI,13 diesen Vers Mt 6,11 so wieder:

Dà oggi a noi la cotidiana manna –

also zu deutsch etwa:
Gib heute uns das tägliche Manna

oder als stumpf schließender Endecasillabo con uscita tronca, das heißt mit 10 metrischen Silben:

Gib heute uns das täglich Himmelsbrot

Dante kommt damit dem Übersetzungsvorschlag Nordhofens, das ἄρτον ἐπιούσιον als himmlisches Brot zu übersetzen, erstaunlich nahe. Oder besser: Nordhofen kommt dem Übersetzungsvorschlag Dantes erstaunlich nahe.

Der Befund ist klar: Nicht die ganze Christenheit irrte! Dante hat wie einige andere seiner Zeitgenossen auch mit unerhört kühnem Ausgriff eine jahrhundertelange Übersetzungsquerele beizulegen versucht, die uns bis zu diesem Augenblick beschäftigt. Hat er es geschafft? Die Entscheidung liegt beim Du, sie liegt bei dir, o Bittender!

Ein Blick zurück in Demut ist nie verkehrt, sonst dreht man sich im Kreislauf der ewigen Wiederkehr!

Womit übrigens Dante recht behielte, wenn er sagt (Inf. XI, 13f.) :

Dà oggi a noi la cotidiana manna
sanza la qual per questo aspro deserto
a retro va chi più di gir s’affanna

Wir übersetzen abschließend Dantes drei Verse nunmehr:

Gib heute uns das täglich Himmelsbrot,
Fehlt es daran, so sehr wir uns im Kreis drehn,
Führt rückwärts uns der Weg in Wüstennot.

Dante Alighieri: La Divina Commedia. A cura di Fredi Chiappelli. Grande universale Mursia, 4a edizione, Milano 1976, p. 228-229 (Purgatorio, canto XI vv. 13-15)

Nestle-Aland: Novum testamentum graece, ed. vicesima septima, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999, Seite 13 [Mt 6,11]

Eckhard Nordhofen: Brot. Ein hapax für jeden Tag. Merkur 72 (824), Januar 2018, S. 86-93

Joseph Ratzinger: „Unser tägliches Brot gib uns heute“, in: derselbe, Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2007, hier besonders: S. 185-191

Gianfranco Ravasi: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ in: derselbe, Fragen und Verstehen. 150 Antworten des Glaubens. Aus dem Italienischen von Gabriele Stein. Mit einem Geleitwort von George Augustin. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2012, S. 289-292

Bild: Die Märzensonne scheint schon wolkenverhangen im winterlichen Februar. Sie wird die Blumenzwiebeln wecken. Aufnahme aus dem Schöneberger Südgelände, 12.02.2018

 Posted by at 12:08
Feb 052018
 

τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς ἡμῖν σήμερον·

Diesen textkritisch gut gesicherten Vers 11 aus Kap. 6 des griechisch verfassten Matthäusevangeliums liest und übersetzt die russisch-orthodoxe Kirche heute so:

хлеб наш насущный дай нам на сей день

Also zu deutsch: Unser dringend nötiges Brot gib für diesen Tag. Was die morgenländischen Christen beten, das beten ähnlich auch die abendländischen Christen. Das Vaterunser weist in dem östlichen und dem westlichen Flügel der europäischen Christenheit an dieser Stelle keinen nennenswerten Unterschied auf. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil die orthodoxe Übersetzung des Neuen Testaments gegenüber der westlichen Übersetzungstradition aus einem einfachen, unabweisbaren Grund höhere Dignität beanspruchen kann als die römische Tradition: Kyrill und Method übersetzten im Morgenland direkt aus dem Griechischen ins alte Slawische, während die etlichen bekannten volkssprachlichen Übersetzungen der Bibel im Abendland ab dem hohen Mittelalter bis knapp zu den Zeiten eines Melanchthon, Luther und Erasmus fast ausschließlich aus dem Lateinischen übersetzten, also aus zweiter Hand, aus der Übersetzung des griechischen Originals!

Eine kleine Recherche in alten Textzeugen, wie sie der Nestle-Aland noch in seiner vorletzten, der 27. Auflage zitiert, ergibt, dass die ältesten lateinischen Übersetzungen mit diesem nur hier vorkommenden griechischen Adjektiv ἐπιούσιος größte Schwierigkeiten hatten. Bezeugt sind in den ältesten Codices: cottidianus (täglich), supersubstantialis (Bedeutung nicht zweifelsfrei geklärt), perpetuus (andauernd), necessarius (nötig), veniens (kommend), crastinus (für den morgigen Tag). Es handelt sich um ein seltenes, wahrscheinlich in den vorhandenen griechischen Texten nur hier bezeugtes Wort, ein hapax legomenenon also. Selbst der Liddell-Scott-Jones, dieses mir seit meinem Gräzistik-Studium unerlässliche lexikalische Handwerkszeug, bringt es nur einmal, nämlich hier in dieser vierten Bitte des Vaterunsers.

Der Theologe und Philosoph Eckard Nordhofen vertritt neuerdings die These, diese herkömmliche Übersetzung der vierten Bitte des Vaterunsers sei irreführend. Wir zitieren ihn beispielhaft:

Üblicherweise wird diese vierte Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ so verstanden, dass es darum geht, immer genug zu essen zu haben. Eine gründliche philologische Untersuchung hat aber ergeben, dass diese Lesart, diplomatisch formuliert, „missverständlich“ ist.

Das Brot, von dem Jesus hier spricht, ist so besonders, dass er dafür einen außergewöhnlichen Ausdruck prägt und zwar mit einem Adjektiv, das es im Griechischen, der Sprache der Evangelien, nirgendwo sonst gibt. Man kann zeigen, dass auch im verlorenen aramäischen Urtext ein solcher Neologismus gestanden haben muss. Das Adjektiv ist einzigartig, aber nicht sinnlos. Der Kirchenvater Hieronymus hat es in der Vulgata, der lateinischen Fassung der Bibel, mit „supersubstantialis“ übersetzt. Ein „überwesentliches“ Brot also. Wenn man ohne Zungenbrecher vom „himmlischen Brot“ spricht, kommt man dem Ursprung nahe.

Quelle:
http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/vaterunser-die-versuchung-ist-nicht-das-problem

Vgl. jetzt auch ganz besonders Nordhofens neues Buch: Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus. Herder, Freiburg 2018; darin das Kapitel X: Die vierte Bitte: das neue Gottesmedium, S. 227-263

Eine 2011 geführte, sehr anregende Diskussion des Adjektivs supersubstantialis findet sich in folgendem Lateinforum:

http://www.latein.at/phpBB/viewtopic.php?f=20&t=33328

Hier werden Bezüge auf Aristoteles und sogar Platon angeführt, die die kühne These Nordhofens zu stützen scheinen.

Quelle:
Nestle-Aland: Novum testamentum graece, ed. vicesima septima, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999, Seite 13 [kritischer Apparat zu Mt 6,11]

Bild:
ein Blick in das Innere eines Flügels, aufgenommen am gestrigen Tag auf dem Flughafen Tempelhof

 Posted by at 22:15

Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος: יְהִ֣י אֹ֑ור – Am Anfang war das Wort: Es werde Licht

 Antiker Form sich nähernd, Griechisches, Hebraica, Johannesevangelium, Mündlichkeit, Novum Testamentum graece, Singen, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος: יְהִ֣י אֹ֑ור – Am Anfang war das Wort: Es werde Licht
Jan 132018
 

„Ich habe mir immer gedacht, wäre die alttestamentliche Behauptung Im Anfang war das Wort buchstäblich wahr, dann müßte dieses Wort ein gesungenes Wort gewesen sein… Können Sie sich vorstellen, daß Gott „Es werde Licht“ so ganz einfach vor sich hingesagt hat, so wie man Kaffee bestellt? Selbst in der Originalsprache: יְהִ֣י אֹ֑ור? Ich hatte stets die Phantasievorstellung, daß Gott die beiden flammenden Worte Y’HI-O-O-OR gesungen haben muß. Das mag der tatsächliche Schöpfungsakt gewesen sein. Musik mochte Licht hervorgebracht haben.“

Einer der großen Musik-Erzieher des 20. Jahrhunderts, Leonard Bernstein, ist zugleich auch ein bedeutender Anreger, ein Versöhner und Verbinder der beiden Bundesbücher der christlichen Religion, nämlich der hebräischen Bibel und des christlichen Neuen Testaments.

Das Johannes-Evangelium, der entscheidende, der krönende Abschluss der 27 neutestamentlichen Schriften beginnt bekanntlich mit dem Wort: Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, d.i. zu deutsch: „Im Anfang war das Wort und das Wort war zu Gott.“

Bernstein – dieser Name klingt so typisch deutsch, so typisch aschkenasisch, so typisch jüdisch – schreibt nun diesen Beginn des Johannesevangeliums ohne weitere Erklärung dem Alten Testament zu, also der hebräischen Bibel. Eine kühne Tat, die der amerikanische Dirigent mitteleuropäisch-jüdischer Herkunft hier vollbringt! Er denkt, nein er singt den Anfang der hebräischen Bibel und den Beginn des vierten Evangeliums zusammen. Eine ungeahnte Harmonie erklingt, eine Harmonie des jüdischen und des christlichen Bundesgedankens! Die Alte Bundesbuchsammlung (das AT) und die Neue Bundesbuchsammlung (das NT) werden unlösbar ineinandergeflochten.

Wir dürfen in der Nachfolge Leonard Bernsteins etwas Ähnliches wagen – die Harmonie der hebräischen und der griechischen Bibel, indem wir folgenden zweisprachigen Spruch niederschreiben:

Am Anfang war des gesungene Wort: Es werde Licht!

In der hebräisch-griechischen Fassung mochte der Verfasser des vierten Evangeliums tatsächlich so etwas gesummt und gesungen haben wie dies hier:

Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος יְהִ֣י אֹ֑ור

Und dieses Jahr möge das Jahr des Gesanges der Versöhnung werden!

Zitat:
Leonard Bernstein: Worte wie Musik. Herausgegeben und eingeleitet von Harald Schützeichel. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 47

Bild:
Blick von der Krim-Brücke auf den Fluss Moskwa, Bezirk Chamovniki, Moskau, aufgenommen vom hier Schreibenden am 05. Januar 2018

 Posted by at 12:48

Von Judas lernen (2)

 Europäische Galerie, Griechisches, Judas, Latein, Novum Testamentum graece  Kommentare deaktiviert für Von Judas lernen (2)
Dez 132017
 

Seit einigen Jahren habe ich mir angewöhnt, neben den geläufigen Übersetzungen der neutestamentlichen Schriften, etwa ins Lateinische oder Französische, stets auch die griechisch verfasste Urschrift zu bedenken. So auch bei dem Heilig-Blut-Altar des Tilman Riemenschneider, die der deutsche Schnitzer ab 1499 für die mittelfränkische Stadt Rothenburg fertigte. Das Retabel findet sich heute noch in der Stadtkirche St. Jakob. Ich sah es und bestaunte es in glühender Dankbarkeit im August dieses Jahres, zweifellos ein einsamer Höhepunkt meines Kunstjahres 2017!

Ich blickte forschend in die Gesichter Jesu und Judas hinein; da stellte sich wie von selbst jener griechische Satz ein, der sich mir unauslöschlich eingeprägt hat:

ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον. Was du tust, das sollst du schneller tun. So Jesus zu Judas bei Johannes 13,27. Ich hege keinen Zweifel: Um genau diesen Satz war es Tilman Riemenschneider zu tun!

Warum aber hat man hier vor allem an das vierte Evangelium zu denken? Nun, nur beim Evangelisten Johannes werden Jesus und Judas als gleichberechtigte Partner dargestellt, mehr noch: Jesus fordert Judas aktiv auf, den notwendigen Schritt zu tun, und zwar nicht zögernd, sondern rasch und entschlossen. Jesus führt also den Judas in die Versuchung hinein; im Gegensatz zu den anderen drei Evangelien taucht Jesus bei Johannes bewusst gleichzeitig mit Judas den Bissen ein. Er wählt Judas aus! Jesu Blick ist nicht böse, sondern verständnisvoll, wenn auch von herber Entschlossenheit geprägt. Nur zwischen Judas und Jesus herrscht in dieser Abendmahlsgruppe ein tiefes Einverständnis. Der Lieblingsjünger Johannes schläft hingegen; er scheint nicht alles mitzubekommen. Riemenschneiders Petrus denkt offenkundig als großartiger Theatermensch, der er war, schon an seine zukünftige Größe.

Nur Judas und Jesus stehen im Johannesevangelium zentral und mittig durch Worte und den gemeinsam eingetauchten Bissen verbunden im Bild! Nur Judas und Jesus sind bei Riemenschneider im Bilde!

Eine ungeheuerliche Leistung, die Tilman Riemenschneider hier vollbracht hat! Er wirft sich dem jahrhundertelangen Hauptstrom der Judas-Verdammung, der leichtfertigen Aburteilung über den „Verräter“ in den Weg! Amos Oz, der Israeli, Verfasser eines wichtigen Judas-Romans, hätte seine tiefe Freude an dieser Darstellung, dessen bin ich gewiss!

Zu den Schülern, die sich als Deutschlerner am damals noch bestehenden Goethe-Institut Rothenburg aufhielten, gehörte übrigens der aus Argentinien stammende Theologe Jorge Bergoglio; 1986 lernte er am Goethe-Institut Rothenburg Deutsch; wahrscheinlich dachte und betete er auch hier das eine andere Mal über den Sinn der Formel nach: Führe uns nicht in Versuchung.

Genau diese Bitte aus dem Vaterunser ist es, die Jesus hier bei Riemenschneider NICHT zu erfüllen bereit ist. Er führt vielmehr den Judas in die Versuchung hinein. Er schickt ihn in die Erprobung! Der Evangelist Johannes schildert es mit folgenden Worten:

26ἀποκρίνεται [ὁ] Ἰησοῦς· ἐκεῖνός ἐστιν ᾧ ἐγὼ βάψω τὸ ψωμίον καὶ δώσω αὐτῷ. βάψας οὖν τὸ ψωμίον [λαμβάνει καὶ] δίδωσιν Ἰούδᾳ Σίμωνος Ἰσκαριώτου. 27καὶ μετὰ τὸ ψωμίον τότε εἰσῆλθεν εἰς ἐκεῖνον ὁ σατανᾶς. λέγει οὖν αὐτῷ ὁ Ἰησοῦς· ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον.

 Posted by at 00:02