„Da l’odio proprio son le cose tute“. Ist Selbsthaß möglich?

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Mrz 252020
 
Aufwärts strebt der Baum, der Sonne entgegen; sie ist hier nicht sichtbar, aber sie IST; von ihr rührt alles pflanzliche Sein. Auch die Mistel hat ihre Berechtigung; sie ist nicht böse, ist kein Schädling, denn sie IST.

Am heutigen Dante-Tag, dem Dantedì, den eines meiner europäischen Vaterländer heute, am 25. März, zum ersten Mal ausgerufen hat, stolperte ich mehr oder minder zufällig im 17. Gesang des Purgatorio hinein in sechs Verse, in denen Dantes Vergil die Möglichkeit des Selbsthasses bestreitet:

Or, perché mai non può da la salute 
amor del suo subietto volger viso, 
da l’odio proprio son le cose tute;                                

e perché intender non si può diviso, 
e per sé stante, alcuno esser dal primo, 
da quello odiare ogne effetto è deciso.  

Streckfuß übersetzt die Stelle (V. 106-111) einigermaßen sinngetreu:

Nun, weil ob ihres Gegenstands sich freu’n
Die Liebe muß, an dessen Heil sich weiden,
Drum hat kein Ding den Selbsthaß je zu scheu’n!
Und weil kein Sein sich kann vom Ursein scheiden
Und ohne dieses für sich selbst bestehn,
Muß dies zu hassen jeder Trieb vermeiden.

In groben Umrissen ist der – mit Thomas von Aquin zu deutende – Gedankengang Dantes also folgender: Eine Art wohlwollende Befürwortung des Seins, ein Drang zueinander, in einem Wort: Liebe, deren letzter Ursprung Gott ist, treibt die Welt an, nur durch die Liebe hat alles Geschaffene Gestalt und Gehalt. Geschaffenes, das sich selbst hasst, sich selbst ablehnt oder verwirft, ist eine logische Unmöglichkeit, da eben alles Geschaffene aus der Liebe Gottes entspringt.

Muss man so denken, ist dies logisch zwingend?

Ricordatevi lettori, ihr seid unterrichtet, dass es über die Jahrtausende hin durchaus eine breite Spur an Denkern, Theologen, Psychologen und Sozialpsychologen gibt, die ganz im Gegensatz zu Thomas von Aquin und Dante dem Selbsthass, der Selbstverwerfung, der Selbstablehnung nicht nur die logische Möglichkeit, sondern sogar eine geradezu unvermeidliche Stufe des Selbstverhältnisses zuschreiben.

Aurelius Augustinus, Martin Luther, die Jesus-Worte in Lukas 14,26 oder auch Johannes 12,25 – (Belege sind reichlich in diesem Blog unter der Rubrik Selbsthaß angeführt) – fallen einem sofort in diesem Zusammenhang ein; auch der heute stark ausgeprägte, teilweise suizidale Selbsthass in Teilen der deutschen Kultur ist ein nicht wegzuleugnendes Phänomen, das der Erklärung bedarf!

Dante würde zweifellos gegenüber solchen erstarrten Selbstverwerfungen stets seine Idee der „Läuterung“, also der verwandelnden Erhellung des Seelendunkels in Anschlag bringen. Er würde nachweisen – und er erbringt ja auch den poetischen Beweis in seiner Commedia -, dass der Selbsthaß keinen Bestand hat. Der Hass, auch der Selbsthass, dessen Möglichkeit Dante bestreitet, ist eine vorübergehende Selbsttäuschung. Er schmilzt vor der Sonne weg. Das Seelendunkel wird sich aufhellen.

Nicht zufällig beginnt der 17. Gesang des Läuterungsberges mit einem grandiosen Chiaroscuro-Spiel, einem Ineinanderfließen von Verschattung, von maulwurfshaft verschlossenem, dunkel waberndem Sumpfhauch und mählich durchdringendem Sonnenlicht:

Ricorditi, lettor, se mai ne l’alpe 
ti colse nebbia per la qual vedessi 
non altrimenti che per pelle talpe,                               

come, quando i vapori umidi e spessi 
a diradar cominciansi, la spera 
del sol debilemente entra per essi;                               

e fia la tua imagine leggera 
in giugnere a veder com’io rividi 
lo sole in pria, che già nel corcar era.

Die Aufhellung dieser seelischen Verdunkelung, als die Dante den Hass wie jede Sünde begreift, ist das große Geschehen in diesem 17. Gesang. Mit diesem tröstlichen Gedanken beenden wir den heutigen Dantedì und erwarten das Chiaroscuro der nächtlichen Träume.

Quellentexte:

https://divinacommedia.weebly.com/purgatorio-canto-xvii.html

https://de.wikisource.org/wiki/Göttliche_Komödie_(Streckfuß_1876)/Purgatorio

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Von Judas lernen (1)

 Das Böse, Gnade, Jesus Christus, Judas, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Von Judas lernen (1)
Nov 252017
 

Auf einem Kapitell der Basilika Maria Magdalena im burgundischen Vézelay ist in der einen Leibung der nackte Judas zu sehen, der sich soeben erhängt hat. Aus dem weit aufgesperrten Mund ragt seine übergroße Zunge löffelartig heraus. Der linke Arm ist wie im Krampf nach vorne verrenkt. Der rechte Arm wirkt unnatürlich verlängert. Alles zieht ihn herab. Dem Judas hängt sein Leben buchstäblich zum Hals heraus. Leer starren die weit aufgerissenen Augen uns an. Er hat sich selbst verworfen. Fußlos wachsen die Beine in das Gesims. Sie sind steinhart erstarrt. Da geht nichts mehr! Es ist aus.

Ist es wirklich aus? Wir lassen den Blick über einige Akanthusblätter hinüberschweifen nach rechts. Übereck sehen wir die Gestalt des Guten Hirten, der den Erhängten abgenommen hat. Leicht fällt ihm dies nicht. Der Erhängte ruht schlaff herabhängend über beiden Schultern. Er hat endlich die Augen geschlossen. Er hat Frieden gefunden. Die Leichenstarre scheint von ihm gewichen. Er wirkt weich und ergeben. Er hat die Erstarrung der Schande und der Scham hinter sich gelassen. Jesus muss sich schon anstrengen, fast sieht es aus, als würden seine Füße abgleiten in den Abgrund. Jesus scheint zu zweifeln, er verzieht fast verzagt das Gesicht. Aber er packt es! Er trägt den Leib des Selbstmörders in eine neue Existenz hinein. Da geht noch was!

Ho imparato da Giuda che la vergogna è una grazia„, ich habe von Judas gelernt, dass die Scham eine Gnade ist. So schreibt es Franziskus in seinem neuen Buch, das den Titel Padre nostro trägt.

Scham, Selbstverwerfung, Selbsthass, Selbstvernichtung bis zum Äußersten. Diesen Durchgang stellt der Steinmetz von Vézelay dar. Franziskus spricht mit seiner Deutung der Scham als eines unverdienten Geschenks etwas Tiefbewegendes aus: Die Selbstverwerfung muss kein Letztes sein. Scham und Schande (und das Wort für Scham und für Schande lautet im Englischen wie im Italienischen gleich) sind Durchgänge, sind Übergänge!

Um diese Steinmetzarbeit rankt sich die Legende, dass Christus beim Jüngsten Gericht sich zuerst um Judas kümmern wird. Er wird ihn aufnehmen, ihm verzeihen und ihn weitertragen. Nicht um Petrus wird er sich zuerst kümmern, nicht um Johannes, sondern um Judas! Das Bildwerk in der burgundischen Basilika verleiht dieser Legende von der Erlösung des Judas eine besonders strahlende Wahrheit.

Zitat: La preghiera di Francesco. Le riflessioni del Papa sul Padre nostro. Corriere della sera, Giovedì, 23 Novembre 2017, Seite 28

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Denkmal der Ehre? Denkmal der Schande?

 Selbsthaß, Vergangenheitsunterschlagung, Vorbildlichkeit, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Denkmal der Ehre? Denkmal der Schande?
Nov 232017
 

Versonnene Herbsttage am Landwehrkanal… drüben liegt ein fest vertäutes Schiff vor dem Urbankrankenhaus. Die Sonne gießt ein verklärendes Licht über dem ehemaligen Hafen aus. Langsam schlendere ich an der Promenade im Hans-Böckler-Park entlang. Mein Blick fällt auf eine Skulptur.

Wer mag hier dargestellt sein? Ein Verbrecher, ein Vorbild? Sicher ein Deutscher! Jemand hat den unverkennbaren, weltweit bekannten schwarzen Oberlippenbart angebracht, wirre Schmierereien, darunter Hammer und Sichel, weisen den Dargestellten als Geächteten aus. Der Deutsche trägt das Kainsmal! Ein typischer Ausgestoßener, einer, mit dem man besser nichts zu tun haben will. Ja, dies muss ein Deutscher sein! So sieht ein typischer Deutscher aus! Unverkennbar sind ihm die Züge des Verbrechers aufgetragen. Kreuzberg bleibt sich selbst treu.

Eine Plakette belehrt mich: Ja, es handelt sich in der Tat um einen Deutschen. Aber meine Annahme, dieser Deutsche mit dem typischen schwarzen Oberlippenbart sei ein Nazi und ein Verbrecher, entpuppt sich als fehlgeleitetes Vorurteil. Ich muss gestehen: Man sieht als zufälliger Passant, gestäupt und gepudert durch einige Jahrzehnte deutscher Gedächtniskultur, unwillkürlich in allen Deutschen der Vergangenheit zunächst einmal Nazis oder Verbrecher.

Dargestellt ist jedoch hier Hans Böckler, geb. am 26. Februar 1875, gestorben am 16. Februar 1951 in Köln. Von Beruf Metallarbeiter; ein führendes Mitglied der deutschen Gewerkschaftsbewegung, SPD-Abgeordneter im Deutschen Reichstag. Zu Lebzeiten zweifellos ein Vorbild, heute dem Vergessen und der Verachtung preisgegeben. Oder wissen die Kreuzberger Schüler etwas von Hans Böckler? Nein, sie wissen sicher nichts von ihm, an dessen Büste sie vorbeigehen.

Die Schmierereien auf dieser Büste sind der augenfällige Beweis der Art, wie die deutsche Öffentlichkeit mit Vorbildern umgeht. Es darf keine deutschen Vorbilder geben! So werden unsere Kinder und Jugendlichen heute erzogen!

Hitler und Konsorten rauf und runter, deutsche Verbrechen, deutsche Völkermorde ohne Ende, das wird den Kindern in den Schulen eingebläut, dieses tiefdüstere Bild der deutschen Geschichte prägt die Feuilletonspalten in den meinungsprägenden Zeitungen.

Ich meine hingegen: Hans Böckler ist ein Vorbild, von dem unsere heutige Jugend etwas erfahren sollte, aber in der Tat nichts erfährt.

So wie diese Büste behandelt Berlins Jugend und überhaupt Berlin, so behandelt Deutschland die mutigen Aufrechten, die Ungebeugten der deutschen Vergangenheit. Merke: Nichts Gutes darf aus der deutschen Vergangenheit erinnert werden! Ein Deutscher kann nicht Vorbild sein!

Die Misshandlung der Hans-Böckler-Büste im Hans-Böckler-Park, ihr jetziger Zustand ist ein Denkmal der Schande.

Foto aufgenommen am 20.11.2017

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Nov 072017
 

Bei meinen eigenen Reisen durch Italien, Russland, Großbritannien und Frankreich fällt mir immer wieder auf, wie unterschiedlich diese Länder Deutschland und die deutsche Geschichte im Vergleich zu uns Deutschen selbst wahrnehmen. Meine vielen Gespräche mit Russen, Italienern, Briten und Franzosen, aber auch das Lesen historischer Studien aus diesen Ländern lassen in meinen Augen nur einen Schluss zu:

Nirgendwo in Europa herrscht derzeit ein so negatives Deutschlandbild vor wie in der deutschen akademischen Historikerzunft. Während Italien, Frankreich, England und Russland sich sowohl ganz allgemein in der Gesellschaft wie auch bei den an den Universitäten lehrenden Neuzeithistorikern von einem hypermoralischen, rein negativen Deutschlandbild verabschiedet haben und die früher üblichen Schwarz-Weiß-Darstellungen rein deutscher, teuflischer Bestialität hinter sich gelassen haben, herrscht in der Zunft der deutschen Fachhistoriker ein stärker denn je düster gefärbtes Deutschlandbild vor. Deutsche Verbrechen, deutsche Schuld, deutsches Verhängnis, deutsche Vernichtungsfeldzüge geben nunmehr in den in Deutschland verfassten, meistverbreiteten Darstellungen der europäischen Geschichte den Grundton an. Das gilt heute – so meine ich –  für die meisten deutschen Historiker, die meisten deutschen Germanisten, die meisten deutschen Soziologen. Es gilt ferner auch mehrheitlich für den Deutschen Bundestag und die meisten deutschen Spitzenpolitiker, für die deutsche Klimapolitik, die in all ihrer Irrationalität kaum anders zu erklären ist denn als Ausblühung des hier beschriebenen düsteren schuldbedrückten Selbstverhältnisses.  Es gilt nicht zuletzt für die deutsche Gedächtniskultur allgemein, die sich bekanntlich vor allem als Erinnerung an deutsche Verbrechen sieht.

Jeder Gang durch die Hauptstadt Berlin oder durch eine gut bestückte europäische Bibliothek kann diese Analyse bestätigen. Man muss nur die Augen offen halten.

In lateinischer Sprache lässt sich mein Befund über das Deutschlandbild der meisten heutigen deutschen Historiker, Soziologen, Politologen und Germanisten so zusammenfassen: Germania omnis est indivisa unica origo mali. Deutschland insgesamt ist der Urquell des Bösen. Und wir fügen auf gut Deutsch hinzu:

So ist denn alles, was ihr Sünde, Böses nennt,
der Deutschen eigentlichstes Element.
Drum besser wär’s, es hätte Deutschland nie gegeben.

Aber trifft dieses in Deutschland vorherrschende Bild der deutschen Geschichte die Wirklichkeit? Oder entsteht es aus einer systematischen Verzerrung dessen, was geschehen ist?

Schwere Vorwürfe in genau diesem Sinne werden gegen die Zunft der Historiker im aktuellen SPIEGEL am Beispiel der im Ersten Weltkrieg begangenen deutschen Kriegsverbrechen  erhoben.

Der Kunsthistoriker Prof. Ulrich Keller spricht von der „Unterschlagung von Quellen“ in „verstörend häufigen Fällen“ sowie „systematischer Missachtung grundlegender akademischer Verfahrensregeln„. Gerd Krumeich, einer der anerkannten Spezialisten zur Erforschung des Ersten Weltkrieges, nehme diese Vorwürfe ernst, heißt es.

Denn man muss bedenken: Jeder Zweifel an der alleinigen deutschen Schuld an allen in Belgien begangenen Verbrechen wäre äußerst unbequem gewesen, weil dann eine Isolation „in der internationalen Scientific Community“ (sic!) gedroht hätte.

Spiegel-Autor Dr. Klaus Wiegrefe, seinerseits ein promovierter Zeithistoriker, schreibt: „Das klingt nach einem Schweigekartell unter Historikern„, und er äußert einen bohrenden Verdacht: „Es geht auch um die Glaubwürdigkeit der Branche, die zu lange scheinbare Gewissheiten nicht in Frage stellte.“

Ich hege die Vermutung: Dieses Schweigekartell gibt es wirklich; es herrscht tatsächlich in der deutschen Scientific Community vor, aber eben nur in der deutschen Scientific Community. Nur hier in Deutschland, nicht aber in den anderen europäischen Ländern, nicht einmal in Österreich oder in der Schweiz, gibt es derartig hartnäckig durchgehaltene Forschungs- und Erinnerungstabus, wie sie immer wieder in der öffentlich finanzierten deutschen Historikerbranche durchscheinen – oder buchstäblich handgranatenartig durchschlagen.

Mein Eindruck ist: In der deutschen Zeithistorikerindustrie lesen sie mehrheitlich nicht einmal mehr Herodot oder Thukydides, von Tacitus oder Friedrich Schiller ganz zu schweigen. Sie sind in einem hypermoralischen Sinn voreingenommen. Sie fällen heutigentags in ihrer Mehrheit ein gnadenloses Urteil über ihre Väter und ihre Großväter, ja über die gesamte Geschichte Deutschlands. Sie fallen damit hinter das Methodenbewusstsein eines Herodot, eines Thukydides, eines Friedrich Schiller zurück, die sich stets bemüht haben, bei den großen geschichtlichen Katastrophen beiden Seiten, oder eigentlich den vielen Seiten gerecht zu werden.

Unsere deutschen, allzu deutschen offiziösen Zeithistoriker  drücken ihren Forschungen stets den Stempel der moralischen, ja fast schon onto-theologischen Eindeutigkeit auf. Es fehlt mir bei den deutschen Zeithistorikern, Soziologen, Politologen und Germanisten – von Ausnahmen abgesehen – an den Zwischentönen, ich vermisse bei der Formierten Gesellschaft der deutschen Zeithistoriker, Politologen, Germanisten und deutschen Sozialwissenschaftler jedes Bewusstsein für das Changieren der Akteure zwischen Gut und Böse.  Ich vermisse ein Bewusstsein dafür, dass Gut und Böse nicht die einzigen Kategorien historischer Erkenntnis sein können.

Die anderen Länder, also insbesondere Italien, Frankreich, Russland und Großbritannien sind schon deutlich weiter. Sie haben das Schweigekartell gebrochen. Sie begnügen sich nicht damit, Deutschland stets und immer und vorrangig als Inkarnation des Bösen darzustellen. Dort, in den anderen Ländern, wird wirklich ernsthaft geforscht, sine ira et studio.

Klaus Wiegrefe: Furchtbare Reaktionen. Verschwiegen Historiker alliierte Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg? Eine Studie wirft einen neuen Blick auf die deutschen Massaker in Belgien 1914. DER SPIEGEL 45/2017, 04.11.2017, S. 44-46
Ulrich Keller: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017

Bild:

Alltagsszene in Schöneberg 2017, jetzt und immerdar: „Orte des Schreckens, die wir nie vergessen dürfen“

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Mai 112017
 

Augustinus schreibt in seinen Confessiones, Buch VIII: […] quanto ardentius amabam illos de quibus audiebam  salubres affectus, quod se totos tibi sanandos dederunt, tanto  exsecrabilius me comparatum eis oderam, also zu deutsch: Je glühender ich jene [beiden Männer] liebte, über deren heilsame Gefühle ich erfuhrweil sie sich dir völlig zu ihrer eigenen Gesundung geschenkt hatten, desto verfluchter haßte ich mich, wenn ich mich mit ihnen verglich Odium sui, Selbsthaß! Lyndal Roper schreibt über den jungen Erfurter Augustinermönch Martin Luther: „Luther scheint geradezu in Schuldgefühlen geschwelgt zu haben, als könnte er, wenn er es zum Äußersten trieb, eine höhere Stufe des frommen Selbsthasses erleben, der ihn Gott so nahe wie möglich bringen würde.“ Martin Luther schreibt noch in seinen letzten Lebensjahren immer wieder in aller Offenheit von seinem Haß auf sich selbst, von dieser Selbstverwerfung, die ihn ins Äußerste, in den hellen Zorn hineintreibt, in die Verwerfung Gottes, ja in den Haß auf Gott führt: Hierfür ein besonders machtvolles Beispiel, entnommen der Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgaben seiner lateinischen Schriften, in Luthers hell loderndem, an den Afrikaner Augustinus erinnerndem Latein originalgetreu wiedergegeben (Hervorhebung durch uns): [21] Ego autem, qui me, utcunque irreprehensibilis monachus vivebam, sentirem [22] coram Deo esse peccatorem inquietissimae conscientiae, nec mea satisfactione [23] placatum confidere possem, non amabam, imo odiebam iustum et [24] punientem peccatores Deum, tacitaque si non blasphemia, certe ingenti murmuratione [25] indignabar Deo, dicens: quasi vero non satis sit, miseros peccatores [26] et aeternaliter perditos peccato originali omni genere calamitatis oppressos [27] esse per legem decalogi, nisi Deus per euangelium dolorem dolori adderet, [28] et etiam per euangelium nobis iustitiam et iram suam intentaret. Ein erschütterndes Dokument für den Selbst- und Gotteshaß Martin Luthers, auf das ich vorderhand in Erinnerung an Goethe nur mit einigen kunstlos hingeworfenen Knittelversen antworten kann:
Ich höre, Martin, wie’s dich umtreibt:
S’ist Lieb, s’ist Haß, die glühend dich umwinden:
Aus jenen fernsten Gründen,
Wo ganz zuletzt der Mensch nur noch sich selbst erkennt;
Und sich nicht mehr bei seinem eignen Namen nennt,
Bricht über dich ein ungeheures Flammenübermaß!
So viel an dir ist Selbsthaß, Menschenleid,
So viel in dir ist Gotteshaß! O Martin, Martin, hör die Frage:
Wie findet Gott zu dir, Wie findet Gott ein gnädig Ich,
Das ihm verzeiht, ihn aufnimmt, nährt und stärkt,
Und nicht in hellem Zorn auf seine Fehler merkt?
Lass dir verzeihen, lösche aus die Fackel, die in dein Herz gesenkt,
Des Vorwurfs grimme Pfeile zieh aus deiner Brust,
Blick um Dich – das Leben fließt mit Lust
Und wird dir weiter Tag um Tag geschenkt.
Laß Tag es werden. Nimm das Leben heiter, wie es ist.
Laß es gut sein, Martin. Steh auf und geh. …

Und siehe – es war gut, sehr gut war es.

Foto: So schön, so südlich, so heiter ist es heute im Natur-Park Schöneberger Südgelände. Belegstellen: Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie. Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, S. 81 WA = D. Martin Luthers Werke: Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1903 ff., hier WA Band 54, S. 185, zitiert nach: http://www.lutherdansk.dk/WA%2054/WA%2054%20-%20web.htm

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„Dis qui tu es!“ Die Einsichten des Érik Orsenna

 Einstein, Integration, Kanon, Selbsthaß, Verfassungsrecht, Vorbildlichkeit, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für „Dis qui tu es!“ Die Einsichten des Érik Orsenna
Mrz 032017
 

Immer wieder schlürfe ich genießerisch als europäischer Radiotrinker über den Tag verstreut Einsichten und Erkenntnisse aus dem Akademiekanal (www.canalacademie.com), einem über das Internet mühelos zu empfangenden Radiosender; was einem sogleich auffällt, ist die außerordentlich gepflegte Sprache, die diese Kanalarbeiter, die eigentlich Mitglieder der Französischen Akademie sind, hervorperlen lassen. An den Ufern der Seine erklingt die Nationalsprache so klar, silberhell und rein, dass auch ein Molière, ein Flaubert noch heute ihre helle Freude daran hätten! Das halte ich für vorbildlich. Molière und Flaubert würden das heutige Französisch der Académiciens sofort verstehen! Selbst Professoren sind dort, an den Ufern der Seine, gewohnt, ihre Gedanken zu ordnen, zu gliedern und einem vernünftigen, aufgeklärten allgemeinem Publikum beseelt, anschaulich und verständlich vorzutragen

Érik Orsenna war soeben Gast im Studio. Neben vielem anderen Guten, das ich vernahm, sei hier insbesondere sein Hinweis auf die grundlegende Bedeutung der Kenntnis der Landessprache hervorgehoben. Nur der sei politisch als Teilhaber einer Gesellschaft anzusehen, als mündiger Bürger, der imstande sei, eigene Interessen und Wünsche in einer allgemein verständlichen Sprache vorzutragen. Es sei nicht hinzunehmen, dass Menschen, vor allem Frauen über Jahrzehnte hinweg in einer Art sprachlichen Burka gefangen gehalten würden, indem  sie daran gehindert würden, Französisch zu lernen.

Orsenna hat recht: Politische Teilhabe setzt sprachliche Teilhabe voraus. Gemeinsames politisches Gestalten setzt eine gemeinsame Sprache voraus. Nur ein gemeinsamer Sprachraum schafft jene unmittelbare Vertrautheit im Umgang der Bürger miteinander, die demokratisches Zusammenwirken erst möglich macht. Insoweit – so meine ich – werden die Räume der europäischen Sprachen auf absehbare Zeit die Räume des demokratischen Handelns bleiben. Und das sind nun einmal die Nationalstaaten, die Verfassungsstaaten. Die modernen Verfassungsstaaten, welche durchaus zu Staatenverbünden zusammentreten können und sollen, sind der Grundbestand, der konstitutive Rahmen des politischen Handelns.

Selbst ein so komplexes Gebilde wie die Europäische Union – das ich durchaus bejahe –  ruht auf dieser Grundlage; die Grundlage der Europäischen Union, das sind und bleiben vorerst die Verfassungsstaaten; der neuzeitliche Verfassungsstaat mit seinen klaren Grenzen, seinem als Besitz zuerkannten Territorium, seiner gemeinsamen Landessprache (oder wenigen gemeinsamen Landessprachen), seiner Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten, bewirkt ein einigendes Band zwischen den Bürgern.

Molière wird heute noch im Original gelesen, rezitiert, aufgeführt. Er würde sich im heutigen Frankreich relativ schnell zurechtfinden. Wie anders ist es doch bei uns! Warum liest und rezitiert man nicht regelmäßig Goethe am Goethe-Gymnasium? Warum nimmt beispielweise das Goethe-Institut offenkundig keinerlei Bezug auf Goethe mehr? Man stöbere doch nur auf dem Internet-Auftritt des Goethe-Instituts und wird dies sofort bestätigt finden.  Was ist denn so schlimm an Goethe?  Warum lesen die deutschen Schüler heute praktisch in der gesamten Schülerlaufbahn nichts mehr von Kant, Heine, Schiller, Einstein? Woher diese Geringschätzung, ja Missachtung der deutschen Sprache in Deutschland? Sind die Deutschen wirklich die Nation, die sich hasst oder sich nicht mag? –

In den Worten des Deutschen Fatih Çevikkollu liest es sich  so:

“Du wächst hier auf und kommst zu dem Punkt, an dem du “ja” sagst zu dem Land, und dann stellst du fest, du stehst allein da. Deutschland ist gar nicht mehr angesagt. Und wenn du jetzt noch den berühmten Integrationsgedanken zu Ende denkst, merkst du, der funktioniert gar nicht. Du sollst dich an ein Land anpassen, was sich selbst gar nicht will.”

Was ist so schlimm an unsrem Meister Kant / dasz  mittlerweile er / in deutschen Landen völlig unbekannt?

Ich wünsche allen Europäern, insbesondere den Deutschen, meinen so außerordentlich schwierigen, lieben Landsleuten einen ähnlich achtsamen und pfleglichen Umgang mit diesem einigenden Band der Nationalsprache, wie ihn die Franzosen beispielhaft vorleben.

Um mehr zu erfahren:

http://www.canalacademie.com/
Ulrich Schmidt-Denter: Die Nation, die sich nicht mag. Psychologie heute, September 2012, S. 34-37

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Selbsthaß

 Augustinus, Deutschstunde, Einzigartigkeiten, Gedächtniskultur, Kinder, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Selbsthaß
Feb 092017
 

Selbsthaß ist auch das Grundgefühl, welches in diesen Jahren die deutsche Nation zu durchziehen scheint; mit unglaublicher Wonne zeigen sie der Welt immer wieder, wie schlimm sie gesündigt haben, wie unübertroffen sie die Meister des Bösen gewesen sind. „Von unserem Land aus [=Deutschland] sind alle europäischen Werte zerstört worden“, „an diesem einzigartigen Verbrechen, diesem schlimmsten Menschheitsverbrechen der gesamten Weltgeschichte trägt Deutschland Schuld und Verantwortung“, „wir Deutsche haben zwei Mal ganz Europa zerstört“, dergleichen superlativische Wendungen tauchen unzählige Male immer wieder in den Schuldbekenntnissen der Spitzen von Staat, Regierung und Parlament auf.

Eine durch und durch negative Sicht auf die deutsche Geschichte wird heute stärker denn je den Kindern schon in den deutschen Schulen beigebracht. So erzählte mir erst kürzlich ein Geschichtslehrer stolz, er wolle die Kinder nicht gleich mit dem von uns verübten Holocaust belasten, sondern sie erst einmal behutsam an das größte Menschheitsverbrechen heranführen, indem er sie erst einmal selbständig  The Kaiser’s Holocaust erarbeiten lasse, also den deutschen Völkermord an den Herero und Nama ab dem Jahr 1904. So könnten die Schülerinnen und Schüler  sich allmählich mit dem Gedanken des deutschen Völkermordes anfreunden. Der Holocaust sei dann als Krönung das große Thema im darauffolgenden Jahr, ein Völkermord wachse in der deutschen Geschichte organisch aus dem vorhergehenden Völkermord hervor. Deutschen Völkermord erkennen, deutschen Völkermord benennen, das sei ein wesentliches Lernziel des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts!

Ich war verblüfft. Ist es wirklich sinnvoll, den Gedanken des Völkermordes als Sinnkern der deutschen Nationalgeschichte darzustellen? Soll wirklich der Holocaust den innersten Kern der Gedächtniskultur ausmachen, wie dies etwa Claus Leggewie vorgeschlagen hat? Ich meine: Man kann dies tun, beginnend vom Tag von Verden an der Aller im Jahr 782.

Ich meine aber auch: Die heutigen Kinder werden überfordert mit diesen ewig lastenden Schuldvorwürfen an alle Deutschen, eine Zugehörigkeit zur deutschen Nation erscheint ihnen zunehmend als moralische Belastung, zumal ja die deutsche Geschichte vorwiegend als Geschichte deutscher Verbrechen dargestellt wird.  Warum sollten sie sich zu einem Land bekennen, das das Land der Täter ist, also im Grunde ein Verbrecherland ist?

Keinen Augenblick darf man die Niedertracht der Deutschen vergessen. Man geht kaum aus dem Haus, schon wird man wieder aufgefordert, sich all der unsäglichen Schrecken zu erinnern, die die Deutschen überall vollbracht haben.  „In mir ist nichts Gutes!“, so sagt derjenige, der sich selbst hasst. Das Böse in dir, Deutscher, das darfst du nie vergessen.

Und damit kommen wir auch schon zum Unterschied zwischen dem Augustinischen Selbsthaß und dem heutigen politisch korrekten deutschen Selbsthaß! Für Augustinus war der Selbsthaß ein notwendiger, schmerzhafter Übergang zu etwas Neuem, etwas Anderem, etwas Schönem. In der deutschen vulgären Geschichtsbetrachtung der Jetztzeit dagegen erscheint die deutsche Geschichte als eine Abfolge von Hassenswertem, also von häßlichen Verbrechen, die wie ein Fluch auf dem ganzen Land lasten.

 

Lesehinweise:
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Verlag C.H. Beck, München 2011, hier bsd. S. 14
David Olusoga und Casper W. Erichsen: The Kaiser’s Holocaust – Germany’s forgotten Genocide. Faber & Faber, London 2010
Frank Brendle: Der Holocaust ist einzigartig. taz online, 19.01.2012
Norman Davies: Categories of people killed in Soviet Russia and the Soviet Union 1917-1953 (excluding war losses, 1939-1945), in: Europe. A History. Pimlico, London, 1997,  S. 1328-1329

Graffito: „Bomber Harris, do it again.“ Aufnahme vom Juli 2016, Schöneberg, S-Bahn-Übergang

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Selbsthaß – eine Erbsünde des augustinisch geprägten Christentums?

 Augustinus, Haß, Novum Testamentum graece, Philosophie, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Selbsthaß – eine Erbsünde des augustinisch geprägten Christentums?
Feb 062017
 

[8.7.17] Tunc uero quanto ardentius amabam illos de quibus audiebam
salubres affectus, quod se totos tibi sanandos dederunt, tanto
exsecrabilius me comparatum eis oderam, quoniam multi mei anni me cum
effluxerant (forte duodecim anni) ex quo ab undeuicesimo anno
aetatis meae, lecto Ciceronis Hortensio, excitatus eram studio
sapientiae […]

Eine erneute rasche, den Text überfliegende Lektüre des achten Buches in des Augustinus Confessiones bestätigt mir soeben ein zentrales Motiv dieses so prägenden abendländischen Philosophen, nämlich den vulkanisch empordrängenden, ihn gewissermaßen von hinten durchschüttelnden Selbsthaß, den Augustinus mehrfach als notwendiges Stadium seiner Bekehrung in glühenden Farben schildert; eine Stelle sei hier oben noch einmal zum Beleg angeführt (CONFESSIONES VIII, 7, 17).

Selbsthaß, odium sui, das ist auch das beständige Grundgefühl, das die Wittenberger Thesen des Augustiners Martin Luther als Treibsatz durchherrscht! Und diese Grundstruktur des Lutherischen Empfindens, Lehrens, Handelns ist, so meine ich, ohne Augustinus nicht denkbar. Lese ich Luther in seinen lateinischen Briefen und Schriften, etwa an den Bibelübersetzer Johannes  Lange, so meine ich die Stimme des Augustinus überdeutlich herauszuhören, bis hinein in Einzelheiten des Sprachgebrauchs!

4.  Wittenberger These: Manet itaque poena, donec manet odium sui (id est poenitentia vera intus), scilicet usque ad introitum regni caelorum.

Übersetzt: So bleibt also die Strafe, solange der Selbsthaß bleibt (d.h. die wahre Buße innen drin), also bis zum Eintritt des Reiches der Himmel.

Ein anderes erklärendes Wort für Selbsthaß dürfte übrigens Selbstverwerfung sein. Der Sündige verwirft sich selbst, denn er fühlt sich von Gott verworfen; er empfindet sich als hassenswert. Und er haßt sich wirklich.

Immerwährendes Sündenbewusstsein, nahezu ewiger Selbsthaß! Eine kulturell bedingte Erbsünde des augustinischen Christentums, weltgeschichtlich verstärkt durch Luthers Thesenanschlag von 1517?

Dauernder Selbsthaß, ist das noch christlich? Predigte Jesus je, man solle sich selbst hassen?  Man sollte es nicht vorschnell ausschließen! Wo predigt Jesus den Haß? Hierzu fällt einem sicherlich sofort die folgende Stelle en:

εἴ τις ἔρχεται πρός με καὶ οὐ μισεῖ τὸν πατέρα ἑαυτοῦ καὶ τὴν μητέρα καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰ τέκνα καὶ τοὺς ἀδελφοὺς καὶ τὰς ἀδελφὰς ἔτι τε καὶ τὴν ψυχὴν ἑαυτοῦ, οὐ δύναται εἶναί μου μαθητής.

Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und ferner auch seine Schwestern und auch seine eigene Seele, kann er nicht mein Schüler sein (Lk 14,26, eigene Übersetzung).

Antwort: Der Bußprediger Jesus – er war ja auch ein recht unbequemer Bußprediger, nicht nur wohltätiger Heiler und Befreier – predigte gelegentlich in bestimmten Zusammenhängen seinen Schülern durchaus den Haß, er kannte zweifellos den Haß aus eigener Erfahrung, ja er forderte gewissermaßen den Haß, auch den Selbsthaß als notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur Wahrheit. Eum hominem esse et nil humani ab eo alienum esse puto! Er ist, so glaube ich, ein Mensch und nichts Menschliches ist ihm fremd.

Aufs ganze gesehen überwiegt aber bei Jesus zweifellos nicht das Gebot des  Hasses, sondern das Liebesgebot.  Liebe zu Gott, Liebe zum Nächsten, Liebe zum eigenen Selbst,  diese drei erscheinen immer wieder geradezu unlösbar ineinander verschränkt (z.B. Mt 22,34-40). Das ist gewissermaßen die grundlegende Dreifaltigkeit, die Trinität, zu der Jesus wie zu einem Angelpunkt wieder und wieder gelangt! Jesus lehrte die Liebe gerade nicht als Selbstsorge, nicht als reflexive Selbst-Erhellung, überhaupt nicht als bloßes Selbstverhältnis, wie dies etwa der von Platon herkommende Philosoph Augustinus in De trinitate später so glänzend und packend versucht hat, sondern als Einigung im dreifachen Verhältnis zum anderen, zum eigenen Selbst und zu Gott.

Die Trinität aus Vater, Sohn und heiligem Geist hat Jesus Christus selbst ebenfalls nicht gelehrt; die Lehre von der Dreifaltigkeit  ist eine spätere Entdeckung der Kirchenlehrer, unter denen wiederum Augustinus eine wesentliche Rolle spielt.

 

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„Niemand verstand meine Sprache.“ Goethes berechtigte Klage über das gestaltlose Deutschland

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Jan 142017
 

„Mein Leiden, meine Klagen über das Verlorene schien sie zu beleidigen, ich vermißte jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache„, mit diesen Worten schildert Goethe sein Grundgefühl, das ihn 1788  bei der Rückkehr aus Italien nach Deutschland niederwarf.

Niemand versteht mehr Goethes deutsche Sprache, nicht einmal mehr die deutschen Theaterleute, nicht einmal mehr die deutschen Schauspieler, nicht einmal mehr die Deutschen im deutschen Theater. Ich vermisse jede Lebendigkeit im Wort, es fehlt an allem, was Goethes klingende, ja oft singende Sprache ausmacht, es wird nichts mehr erzählt auf dem deutschen Theater.“ Dies ist mein Grundgefühl, das ich aus der Inszenierung von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ am vergangenen Donnerstag aus dem Haus an der Schumannstraße nachhause nahm. Ein niederschmetterndes Gefühl, das mir über viele Stunden hinweg und bis zu  diesem Tage die Stimmung eintrübt.

Ich habe nichts verstanden. Aber es war  cool.“ So der vierzehnjährige Junge Ivan, der neben mir saß und mit dem ich einen zweiten Versuch unternahm, ihn am Deutschen Theater behutsam an Goethe heranzuführen, den Dichter, für den mein Herz seit Jahrzehnten schlägt wie sonst nur für wenige andere europäische Autoren.

Es fehlte im Deutschen Theater beim gesprochenen Wort an allem. Es fehlte jede Musikalität in der Sprache, jedes Gefühl für Klang und Rhythmus scheint den Schauspielern von einer unbarmherzigen Regie ausgetrieben worden zu sein. Sinnwidrig werden Sätze zerrissen, zueinandergehörige Wörter werden durch Zäsuren entkoppelt. Sie kennen offenbar die metrisch gebundene Sprache nicht mehr, die Regie weiß nichts anzufangen mit dem musikalisch klingenden, unfassbar reichen, farbenprächtigen Gewand, in das Goethe seine Iphigenie gekleidet hat. Dieser Goethe klingt wie ein schlecht einstudierter, schlecht aufgeführter Samuel Beckett. Sie, die Schauspieler, verschlucken und vernuscheln unbetonte Endsilben ohne die geringste Hemmung, viele Wörter sind akustisch unverständlich. Da lebt nichts. Alles wird erstickt in einem pastos aufgetragenen, kreidigen Grau in Grau. Jede Farbe fehlt in dieser gipsernen, zubandagierten  Sprache. Nur wenn sie laut werden, wenn sie schreien, dann sind sie gut, da bricht endlich ein echter Affekt durch. Gut, bitte mehr davon!

Bei dieser Inszenierung von Goethes Iphigenie musste ich unwillkürlich an ein Streichquintett denken, das sich vorgenommen hat, ein Werk von Mozart aufzuführen, zum Beispiel das c-moll-Quintett KV 406, das ungefähr zur selben Zeit wie die Versfassung  der Iphigenie entstand (1788). Die Musiker studierten die Stimmen ein. Nun kam der Regisseur und befahl: „Du Bratscher da, du machst nach jedem fünften Ton eine Pause. Lass die anderen weiterspielen! Und du da, Geiger, du unterdrückst jede schwache Zählzeit und spielst bei punktierten Notenwerten nur die erste Note. Und du, zweiter Geiger, du setzt dich mit dem Rücken zu deinen Kollegen und fiedelst auf dem Boden hockend. Und du Cellist, du streichst immer wieder deinen Bogen mit Kolophonium ein, so dass der ganze Zuhörerraum mit Staub eingenebelt wird!“ Es war klar, dass man unter solchen Bedingungen keine zumutbare Aufführung von Mozarts c-moll-Quintett zustande bringen konnte! Der Notentext war so schlechterdings nicht angemessen darzustellen. Wie sollten die Musiker darauf reagieren? Hinwerfen? Das ging nicht, denn sie wurden dafür bezahlt alles zu erdulden, alles zu erleiden, was der Regisseur ihnen befahl.

Dem Theater ist jedoch zugute zu halten, dass man sich immerhin anhand der mitlaufenden englischen Übertitel – und trotz der allzu umfangreichen Streichungen im Text – einen ungefähren Eindruck davon verschaffen konnte, was gerade auf der Bühne verhandelt ward. Aber ist dies eine sinnvolle Übung auf einer deutschen Bühne, den Text Goethes vor einem deutschsprachigen Publikum so gnadenlos zu entstellen, dass er ohne mitlaufende englische Übersetzung unverständlich bleibt?

Auch – und dies bringt mich zum nächsten Lob auf diese Inszenierung – wurde die friedhofsartig schwarz ausgezimmerte Bühne durch reichliches Auftragen eines kreidigen Pulvers in eine fahle, totenstarre Schreckenslandschaft ohne jede Farbigkeit verwandelt, was die herrlichen Harz-, Dom-, Nacht- und Kirchhofsbilder von C. D. Friedrich ins Gedächtnis rief, und so ward denn denn die beabsichtigte Mortifizierung des lebendigen Goetheschen Wortes trefflich ausgedrückt.

Goethe hat selbst im Jahr 1803 einige „Regeln für Schauspieler“ zu Papier gebracht. Nächstes Lob, denn diese Regeln haben sich die Darsteller am Deutschen Theater sehr zu Herzen genommen, begingen sie doch systematisch jeden einzelnen Fehler, den Goethe in seinen Empfehlungen bei den Schaupielern anzukreiden Anlass fand. Folgendes würde Goethe den Schaupielern erneut ankreiden:  Verschlucken von unbetonten Silben („Willkomm“ statt „Willkommen“), Vernuscheln und Verhuschen von Eigennamen, sinnwidrige Zäsuren, mangelnde Empfindung für das Gemeinte und Gesagte, Fehlen der Musikalität beim Vortrag der liedhaften Stellen, Mangel an Rhythmus beim Vortrag der metrisch gebundenen Sprache usw. usw.

Sie, die Darsteller am Deutschen Theater, vertrauten offenkundig dem deutschen Wort nicht. Sie, die Schauspieler oder wohl eher der Regisseur, glaubten Goethe offenbar kein einziges Wort.

Gut, so sei es! Sie drücken damit das fundamentale, das abgründige Misstrauen der heutigen Deutschen gegenüber den besten Teilen der Überlieferung in deutscher Sprache aus. Goethe, Kant, Schiller, Lessing, Hegel, Sigmund Freud, Albert Einstein, Thomas Mann, die Gebrüder Grimm, Johann Peter Hebel, Annette von Droste-Hülshoff, um nur einige wenige zu nennen, sie alle – diese deutschen Autoren der grauen Vorzeit  – werden heute zunehmend missachtet, verspottet, mit Füßen getreten.  Sie werden an den deutschen Schulen, den Hochschulen, Universitäten, Schauspielschulen, Kunsthochschulen kaum oder gar nicht mehr gelesen, und sie werden auch nicht mehr verstanden. Es drängt sich der Eindruck eines echten Sprach- und Kulturverlustes auf, um nicht zu sagen: „eine unglaubliche Verrohung“, wie dies Norbert Lammert heute in der Berliner Morgenpost nennt. „Gestaltloses Deutschland“, so nannte dies Goethe 1817, und er setzte ihm verzweifelt sein „formreiches Italien“ entgegen.

Insofern ist die Inszenierung von gewissermaßen erfrischender Ehrlichkeit. Sie ist zu rühmen und zu preisen. Sie sei hiermit allen Goethefreunden wärmstens ans Herz gelegt.

Danke, deutsches Theater, dass es dich noch gibt. Danke, Goethe, dass du noch gespielt wirst. Danke, deutsche Sprache, dass es dich noch gibt.

Besprochener Theaterabend: Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang Goethe. Deutsches Theater, Berlin, Aufführung vom 12. Januar 2017

Zitatnachweise:

Johann Wolfgang Goethe: „Verfolg“ [Zur Morphologie, Band I Heft 1, 1817]. Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Band 17: Naturwissenschaftliche Schriften. Zweiter Teil, S. 84-101, hier S. 84. Artemis Verlag Zürich, Deutscher Taschenbuch Verlag München 1977 [=Artemis-Gedenkausgabe 1952, unveränderter Nachdruck 1977]

„Eine unglaubliche Verrohung.“ Interview mit Bundestagspräsident Norbert Lammert. Berliner Morgenpost, 14. Januar 2017, S. 3
Bild oben: Typisch deutsch! Grauer Nebel auf der Kolonnenbrücke, Berlin, Aufnahme des Verfassers am Abend des Theaterbesuches, 12. Januar 2017

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„Jüdischer Bolschewismus“?

 Einzigartigkeiten, Gedächtniskultur, Haß, Hebraica, Selbsthaß, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für „Jüdischer Bolschewismus“?
Apr 252016
 

Eine schwere gedankliche Last stellten die folgenden drei Bücher dar, die mich in den letzten Tagen erneut beschäftigten:

Sonja Margolina: Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert. Siedler Verlag, Berlin 1992
Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution. Metropol Verlag, Berlin 2009
Johannes Rogalla von Bieberstein: „Jüdischer Bolschewismus“. Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte. Ares Verlag, Graz 2010

Ihnen, den drei schwerlastenden Büchern, ist ein großes Thema gemeinsam, nämlich der große Anteil, den Juden (also Menschen jüdischer Abstammung) an der weltweiten marxistischen und kommunistischen Bewegung in Europa, vor allem jedoch an der bolschewistischen Bewegung in Russland  hatten, der nachweisbar besonders hohe Anteil, den Juden (also Sowjetbürger jüdischer Volkszugehörigkeit) an den militärischen und geheimpolizeilichen Terrororganisationen der jungen Sowjetunion, also an Tscheka, GPU, NKWD und Roter Armee hatten, sowie vor allem auch das daraus sich erklärende Feindbild vom „jüdischen Bolschewismus“, das ja später bei den in Polen, den baltischen Gebieten, in Weißrussland und der Ukraine begangenen verheerenden Grausamkeiten und Metzeleien gegen Juden eine so entscheidende Rolle spielte. Wie sind all diese Tatsachen und Umstände, die keiner der drei Autoren bestreitet, zu erklären?

Die Antwort auf diese und verwandte Fragen hat wiederum einen nicht unerheblichen Einfluss auf die staatlich geförderte deutsche Erinnerungskultur, die deutsche Geschichtspolitik, ja sie erstreckt sich bis in die Tabubildungen, bis in strafrechtlich relevante Meinungsäußerungen hinein, sie ist prägend geworden für die offiziöse deutsche Staatsdoktrin von der absoluten Einzigartigkeit und Unvergänglichkeit ewiger deutscher Schuld und unverzeihlicher deutscher Schande.  Hat man diese Fragen vorurteilsfrei, tapfer und unbestechlich durchgearbeitet, dann dringt man bis in die Wurzelgeflechte deutschen Selbsthasses und deutscher Unterwürfigkeit vor.

 

 

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„Fort mit mir!“ Woher dieser Selbsthaß?

 Antike, Europäisches Lesebuch, Griechisches, Haß, Hebraica, Kain, Religionen, Selbsthaß, Was ist deutsch?, Wittenberg  Kommentare deaktiviert für „Fort mit mir!“ Woher dieser Selbsthaß?
Feb 242016
 

Martinus dixit: „Odium sui rimanebit usque ad introitum caelorum!“
Ego ex eo quaesivi: „Unde istud odium tui christianum, o Martine?“

„Woher kommt dein christlicher Selbsthaß, Martin?“ So fragt‘ ich, als ich vor einigen Wochen in einer 1-tägigen Sonderausstellung der Berliner Staatsbibliothek Martin Luthers vierte, erstmal lateinisch zu Wittenberg niedergelegte These in einem frühen Nürnberger Originaldruck des Jahres 1517 erblickte. Die vierte Wittenberger These sprang mich mit Macht an! Da läuteten alle Glocken in mir!

Denn Theodor Lessing veröffentlichte 1930 in deutscher Sprache ein Buch des Titels „Odium sui hebraicum“, zu deutsch also „Der jüdische Selbsthaß“, erschienen im Jüdischen Verlag zu Berlin. Dies ist die erste Glocke!

„Deutschland verrecke!“, „Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“, so habe ich es im 21. Jahrhundert jahrelang in Berlin-Friedrichshain gehört und gelesen, und zwar im öffentlichen Raum, ungestraft, ungescheut las ich es und hörte ich es, niemand machte darob ein Aufhebens. Der deutsche Selbsthaß ist keine Legende, nein, er ist eine Tatsache, die einen geradezu mit Macht anspringt. Durch die Zerstörung Deutschlands meinen die deutschen Antifa-Aktivisten den Krieg abzuschaffen. Der Selbsthaß feiert fröhliche Urständ! Weder deutsche Polizei noch deutsche Justiz kümmern sich um diese Manifestationen des deutschen Selbsthasses. Dies ist die zweite Glocke!

Antony Lerman wiederum entzauberte 2008 in der Jewish Quarterly in einem noch heute sehr lesenswerten Beitrag unter dem Titel Jewish Self-Hatred : Myth or Reality? Rätsel, Legenden, Fakten und Fiktionen des Redens vom angeblichen jüdischen Selbsthaß. Erstaunlicherweise wirft er nach sorgfältiger Prüfung den Begriff des jüdischen Selbsthasses in den Mülleimer der Geschichte. Er ver-wirft den jüdischen Selbsthaß. Er lehnt den Begriff ab. Lest selbst: „It is too much to hope that by revealing just how bankrupt a concept ‘Jewish self-hatred’ is, discourse among Jews on Israel and Zionism could become more productive, both for Jews themselves and for the sake of achieving justice in the conflict between Israelis and Palestinians. Too much is currently invested in this demonising rhetoric. But if we could edge it closer to the rim of the dustbin of history, we’d be making a start.“

Dies ist die dritte Glocke, gewissermaßen das Sterbeglöcklein des jüdischen Selbsthasses.

Der christliche Selbsthaß Martin Luthers von 1517, der deutsche Selbsthaß der Friedrichshainer Antifa von 2014, der jüdische Selbsthaß Theodor Lessings von 1930, der jüdische Selbsthaß Trotzkis von 1917 … haben sie eine gemeinsame Wurzel?

Woher kommt diese absolute Ablehnung des eigenen Selbst, die wütende Selbstanklage, dieses Gefühl: „Ich bin nichts, ich tauge nichts. In mir ist nichts Gutes, drum besser wär’s, es gäb‘ mich nicht! Fort mit mir!“?

Früheste Belege dieses Gefühls „Fort mit mir!“ scheinen mir ins Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückzureichen, also ins biblische Buch Bereschit (Buch Genesis). In Kapitel 4, Vers 13 hebräisch sagt es Kain so:

וַיֹּ֥אמֶר קַ֖יִן אֶל־יְהוָ֑ה גָּדֹ֥ול עֲוֹנִ֖י מִנְּשֹֽׂ׃

In rohes unbehauenes ungeliebtes Deutsch übersetzt also:
Und sprach Kajin zu JHWH : Groß meine-schuld aufheben

Kain traut sich nicht mehr aufzuschauen. Es ist, als würde er sagen: „Nach allem, was ich getan habe … was soll ich noch anschauen? Wen darf ich noch anschauen? Was ich getan hab an dem Bruder, kann ich nie büßen.“

Kain formuliert dieses Gefühl: Großschuld – zu große Schuld – übergroße Schuld. Lateinisch: „Mea culpa, mea magna culpa, mea maxima culpa“. Und diese Formulierung kannte der katholische Augustiner Martin Luther mit Sicherheit.

Im spezifischen Sündenbewußtsein Kains, im Bewusstsein seiner unverzeihlichen, seiner übergroßen Schuld goß Martin Luther dieses Gefühl absoluter Verworfenheit in seine vierte Wittenberger These – mit unabsehbaren Folgen für die deutsche und abendländische Geschichte.

Der christliche Selbsthaß Luthers wurzelt genetisch, also der Genesis nach im hebräisch-biblischen Selbsthaß Kains.

Doch ist dieser Selbsthaß keine Eigenheit des jüdischen oder des christlichen oder des deutschen Selbstverhältnisses. Dieser Selbsthaß, er ist etwas Menschliches. Dem Menschen haftet seit Kain das Odium der Selbstverwerfung an.

Denn auch in der paganen Antike außerhalb oder vor der jüdischen und der christlichen Überlieferung sind uns durchaus einige machtvolle Selbstzeugnisse eines derartigen Selbsthasses bekannt. So etwa im Ödipus Tyrannos des Sophokles! Die Schuld des Ödipus ist zu groß, als dass sie aufgehoben werden könnte, er wendet eine ungeheuerliche Aggression gegen sich selbst: er sticht sich die Augen aus. Es ist dies zweifellos eine Art aufgeschobener Selbstmord. In der Übersetzung durch Hugo von Hofmannsthal liest sich der letzte große Monolog des Ödipus so:

Ödipus:
Was soll ich noch anschaun?
Den Vater drunten, wenn ich ihm begegne?
oder die Kinder, ihren Blick in meinen
verschränken und ein unausdenkbares Gespräch
von Aug‘ zu Auge führen? Fort mit mir!
Jagt doch das große Unheil, jagt doch das,
hinaus, was trieft von allen Himmelsflüchen!

Die Greise (zugleich)
Ich wollt‘, ich hätte niemals dich gekannt.

Ödipus (leiser)
Was ich getan hab‘ an der Mutter und
am Vater, büßt Erhängen nicht.

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Doch immer behalten die Quellen das Wort

 Deutschstunde, Johann Gottlieb Fichte, Selbsthaß, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Doch immer behalten die Quellen das Wort
Jan 132016
 

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Solo e pensoso i più deserti campi
vo misurando a passi tardi e lenti …

Gute, erfreuliche Wiederbegegnungen gestrigen Tages mit einigen Autoren und geistigen Vätern meiner Jugend im herrlichen Päsenz-Lesesaal der Berliner Staatsbibliothek am Potsdamer Platz! In ihm wurde ja auch von Wim Wenders ein Teil der Szenen im „Himmel über Berlin“ gedreht!

Beispiel einer von vielen erfreulichen Wiederbegegnungen: der Philosoph Johann Gottlieb Fichte. In München hörte ich noch einige Vorlesungen von Reinhard Lauth, dem 2007 verstorbenen Herausgeber der großen Fichte-Gesamtausgabe. Ich erinnere mich an ihn als eine tiefe, redliche, sanfte mit dem unerbittlichen Ethos des Abseits ausgestattete Lehrerpersönlichkeit.

In Berlin wiederum griff Michael Theunissen, zu früh verstorben am 18. April 2015, damals affirmativ und doch eigenwillig auf Fichtes divulgativ angelegte „Bestimmung des Menschen“ zurück. Der Henry-Ford-Bau wurde damals Treffpunkt und Quellpunkt zahlreicher Forscher- und Akademiker-Karrieren. Unvergeßlich bleiben mir Theunissens hartnäckiges Bemühen, einen Begriff von der Bestimmung des Menschen unter den Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts herauszuschälen, – und sein leidenschaftliches Eintreten gegen den „Präsentismus“, also gegen das töricht-überhebliche Bestreben der heutigen Bildung, sich abschätzig und unbelehrbar über alles hinwegzusetzen, was drei Jahrtausende an Geistesgeschichte über uns und zu uns gesagt haben. Im Rendsch Nameh heißt es treffend:

Wer nicht von dreitausend Jahren
Sich weiß Rechenschaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag‘ von Tag zu Tage leben.

Heute kennt fast niemand mehr Johann Gottlieb Fichte. Die Ampeln stehen für ihn leider zur Zeit auf der Fichte-Straße komplett auf Rot.

Zitiert wird Fichte außerhalb der Philosophenkreise fast nur noch abschätzig, etwa wegen seiner „Reden an die deutsche Nation“. Immerhin: BBBike, die trefffliche Radfahrer-Navigation, führt mich immer wieder durch die Fichtestraße, wenn ich ins dunkle Friedrichshain hinüber ans andere Ufer des Landwehrkanals wechsle.

Die ignorante Verdammung Fichtes, wie man sie beispielsweise kürzlich in der Süddeutschen Zeitung aus der Feder Michael Bittners lesen konnte, führt in die Irre.

Alles wird da mit triefender bräunlicher Soße übergossen, von Luther führt dann allzuschnell ein gerader Weg über Fichte, Arndt und Jahn nach Trostenez, Flossenbürg und Kephallonia! Furchtbar, dieses Wüten einer unbelehrten und unbelehrbaren Generation junger Deutscher, denen unter dem Bann einer reifizierten Großschuld, der Inkarnation des absolut Bösen, der Selbsthass wirklich von der Kita an eingeimpft ward!

Dabei gelang es Fichte hier in Berlin, im Abseits seiner privat finanzierten und publizierten Vorlesungen, einen im Geist, nicht in der Macht, nicht im Blut, nicht im imperialen Streben, sondern in der sittlichen Bestimmung der Nation begründeten Begriff der Deutschen Nation herauszuarbeiten – selbstverständlich in schroffer Entgegensetzung zum imperialen Machtgestus Napoleons, zum statuarisch-statischen Reichsbegriff des antiken Rom.

Dass all diese Überlegungen so völlig verschwunden sind, mag mit ein Grund dafür sein, weshalb die deutsche Gesellschaft gerade in diesen Tagen ein so klägliches, streitsüchtiges, so zänkisches, so flaches und plattes Bild abgibt: Abbild einer zutiefst verunsicherten, ihrer selbst ungewissen, das eigene Gedächtnis verlierenden Nation.

Bild:
Triefende braune Soße an der Fichtestraße in Kreuzberg, Aufnahme von gestern

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Siate uomini, non pecore matte: der Weckruf des Dante Alighieri

 Dante, Italienisches, Selbsthaß, Was ist deutsch?  Kommentare deaktiviert für Siate uomini, non pecore matte: der Weckruf des Dante Alighieri
Jan 092016
 

O mente che scrivesti ciò ch’io vidi!
O Geist, du hast geschrieben, was ich sah!

Wir hörten hier Vers 8 aus dem Gesang II von Dantes Unterwelt.

Als europäischen Dichter schlechthin bezeichneten wir in dieser gegenwärtigen, wühlend-verworrenen Lage Europas einmal Dante Alighieri (1265-1321). Warum ihn?

Er ist vermutlich derjenige europäische Dichter, der den umfassendsten Versuch unternommen hat, das gesamte historische, naturwissenschaftliche, mythologische und religiöse Wissen seiner Zeit in einem einzigen großen Werk einzufangen. Der Enyzklopädist unter den europäischen Dichtern ist er mehr als alle anderen, so wie Aristoteles und Hegel in einem ähnlichen Sinne die beiden großen Enzyklopädisten unter den europäischen Philosophen sein dürften.

Dante bedient sich dabei einer ungeheuren Fülle an Bildern, Geschichten, Verweisen, Zitaten, Umformulierungen: er spiegelt das gesamte damalige Weltwissen in Form eine Reise, die er in Ich-Form erzählt. Der italienische Komiker Roberto Benigni hat vor Jahren dem von seiner Vaterstadt Florenz ausgestoßenen, zum Tode verurteilten Dichter postum eine begeisterte Huldigung gewidmet und scheute dabei nicht davor zurück, den aus der toskanischen Heimatstadt vertriebenen Sohn als größten Dichter aller Sprachen und aller Literaturen überhaupt zu rühmen. Schaut es euch an:

12.000 Italienerinnen und Italiener lauschten Benigni hingerissen, als er den größten Dichter italienischer Zunge auf öffentlichem Platz zu Gehör brachte. „Dante ist unser – wir stehen zu Dante, unser Dante ist der größte aller Zeiten und aller Länder“, diese Botschaft kam bei den Italienern sehr gut an.

Man stelle sich nun einmal vor, ein verdienter deutscher Komiker, nach Rang und darstellerischem Können Roberto Benigni vergleichbar, wie etwa Harald Schmidt, Carolin Kebekus, Fatih Çevikkollu, Anke Engelke, Thomas Gottschalk, Bülent Ceylan oder Stefan Raab würden einen großen deutschen Dichter an einem riesigen Platz vor einem hingerissenen Publikum rühmen und preisen, auswendig vortragen und mit Leib und Seele für ihn kämpfen…!

Unvorstellbar, oder? Die Leute würden nur noch schenkelklopfend lachen, wenn sich einer öffentlich hinstellte und den alten Friedrich Hölderlin, den alten Heinrich Heine, den alten Johann Wolfgang Goethe, den alten Friedrich Schiller oder den alten Rainer Maria Rilke vortrüge… oder niemand würde hingehen.

Was in Florenz geschehen ist, wäre bei uns in Deutschland undenkbar.

Und das ist eben der riesige Unterschied zwischen uns Deutschen und anderen europäischen Völkern! Wir Deutschen haben ein abgründig negativ getöntes Grundverständnis der eigenen Nation. Wir sind – einige Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg – gewissermaßen durch die ab 1945 geborene geistig-moralische Elite unseres Landes gebrainwasht worden. Wir stehen auf permanentem Kriegsfuß mit uns selbst. Wir verweigern die kräftigende Milch, die aus den reichen Beständen unserer deutschsprachigen kulturellen Überlieferung fließt, wir spucken sie buchstäblich aus, wir trampeln auf ihr herum.

Statt Schiller, Kant oder Goethe wieder an den Schulen oder zuhause zu lesen (von Homer oder Shakespeare ganz zu schweigen, die sind ebenfalls abgemeldet), entlarven wir gerne wieder einmal mit wissenschaftlicher Akribie eines der vielen nationalsozialistischen Lügengebäude. Wir hängen sozusagen lauter kleine Zettelchen dran, an denen steht: „Aufgepasst, alles Quatsch, was der böse Mann aus Österreich da schreibt!“ … und wir bekennen uns mutig und stolz zum Antifaschismus sowie zur gränzenlosen Liebe zum Euro, zu Europa, zu Afrika und zu Asien und zu allen Menschen, die anders sind als wir.

Und Dante? Er könnte uns Deutschen entgegenhalten:

Se mala cupidigia altro vi grida
Uomini siate, e non pecore matte
sì che ‚l giudice di voi tra voi non rida!
Non fate com’agnel che lascia il latte.

Wenn schriller Selbsthaß in euch wacht,
seid mannhaft, keine blöden Schafe,
Daß nicht der innre Richter euch verlacht,
Wenn Milch ihr ausspuckt euch zur Strafe.

(eigene Übersetzung des leicht veränderten Originals)

 Posted by at 16:06