Sind auch Annedore Leber, auch Hans Böckler Tätervolk?

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Jan 292018
 

WIR TÄTER schulden es den Toten, unter diesem stöhnend machtvollen Satz veröffentlicht heute der namhafte, 1964 geborene deutsche Journalist Kai Diekmann im Tagesspiegel seine Betrachtung über die absolute Pflicht des Holocaust-Gedenkens. Wir Deutschen sind TÄTERVOLK, also Verbrechervolk, so wird es uns durch Diekmann und viele andere Deutsche unerbittlich eingehämmert.

Dies wirft Fragen auf! Sind beispielsweise auch die deutschen Politiker Annedore Leber und Hans Böckler, der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer, die deutschen Studenten Hans und Sophie Scholl Tätervolk? Sie waren zweifellos Deutsche, sie sind nicht im Holocaust umgekommen, sie haben die Jahre 1933-1945 zum Teil überlebt. Aber sind sie deswegen schuldig?

Richtig: Das Hans-Böckler-Denkmal im Hans-Böckler-Park in Berlin-Kreuzberg ist besudelt und entstellt. Es stimmt: Der Annedore-Leber-Gedenkort in Berlin-Schöneberg ist verlottert, verlassen, verschmiert. Das ja. Aber sind diese beiden Deutschen, die die Nazi-Zeit in Deutschland überlebten, deshalb ebenfalls automatisch, also durch bloße Herkunft, TÄTERVOLK oder VERBRECHERVOLK?

Der 1956 geborene Politiker, Moderator und Jurist Michel Friedman ist ebenfalls Deutscher, ohne Wenn und Aber. Kai Diekmann ist ebenfalls Deutscher. Sind sie beide ebenfalls TÄTERVOLK, wie es Diekmann behauptet?

Ich meine: Der Ausdruck TÄTERVOLK ist höchst problematisch. Denn er schreibt einem und nur einem Volk (Volk? Was ist das?) insgesamt die Urheberschaft an einem ganz bestimmten einzelnen Verbrechen, eben dem Holocaust (ein einzelnes Verbrechen – oder viele Verbrechen?) zu. Nicht dieser oder jener Mörder wäre schuld am Verbrechen, sondern dieses eine Volk, und nur dieses einzelne Volk in seiner Gesamtheit. Nicht Menschen handeln hier und laden Schuld auf sich, sondern ganze Völker. Damit jedoch ist der Ausdruck „Tätervolk“ in gewisser Weise Ausfluss völkischen Denkens; er ist zweitens auch rassistisch, denn er schreibt in diskriminierender Art einer bestimmten Personengruppe, also DEN DEUTSCHEN, das Eigenschaftsmerkmal „Täter“, also „Verbrecher“ zu. Er ist kollektivistisch, denn er leugnet ab, dass der einzelne Mensch auch unter widrigsten Umständen einen gewissen Entscheidungsspielraum hatte und hat. Er schreibt schließlich dem HOLOCAUST eine mythisch überhöhte, zeitlose, nur noch pseudoreligiös zu nennende Macht zu. Nicht zuletzt schließt die Rede von den Deutschen als dem Tätervolk alle Deutschen jüdischer Abkunft aus dem deutschen Volk aus, so wie die Nazis dies taten. Dies halte ich erneut für höchst problematisch. Denn es lässt sich heute wie damals nicht bestreiten, dass die damals (1933) etwa 500.000 im Deutschen Reich lebenden Deutschen, die ab 1933 durch den Staat und seine Organe als Juden ausgegrenzt, entrechtet, verfolgt, gepeinigt und schließlich – soweit sie noch in ihrem Heimatland verblieben waren – in der Mehrzahl ermordet wurden, sowohl rechtlich wie auch ihrem eigenen Selbstverständnis nach Deutsche waren.

Ich finde: Wir sollten auf derartige ohrenbetäubend-tosende Wörter wie „Tätervolk“ verzichten.

Wer kann die Last des Holocaust tragen unter uns Deutschen? Ich, du, er, wir alle? Man möchte einem Kai Diekmann zurufen: Gib’s auf!

Er, der Holocaust ist zu schwer, als dass man in diesem Bewußtsein weiterleben könnte, wenn man sich heute als Täter dieses einen einzigen Verbrechens sähe. Er ist zu schwer, als dass wir ihn aufheben, tragen und ertragen könnten. Im Grunde bliebe uns nur noch der Suizid eines Volkes übrig, wenn man diese ewig lastende Bezeichnung Tätervolk ernst nähme.

Denn:
Der ist eyn narr der tragen will
Das jm vffheben ist zu vil.

So sagt es Sebastian Brant, ebenfalls ein Deutscher, ebenfalls ein Angehöriger des „Tätervolkes“, in seinem Narrenschiff.

http://www.tagesspiegel.de/meinung/zum-holocaust-gedenktag-wir-taeter-schulden-es-den-toten/20898480.html

Zitatnachweis:
Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494. Herausgegeben von Joachim Knape. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2005, S. 188

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Von der Kontingenz des Geschichtlichen

 Das Böse, Einzigartigkeiten, Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Tätervolk  Kommentare deaktiviert für Von der Kontingenz des Geschichtlichen
Sep 272017
 

There are a number of words I will try to avoid because of the serious misconceptions they might lead to. The terms ‚Holocaust‘ and ‚Shoah‘ are not useful since neither has any analytical value.

So schreibt es der in der Schweiz lehrende Historiker Christian Gerlach in seinem 2016 erschienenen Buch über die „Ermordung der europäischen Juden“. Er schreibt also den beiden Begriffen Holocaust und Shoah keinerlei Erkenntniskraft, jedoch sehr wohl einen hohen Grad an Irreführung zu – eine Einsicht, die sich mir immer wieder geradezu mit Macht aufdrängt, wenn ich originale Quellen, originale Dokumente und Zeugenberichte aus jenen Jahren 1933-1945 zur Kenntnis nehme, etwa bei einem Besuch im Haus der Wannseekonferenz.

Wir übersetzen die zitierte Aussage ins Deutsche: „Die Ausdrücke ‚Holocaust‘ und ‚Shoah‘ sind nicht nützlich, da keiner von beiden irgendeinen analytischen Wert hat.“

Ist dem Historiker hierin zuzustimmen? Sind diese Begriffe in der Tat inhaltsleer, nicht zielführend, missverständlich, unnütz? Diese Frage ist ihrerseits nicht unnütz.

Welche anderen Begriffe sucht der Historiker  zu vermeiden, da sie in seinen Augen keinerlei Erkenntnisgewinn versprechen?
Hier kommen sie: „Auschwitz“ als Metapher, final solution („Endlösung“), anti-Semitic, anti-Semite („Antisemitisch“, „Antisemit“), „Kollaboration“, „Kollaborateur“, „puppet state“ („Marionettenstaat“),  perpetrator („Täter“).

Gerlach kann – wie ich finde – überzeugend nachweisen, dass diese Begriffe der echten historischen Erkenntnis nicht dienlich sind. Denn der Historiker befasst sich durchweg mit kontingentem Geschehen, mit dem Geschehenen eben, der Geschichte und ihren Geschichten, nicht mit dem Geschickten oder dem Schicksal.

Seine, des Historikers Leitfrage lautet:
„Es ist geschehen, wie es geschehen ist. Aber es hätte zu jedem Zeitpunkt auch etwas anderes geschehen können. Warum also ist es so gekommen? Ich verstehe das nicht! Wie können wir das Geschehen verstehen, ohne auf einen jenseitigen Willen von außerhalb der geschichtlichen Welt (z.B. Götter, z.B. Gott, das Böse, die Deutschen, ewige Gesetze, Schicksal, Natur, Materie) zurückzugreifen?“

Der erste, der dies in aller Radikalität versucht hat – Geschichte beschreiben, ohne auf ein Jenseits der Geschichte zurückzugreifen –  war THUKYDIDES, der erste große, unerreichte Meister der Geschichtswissenschaft, einer der Väter Europas, dem ich hier noch einmal meine Hochachtung zolle.

Das Buch Gerlachs – mittlerweile auch auf Deutsch erschienen – halte ich für sehr beachtlich, ist es doch geeignet, die quälend unfruchtbaren, typisch deutschen Debatten über religiöse oder onto-theologische Attribute des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden (Opfer, Einzigartigkeit, Tätervolk, Präzedenzlosigkeit, Unvergänglichkeit, ewige Schuld, Singularität) zu bewältigen und auf eine gewandelte Stufe der Erkenntnis zu heben.  Es ist unbedingt lesenswert! Gerade in seinem Skeptizismus gegenüber irreführenden, meist der Religion oder der Onto-Theologie entlehnten Bildern und Metaphern könnte dieses mutige, stocknüchterne, qualvoll genaue Übersichtswerk in Deutschland (dem Land der Täter) bahnbrechend und befreiend wirken. Mir liegt es nur auf Englisch vor, doch wird die deutsche Übersetzung sicherlich auch bei den Deutschen Aufmerksamkeit finden. Ich wünsche es ihr.

Christian Gerlach: The Extermination of the European Jews. Cambridge University Press, 2016, digitale Ausgabe, hier Pos. 485-509

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Was war früher anders?

 Authentizität, Europarat, Helmut Kohl, Latein, Tätervolk  Kommentare deaktiviert für Was war früher anders?
Jun 182017
 

Die lange Kohl-Nacht„, eine sechsstündige, sehenswerte Dokumentation aus Anlass des Todes von Helmut Kohl.

http://programm.ard.de/TV/Programm/Jetzt-im-TV/?sendung=28111137269121

Wir verneigen uns respektvoll vor dieser großen Persönlichkeit Helmut Kohl.

Das hindert uns aber nicht daran, dieses authentische, in alle Ausführlichkeit ausgebreitete Material mit wachem Sinn anzusehen. Und dies fällt auf, dies sind ersten Eindrücke, die täuschen mögen, die aber doch haften bleiben:

  1. Es wurde damals noch herzhaft vor laufenden Kameras geraucht, teils Pfeife wie von den Herren um Helmut Kohl, teils Zigarette wie von Günter Gaus und Helmut Schmidt.

2. Es wurden noch vor laufender Kamera ausführliche Fragen gestellt, so insbesondere durch den unvergessenen Günter Gaus. Die Menschen hatten mehr Zeit für langes, beharrliches Fragen und Antworten, Werken und Schaffen, langes beharrliches Arbeiten und Feiern, Singen und Tanzen, Spielen und Lernen. Es gab weniger Ablenkungen.

3. Es gab bei den Deutschen noch ein lebendiges Gefühl, ein Volk zu sein. Man litt öffentlich und privat an der Teilung Deutschlands durch Stacheldraht und Mauer, man betrauerte in Deutschland öffentlich auch die eigenen Opfer, die eigenen Toten, nicht nur die Opfer und die Toten der früheren Kriegsgegner. Man, oder besser gesagt Politiker wie Adenauer, Schumacher, Brandt, Genscher, Kohl und viele andere arbeiteten tatkräftig vor allem am Aufbau der Demokratie in Freiheit und Würde, an der Aussöhnung und der Freundschaft mit den früheren Feinden zweier Weltkriege.

4. Weniger Wert als heute wurde auf die unermüdliche Pflege, systematische Vertiefung, wissenschaftliche Untermauerung, Bekanntmachung und symbolische Weitergabe der Gefühle von deutscher Schuld, deutscher Schande und deutschen Verbrechen gelegt, mit denen unsere Schulkinder heute in Deutschland heranwachsen. Man lebte damals noch im Gefühl, es sei nicht alles schlecht in der deutschen Geschichte vor 1933 gewesen; man versuchte damals, die Jahre 1933 bis 1945 als zwölf verbrecherische Jahre, als großen Sündenfall und große Ausnahme und absoluten Tiefpunkt darzustellen und zu überwinden und setzte sie noch nicht wie heute als überzeitlich bannende, mythische, absolute Größe, in deren nächtlichem Schatten die Deutschen als Kainsvolk und als Tätervolk ewige Zeiten leben müssten.

5. In den 50er, 60er und 70er Jahren wurde noch vor laufenden Kameras die korrekte indirekte Rede verwendet! Diese sehe, so erklärten es uns damals unsere Deutschlehrer, grundsätzlich den früher Konjunktiv Präsens genannten, heute meist als Konjunktiv I der indirekten Rede bezeichneten Konjunktiv vor; dieser Konjunktiv Präsens, so erklärten sie uns damals, sei nur im Falle der Gleichheit von Konjunktiv I und Indikativ Präsens durch den Konjunktiv II, der früher meist als Konjunktiv Imperfekt bezeichnet worden sei, zu ersetzen.

6. Auch früher, in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland, wurde geschimpft, auch früher wurde hart an der Grenze zur Beleidigung gestritten, aber alles geschah noch mit einer gewissen Mäßigung. Kritiker der herrschenden politischen Mehrheitsmeinung wurden nur ausnahmsweise als Feinde oder Verräter beschimpft und als Nazis verunglimpft.

7. Die gesprochenen Sätze waren damals, in den 50er und 60er Jahren länger, die damalige deutsche Sprache wirkt von heute aus gehört gepflegter. Der Historiker Dr. Helmut Kohl, der offenkundig noch richtig gutes Latein gelernt hatte, bildete in seinen frühen Interviews in den 60er Jahren aus dem Stegreif heraus lange, an den klassischen Vorbildern Demosthenes, Isokrates, Caesar und Cicero geschulte Perioden. Sie sind heute noch hörenswert!

Bild: Auch Kohls Leistung und Kohls Verdienst: Die Flagge des Europarates, d.h. die Flagge aller 47 europäischen Staaten flattert froh auf dem Deutschen Bundestag in Berlin, gleichberechtigt, auf derselben Höhe wie die Flaggen der Bundesrepublik Deutschland. Aufnahme vom 16. Juni 2017, nachmittags, am Todestag Helmut Kohls

 

 

 

 

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Jan 242017
 

I know of no other country in the world that at the heart of its national capital erects monuments to its own shame„, so schrieb es 2014 Neil MacGregor, der damalige Direktor des Britischen Museums in London, heute einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt Forums zu Berlin. Wir übersetzen ins Deutsche: „Ich weiß von keinem anderen Land auf der Welt, das im Herzen der Hauptstadt der Nation Denkmäler seiner eigenen Schande errichtet“, und er fährt fort: „Wie das Siegestor in München stehen sie nicht nur zur Erinnerung an die Vergangenheit da, sondern – und das ist wohl sogar noch wichtiger – um sicherzustellen, dass die Zukunft anders sein möge“, im englischen Original: „Like the Siegestor in Munich, they are there not only to remember the past, but – and perhaps even more importantly – to ensure that the future be different.“

Das sind zwei glänzende, wegweisende Sätze, in denen die Janusköpfigkeit unserer typisch deutschen Gedächtniskultur, die Doppelgesichtigkeit der einzigartigen deutschen Vergangenheitsbewältigung – jeder Vergangenheitsbewältigung, so meine ich –  in geradezu klassischer Vollkommenheit ausgedrückt wird. Zugleich stehen sie am Beginn des Buches „Germany. Memories of a Nation“. Und dieses Buch ist nicht anders zu bewerten denn als glänzender, ja genialer Wurf, nicht nur im gesamten Grundansatz, sondern auch bis in kleinste und feinste Details hinein. Kein Deutscher schafft so etwas derzeit! MacGregor bringt sorgfältig ausgewählte Bilder und Gegenstände zum Sprechen, freilich so, dass sie nicht bloß als tote Gegenstände der Vergangenheit ausgestellt, sondern als mahnende und ermunternde Zeugen freigelegt werden. Sie sollen uns ermöglichen die eigene Zukunft zu gestalten, ohne die letzten 10 Jahrhunderte der deutschen und die letzten 35 Jahrhunderte der europäischen Geschichte mit all ihren vielen guten und auch den schlechten Seiten zu vergessen.

Szenenwechsel! Wir sind jetzt in Weimar und schreiben das Jahr 1788.

„Die Götter rächen
Der Väter Missetat nicht an dem Sohn;
Ein jeglicher, gut oder böse, nimmt
Sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg.
Es erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch.“

So – in der Wiedergabe Goethes – die Mahnung des Pylades an Orest. Orest ist gewissermaßen völlig verstrickt in seine dunkle, mit Schandtaten aller Art beladene Vergangenheit, „obsessed with his ancestors‘  past„. Er ist im zweiten Aufzug von Goethes Iphigenie der Inbegriff des schicksalhaft in die Verbrechen seiner Herkunftsfamilie, seiner Sippe und seines Volkes verfangenen Melancholikers; er leidet am kollektiven Schuldgefühl der Atriden, ausgelöst durch die mehrfach begangenen Kapitalverbrechen der Vorfahren. Ihm gegenüber vertritt Pylades den personalistischen Begriff der Schuld, wie ihn in der Bibel beispielsweise der Prophet Ezechiel im 6. Jahrhundert vor Chr. herausgearbeitet hat. Es gibt keine Kollektivschuld und keine kollektive Haftung bei Ezechiel. Auch von der Augustinischen Lehre der Erbsünde oder gar der neopaganen Lehre vom „Tätervolk“ sind wir Lichtjahre entfernt. Nicht die Sippe, nicht das Volk tragen alle Schuld, sondern jeder einzelne Mensch wird von den Göttern – an deren Existenz Ezechiel ebenso wenig wie Goethe zweifelte – nach individuellem Handeln beurteilt.  Goethes Pylades führt hier gewissermaßen diesen prophetisch-christlichen, befreienden Schuldbegriff in die antikisierende Tragödie ein – die eben dadurch aufhört, eine echte Tragödie zu sein.

Zusammen mit der vorzüglichen, von Dieter Borchmeyer besorgten Neuausgabe von Goethes Klassischen Dramen und der monumentalen Arbeit von Peter Watson über den Deutschen Genius fängt MacGregor, so empfinde ich, das ständige Hin und Her, die fortwährenden, sich wiederholenden 180-Grad-Wendungen ein, die jeder gelingenden Gedächtniskultur by necessity nicht nur in Deutschland innewohnen müssen; man kann, man muss gewissermaßen das Schwabinger Siegestor immer wieder von Nord nach Süd und von Süd nach Nord durchqueren, Schande und sittliche Größe in der eigenen Herkunftsgeschichte gleichermaßen ins Auge fassen.

Blickt man hingegen auf den Streit zurück, den deutsche Geistesgrößen damals fast ausschließlich um völlig abstrakte Begriffe wie etwa „Einzigartigkeit“ oder „Unerklärlichkeit“ führten, ohne dass sie je der konkreten deutschen geschweige denn der europäischen Vergangenheit, diesem Medusen- und Juno-Haupt ins Antlitz geblickt hätten, so kann man ermessen, welch riesigen Schritt voran die vier genannten Bücher von MacGregor, Goethe, Ezechiel und Peter Watson darstellen. Watson, Goethe, MacGregor und der Prophet Hesekiel, diese vier sollte man unbedingt zur Kenntnis nehmen, ehe man auf typisch deutsche Art einen bouc émissaire oder whipping boy erwählt.

Gestern legte ich in einem kurzen Augenblick des Innehaltens diese drei frisch erworbenen Bücher, diese guten, verlässlichen Reiseführer und Wandergefährten in der zerklüfteten Landschaft der deutschen Gedächtniskultur zu Füßen der 3500 Jahre alten, hart an der Friedrichstraße mahnenden und wachenden Sphinx ab, ehe ich sie in meine Fahrradtasche packte. Ad multos annos, o Sphinx!

Neil MacGregor: „Monuments and memories“. in: Neil MacGregor: Germany. Memories of a Nation. Published in Penguin Books 2016 (first published  by Allen Lane in Great Britain 2014), S. IX-XXIII, hier S. XXIII

Johann Wolfgang Goethe: Klassische Dramen. Iphigenie auf Tauris. Egmont. Torquato Tasso. Herausgegeben von Dieter Borchmeyer unter Mitarbeit von Peter Huber. Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Band 30, Frankfurt am Main 2008, hier v.a. S. 575 (Iphigenie auf Tauris, Vers 713-717)

Peter Watson: The German Genius. Europe’s Third Renaissance, the Second Scientific Revolution, and the Twentieth Century. Simon&Schuster, London 2010

Das Buch Hesekiel/Ezechiel,  Kap. 18, in: Die Bibel

 

 

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Darf man heute immer noch straffrei behaupten, die Erde sei keine Kugel?

 Das Böse, Einzigartigkeiten, Religionen, Sokrates, Tätervolk  Kommentare deaktiviert für Darf man heute immer noch straffrei behaupten, die Erde sei keine Kugel?
Nov 132015
 

„Es ist müßig, mit Leuten zu diskutieren, die keine Fakten akzeptieren“, sagte er demnach. Auf die Behauptung Haverbecks, dass es keine Beweise für den Holocaust gebe, habe der Richter geantwortet: „Ich muss auch nicht beweisen, dass die Erde eine Kugel ist.“

Mit dieser Begründung steckte ein Hamburger Amtsrichter gestern eine 87 Jahre alte Dame für 10 Monate ohne Bewährung ins Gefängnis. Ihre Straftat: Sie leugnete zum wiederholten Male den Holocaust.

Völlig richtig, Herr Richter! Es ist unnötig mit Leuten zu diskutieren, die keine Fakten akzeptieren. Muss man allerdings Leute akzeptieren, die bestreiten, dass die Erde eine Kugel ist? Muss man es hinnehmen, wenn jemand behauptet, dass die Erde keine Kugel sei, sondern ein abgeflachtes Rotationsellipsoid, also ein geometrisch unregelmäßig geformter, leicht abgeplatteter Körper?

Wer hat nun recht: Der Hamburger Amtsrichter, der die Tatsache behauptet, dass die Erde eine Kugel ist, oder der Wissenschaftler, der behauptet, die Erde sei ein abgeflachtes Rotationsellipsoid?

Ich meine: Das Leugnen von Tatsachen, das Lügen lässt sich als solches nicht bestrafen – außer, ja außer bei Tatsachen, die als wesentlich, als unverzichtbar, als im Sinne einer bestimmten Gesellschaft als schlechterdings nicht bezweifelbar gelten.

Unbezweifelbare Tatsachen werden seit Jahrhunderten unter Strafandrohung gestellt.

So galt jahrhundertelang Gotteslästerung oder Gottesleugnung als strafwürdiges Verbrechen; viele hartnäckige Gotteslästerer wurden durch Hinrichtung bestraft, z.B. Jesus, Giordano Bruno, Jan Hus oder Sokrates. Die Existenz Gottes bzw. die Existenz der Götter galten als unumstößliche Tatsache; Zweifel an dieser millionenfach bewiesenen Tatsache wurden bestraft.

In der Bundesrepublik gibt es heute nur ein klassisches Meinungsdelikt, im Grunde wird nur noch eine falsche Meinung, wird eine Lüge unter Strafe gestellt: die Holocaustleugnung. Man darf in Deutschland den ukrainischen Holodomor leugnen, man darf die systematische Ermordung von vielen Millionen sowjetischer Zivilisten während des 2. Weltkrieges schweigend übergehen. Man darf verschweigen oder leugnen, dass Jakow M. Swerdlow die Zarenfamilie erschießen ließ. Man darf verschweigen oder leugnen, dass Leo Trotzkij den systematischen Mord an Zivilisten, die systematische Vernichtung der Klassenfeinde befahl. Man darf die Kolonialgreuel in Belgisch-Kongo ignorieren oder leugnen. Man darf die Massenmorde des Pol Pot und der chinesischen Maoisten übersehen oder leugnen. Nur den Holocaust darf man nicht leugnen. Er ist in der Strafrechtspraxis das Factum absolutum der deutschen Rechtsordnung geworden.

Der israelische Schriftsteller Yitzhak Laor fasst diesen Prozess der Sakralisierung und absoluten Überhöhung des Holocaust im Anschluss an Überlegungen Alain Finkielkrauts so zusammen: „The Holocaust alone can provide the definition of evil.“ „Der Holocaust allein kann die Definition des Bösen liefern.“

Die enormen Vorteile dieser Absolutsetzung, dieser Sakralisierung des Holocausts als des schlechthin Bösen liegen auf der Hand. Es wird im Nu alles so einfach in der Welt!

Erstens, er ist vorbei. Er liegt in der Vergangenheit. Laor schreibt: „The great advantage of this is that the Holocaust took place in the past and is now over; we can congratulate ourselves on having awoken from a nightmare.“ Er ist damit der Nullpunkt der moralischen Argumentation geworden. Das absolute Böse, der Holocaust, ist glücklicherweise vergangen; solange man den Holocaust erinnert und eine Wiederholung des Holocaust verhindert, ist alles andere ja nur halb so schlimm. Das Wichtigste, aber auch das Tolle, das Phantastische, das Herrliche an der Weltgeschichte ist, dass der Holocaust einzigartig ist und sich deshalb nicht wiederholen kann. Es wird also automatisch alles immer besser in der Weltgeschichte, solange man nur verhindert, dass der Holocaust sich wiederholt.

Zweitens, es gibt ein eindeutiges Tätervolk, das dafür „Schuld und Verantwortung trägt“, wie es der Deutsche Bundestag erst kürzlich wieder festgestellt hat: die Deutschen, oder besser gesagt: „wir Deutschen“. Die Vorteile für alle anderen europäischen Staaten, die in den Jahren 1939-1945 vorübergehend oder dauerhaft mit dem Deutschen Reich verbündet waren (Sowjetunion, Finnland, Frankreich, Italien) sind unleugbar: Die Deutschen sind das Tätervolk.

Drittens: Die Holocaustleugnung und die ganze Klasse verwandter Delikte lassen sich problemlos unter Strafe stellen. Holocaustleugnung, aber mittlerweile auch die Historisierung, die historische Einbettung des Holocausts in eine Ereigniskette, die Relativierung, die Vergleichung des Holocausts mit anderen systematischen Ausrottungspolitiken der Weltgeschichte ist ein in der deutschen Öffentlichkeit weithin als solches eingestuftes Meinungsdelikt. Dieses Meinungsdelikt zu begehen erweist sich immer wieder als selbstmörderisch für den eigenen Ruf. Man kann nur davor warnen. Selbst bestens ausgewiesene Historiker wie Ernst Nolte haben wegen dieses Meinungsdelikts ihren früher guten Ruf, Politiker wie Martin Hohmann, Schriftsteller wie Martin Walser haben aufgrund dieses Delikts ihren bis dahin unbescholtenen Leumund eingebüßt. Sie stehen bis heute am Pranger.

Viertens: Unabhängig von Geisteszustand oder Alter des Meinungsverbrechers erreicht die deutsche Justiz und die deutsche Gesellschaft die Gewissheit, auf der Seite des absoluten Guten zu stehen. Denn wer gegen die Leugnung des absoluten Bösen kämpft, muss auf der Seite des Guten stehen.

Fünftens: Das Verbot der Holocaustleugnung hat einen umfassenden, disziplinierenden Effekt auf die öffentliche Meinung. Der gemeine Bürger fängt aus Angst im Unterbewusstsein schon an zu überlegen: „Es gibt also Lügen, die in Deutschland unter staatliche Strafe gestellt werden. Wenn schon eine 87-jährige Frau, eine offenkundig verwirrte oder fanatisch verblendete ältere Dame wegen einer sonnenklaren geschichtlichen Lüge für 10 Monate ins Gefängnis gesteckt wird, hmm, darf ich das oder das dann noch sagen? Darf man noch an unumstößlichen Tatsachen zweifeln, z.B. an der Konstantinischen Schenkung, an der Goldenen Bulle, am Holodomor, an den Stalinschen Säuberungen, an der Sinnhaftigkeit des Euro, an der Legitimität der Rechtsakte der Europäischen Union? Darf man noch am Klimawandel zweifeln, oder wird man dafür irgendwann auch ins Gefängnis gesteckt werden?“

Der Staat bestraft falsche Meinungen, der deutsche Staat bestraft das hartnäckige Lügen, sofern er ihm das Potenzial zur Volksverhetzung beimisst. Das dürfen wir nie vergessen.

Das gestern ergangene Urteil des Hamburger Amtsrichters wirft – trotz aller hier aufgewiesenen strategischen Vorteile, die mit ihm einhergehen – viele Fragen auf.

Belege:
Yitzhak Laor: The Shoah Belongs to Us (Us, the Non-Muslims). In derselbe: The Myths of Liberal Zionism. Verlag Verso, London New York 2009, S. 15-35, hier bsd. S. 32

http://www.stern.de/panorama/stern-crime/nazi-oma–87-jaehrige-ursula-haverbeck-muss-wegen-holocaust-leugnung-in-haft-6551784.html

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Which event ignited WW II – welches Ereignis entzündete den 2. Weltkrieg?

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Mai 062015
 

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Es lebe Franken und seine berühmten Söhne – Dirk Nowitzki, Johann Peter Uz, Adolf Dassler, Jean Paul Friedrich Richter, Rudolf Dassler, um nur einige wenige von vielen zu nennen! Ein bekannter fränkischer Hersteller nennt seinen neuesten Treter IGNITE. „Ignite, das bedeutet auf Englisch Komet, glaub ich“, beriet mich heute ein Verkäufer. „Sie werden laufen wie ein Komet!“ Ich bezweifelte dies, dass IGNITE Komet bedeute. „Jedenfalls wurde uns ein Komet gezeigt!“ Nun wie auch immer. Da kam mir der zündende Gedanke – „Ignition key, das ist der Zündschlüssel!“ Richtig – IGNITE heißt entzünden. Mit IGNITE-Schuhen läuft man also „entzündet“ wie Usain Bolt auf der steilen Bahn des Lebens! So deute ich mir auch die großen Reklameflächen des fränkischen Turnschuhherstellers!

Fragen wir heute zwei Tage vor dem 8. Mai: Welches Ereignis entzündete den 2. Weltkrieg? Entscheidet selbst!
a) „Za datę rozpoczęcia wojny przyjmuje się 1 września 1939 roku – atak Niemiec na Polskę.“ Als Datum für den Beginn des Kriegs gilt der erste September 1939 – der Angriff Deutschlands auf Polen. So würde es wohl die Mehrheit der Europäer heute sehen (hier zitieren wir beispielhaft die polnische Wikipedia).
b) „Although the Second World War began in September 1939 with the joint German-Soviet Invasion of Poland … – Obwohl der 2. Weltkrieg im September 1939 mit dem gemeinsamen deutsch-sowjetischen Einmarsch in Polen begann …“. So schreibt es Timothy Snyder in einem Nebensatz seines 2010 erschienen Buches Bloodlands – Europe between Hitler and Stalin (Epub, The Bodley Head, London, 2010, Pos. 119)
c) What happened in 1939, therefore, was simply the addition of Europe to the existing theatres of war, schreibt Norman Davies in seinem Buch Europe. A history… Der „2. Weltkrieg“ wäre demnach nur eine Ergänzung verschiedener anderer Krieg auf anderen Kriegsschauplätzen durch die Neueröffnung eines europäischen, ergänzenden „Fortsetzungskriegs“ (London 1997, S. 991).

Drei Aussagen – drei einander widersprechende Deutungen! Wer hat recht? Was ist wahr? Gibt es nur eine historische Wahrheit? Oder gibt es mehrere, Dutzende, Tausende, Millionen Wahrheiten über diesen Krieg? Die überwältigende Mehrheit der Menschen spricht sich heute dafür aus, das nationalsozialistische Deutsche Reich allein habe den 2. Weltkrieg entzündet.

Gerade pflicht-, schuld- und nationalbewusste Deutsche weisen empört alle Versuche zurück, diese überragende, gleichsam metaphysische Schuld des nationalsozialistischen Deutschen Reiches auch nur im geringsten zu historisieren, zu de-ethnifizieren, zu europäisieren, zu globalisieren oder gar einzubetten in einen Kontext von Interaktionen: „“War es doch unser Land, von dem aus alles Europäische, alle universellen Werte zunichtegemacht werden sollten“, so hat diese Germania-est-unica-origo-mali-Theorie ein bekannter protestantischer deutscher Theologe 2013 in seiner vielbeachteten Rede über Europa formuliert. Und er traf damit exakt das unterschwellig überall in Deutschland anzutreffende Grundgefühl von Furcht und Zittern, von ewiger Schuld, ewiger Scham und ewiger Schande.

Man lese hierzu, zu diesem unerschütterlichen Glauben an ewige nationale deutsche Urschuld, etwa beispielhaft ein SPIEGEL-Interview mit Timothy Snyder nach:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-79408588.html

Nun, den Vorwurf der übertriebenen Deutschenfreundlichkeit musste sich auch der Historiker Christopher Clark hier in Potsdam anhören: „Nur in Deutschland wird mir Deutschenfreundlichkeit vorgeworfen!“, berichtete er einmal verblüfft.

Dennoch – so meine ich – verdient Snyders kühne Hypothese einer wesentlichen Mitschuld der marxistisch-kommunistisch beherrschten Sowjetunion an der Entzündung des 2. Weltkrieges sorgfältige Prüfung. Der Amerikaner Snyder ist immerhin Professor für Geschichte an der renommierten Yale University – seine Bücher werden weithin gelesen, rezipiert und diskutiert, auch wenn sie uns Deutschen, uns „Söhnen und Töchtern des Tätervolkes“ mit all unserem eisenharten, unbeugsamen Sündenstolz an den Karren fahren.

Und auch der Brite Norman Davies sollte nicht gleich mit dem Vorwurf des Revisionismus überzogen werden. Er versucht nur, ein gewaltiges Ereignis wie den 2. Weltkrieg, der ja bruchlos aus einigen Vorläuferkriegen hervorging und nahtlos einige unmittelbare Nachfolgekriege erzeugte, in eine Gesamtschau zu rücken.

Snyder und Davies sind bedeutende Historiker. Aufgabe der Historiker ist es nicht, Metaphysik oder Theologie zu betreiben, sondern Ursache-Wirkungs-Ketten zu ergründen und deutend nachzuerzählen.

Unser Bild zeigt heute die Frucht fränkischer Tüchtigkeit: den Schuh Ignite. Er passt wie angegossen. Es lebe Franken mit all seinen berühmten Söhnen und Töchtern!

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„Und voll Mißtraun gegen die eigenen Großväter“. Genüssliches Ausschlachten eines Falls später Reue

 Hebraica, Kain, Sündenböcke, Tätervolk, Vergangenheitsbewältigung, Versöhnung  Kommentare deaktiviert für „Und voll Mißtraun gegen die eigenen Großväter“. Genüssliches Ausschlachten eines Falls später Reue
Mai 022015
 

Großer Aufgalopp der Selbstgerechtigkeit der deutschen Enkelinnen und Enkel, meiner lieben schreibenden Landsleute, anlässlich des Prozesses gegen den damaligen Wachmann Oskar Gröning! Er war Wachmann und Schreibkraft in Auschwitz, „der Buchhalter des Todes“, wie eine sich an allem Entsetzlichen liebend gern weidende Presse genüsslich ausschlachtet. Als wären sie, die Schreibenden, die Urteilenden dabei gewesen! Als hätten sie in jedem Fall anders gehandelt, so wird hier von viel später Geborenen über einen Menschen geurteilt, den man nur aus der Zeitung und aus den Medien kennt.

„Seine Reue nehme ich ich ihm nicht ab“, „Frau Eva Kor hat ihm verziehen. Subjektiv achtbar! Aber es war objektiv und politisch falsch …“, „Jetzt verstehen wir endlich, dass die ganz normalen deutschen Männer zu Massenmördern wurden“ usw. usw.

Die meisten deutschen Journalistinnen und Journalisten überbieten sich darin, über Oskar Gröning den Stab zu brechen. Dabei wird ihm nicht aktives Töten, sondern Beihilfe zum vielfachen Massenmord vorgeworfen, ohne dass ihm ein „individueller Tatbeitrag nachgewiesen werden muss“, so die aktuelle Rechtslage.

Wieviele Massenmörder gab es damals in Europa? Die Holocaust-Forschung, ein blühender Forschungszweig, spricht von etwa 100.000-200.000 Menschen, die aktiv an den im deutschen Namen begangenen Massenmorden beteiligt waren. Viele der am Holocaust beteiligten Täter waren Deutsche, aber viele dieser Massenmörder gehörten nachweislich vielen anderen Nationalitäten an.

Aus allen europäischen Nationen stammten in den Jahren 1917-1956 viele Massenmörder, also Menschen, die aktiv einen Tatbeitrag zur planmäßigen gezielten Ermordung vieler Menschen aus bestimmten Gruppen (außerhalb von Kriegshandlungen) leisteten. Ich bin überzeugt: Es wäre nach 1945 nach dem Tod Hitlers bzw. 1953 nach dem Tod Stalins unmöglich und technisch undurchführbar gewesen, sie alle aufzuspüren und vor Gericht zu stellen.

Ich halte es vielmehr für weitgehend richtig, wie es in Deutschland nach 1945 (nicht dagegen in Italien oder in Russland) gehandhabt wurde, dass – beginnend bei den Nürnberger Prozessen – exemplarisch an einigen wenigen obersten Führern und Spitzenleuten das ganze Ausmaß des Unrechts und des Schreckens verhandelt wurde und der ganze überwiegende Rest der quälenden Aufarbeitung nach und nach durch die Zivilgesellschaft übernommen wurde.

Ich sprach vor Tagen mit einem jüngeren Ungarn über den Kasus Gröning, der dieser Auffassung entschieden widersprach. Ich warf mich ihm gegenüber darauf vehement für Eva Kors verzeihende Geste ins Zeug. „Gröning hat bekannt – er hat bereut – er war durch sein Wissen, seine Scham bestraft genug. Nebenbei: Das Judentum lehrt seit Jahrtausenden die Kunst und die Gunst des Verzeihens! Wir sollten diese großartige Haltung dankbar annehmen!“

Verzeihen und Vergeben heißt, dass sowohl der Geschädigte wie auch der Schädiger die Schuld anerkennen, dass der Schädiger aktiv bekennt und öffentlich bereut – und dass dann der Geschädigte ihm die Reue „abnimmt“, ihm die Schuld (die ohnehin nicht wiedergutzumachen wäre) ohne Strafe und ohne Rache erlässt.

Der Jude Jesus sagt es – ganz aus dem Geist des Judentums schöpfend – so: „Wem ihr [Menschen in meiner Nachfolge] die Verfehlungen vergebt, dem sind sie vergeben – übersetzen wirs mal auf Französisch: Ceux à qui vous remettrez les péchés, ils leur seront remis (Johannesevangelium 20,23).

Ich glaube: Etwas Besseres kann eigentlich nicht passieren, als dass nach Anerkenntnis einer Schuld die Verzeihung und Versöhnung zwischen dem Opfer und dem Täter erfolgt.

Das Verzeihen ist übrigens auch in der Tat so etwas wie ein Schluß-Strich. Die Schuld wird vom Kerbholz ausgelöscht, man begegnet sich dann so, als „wäre das Ganze nun ein Teil der Vergangenheit“. Der Dichter sagt:

Und von all dem Schrecken schwebt ein Erinnern
Nur noch um das ungewisse Herz.

Das Kains-Mal, das Erinnerungs-Mal des ersten Brudermordes, des absoluten Zivilisationsbruches, ist etwas, was wir nach jüdischer Lehre alle auf der Stirn tragen. „Pass auf, o Mensch, erinnere dich des Kain! Weil es geschehen ist, deswegen kann es auch wieder geschehen, du bist nicht endgültig gefeit dagegen!“

GOtt selbst zog einen ersten Schlußstrich, als er Kain, den geständigen und reuigen Brudermörder, mit einem unauslöschlichen Mal versah, das wir uns als einen Strich auf der Stirn eines jeden vorstellen dürfen. Das Kains-Mal, das ist ein symbolisches „DAS WAR“ „DAS HAT ER GEMACHT“ – und – „ES IST JETZT NICHT MEHR“; es ist aber auch die Aufforderung: du, o Kain, o Mensch, du darfst JETZT und in ZUKUNFT neu anfangen!

Die maßlose Selbstgerechtigkeit derjenigen, die immer wieder unterstellen, eine derart ungeheurliche, maßlose Abfolge von schlimmsten Gewaltverbrechen mit Zehntausenden von Haupttätern und weiteren Hunderttausenden von Mithelfern (wie Gröning einer war) könne wesentlich durch die staatliche Justiz, durch das Strafrecht auch nur annähernd „aufgearbeitet“, „bewältigt“ oder gar wieder gutgemacht werden, irren sich meines Erachtens fundamental.

In jedem Fall stimme ich den anderslautenden Aussagen Eva Mozes Kors, die offenbar tief aus dem mosaischen Erbe schöpft, enthusiastisch zu, wenn sie sagt, „wir hätten sofort nach dem Krieg davon erzählen sollen, zugehen sollen aufeinander.“ Eva Mozes Kor, was für eine herrliche Reihung der Namen! Denn Mozes ist ja Moses, Moshe, wie wir ihn auch nennen …

„Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei“, sagte Kor. An Gröning gewandt sagte sie: „Ich hoffe, dass Sie und ich uns als ehemalige Gegner als Menschen begegnen können.“ Sie appellierte an Gröning, umfassend auszusagen und auch Neonazis die Wahrheit über Auschwitz zu sagen. Kor sagte, sie gebe ihre Erklärung nur in ihrem Namen ab. Kor nannte das Verzeihen einen Akt der Selbstheilung und der Selbstbefreiung.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-04/auschwitz-prozess-holocaust-ueberlebende

Prozess gegen Oskar Gröning, „Buchhalter von Auschwitz“: Ganz normale Männer – Politik – Tagesspiegel.

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„Affe … hat … Affe getötet“, oder: Caesars revolutionäre Einsicht in die eigene Schuldfähigkeit

 Das Böse, Gedächtniskultur, Gemeinschaft im Wort, Kain, Krieg und Frieden, Rassismus, Rechtsordnung, Tätervolk, Versöhnung, Vertreibungen  Kommentare deaktiviert für „Affe … hat … Affe getötet“, oder: Caesars revolutionäre Einsicht in die eigene Schuldfähigkeit
Apr 012015
 

Sturmtief Oskar

Der Film „Planet der Affen – Revolution“, 2014 in unserer Kinos gekommen, wird wohl in jedem nachdenklichen Menschen einen sehr nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Als Regisseur des amerikanischen Streifens zeichnet Matt Reeves. Wir sahen das Kunstwerk mit Kind und Kegel und Popcorngeruch im Cinemaxx am Potsdamer Platz an einem feuchtkalten Sonntag des Jahres 2014.

Der im Original „Dawn of the Planet of the Apes“ betitelte Film spielt 10 Jahre nach einer allvernichtenden Katastrophe in der ferneren Zukunft. Eine düstere, von ständigen Regengüssen gepeitschte Landschaft ermöglicht vorläufig den wenigen überlebenden Menschen und den Affen eine vorläufige, jederzeit gefährdete Existenz, nicht weit entfernt von San Francisco.

Eine Horde Laboraffen, die tierquälerischen medizinischen Experimenten entkommen ist, hat den fast vollständigen Untergang der Menschheit überlebt, hat Lesen und Schreiben gelernt und baut sich mühselig auf den Trümmern der menschlichen Zivilation eine neue, äffische Kultur mit Brauchtum, Riten und Religion auf. Sie bilden also das, was man die „Urhorde“ nennen könnte.

Die gnadenlose Ausbeutung des Affen durch den Menschen ist eine fest verankerte, das kulturelle Gedächtnis der Affen prägende Erinnerung; ein Teil der Affen ist durch die erlittenen qualvollen medizinischen Experimente zutiefst traumatisiert; sie lehnen jeden Kompromiss mit den ehemaligen Unterdrückern ab. Sie schwören auf Rache und Vernichtung der wenigen überlebenden Menschen. „Mit den Menschen kann es keine Versöhnung geben; die Menschen werden sich nicht ändern; sie werden uns weiterhin jagen, quälen und töten! Töten wir sie, bevor sie uns töten!“ So etwa lässt sich der kulturelle Subtext dieser Affen-Ideologie zusammenfassen. Der Führer dieser Unerbittlichen ist Koba, ein außergewöhnlich groß gewachsener Bonobo, der unermessliche Qualen in einem medizinischen Labor der Menschen erlitten hat.

Dieser unversöhnlichen Feindschaft zwischen Affe und Mensch setzt Caesar, der charismatische Anführer der äffischen Urhorde, sein grundlegendes Tötungsverbot entgegen: „Affe nicht töten Affe“. Caesar predigt den solidarischen Zusammenhalt aller Affen und fordert den Verzicht auf Gewalt im Umgang der verschiedenen äffischen Sippen.

Gegenüber der Menschenhorde setzt Caesar auf Verhandlungslösungen, Abgrenzung der Territorien und gewaltlose Koexistenz. Caesar ermöglicht so, dass die Menschenhorde Zugang zu einem stillgelegten Kraftwerk hoch droben in den Bergen erhalten und sich so eine Grundlage für nachhaltige Existenz schaffen kann.

Doch sowohl bei der äffischen wie bei der menschlichen Horde behalten Scharfmacher und Hetzer vorerst die Oberhand. Bürgerkriegsartige Konflikte brechen auf, sowohl bei den Menschen wie bei den Affen. Die Mechanismen sind in beiden Horden die gleichen: Hetze, Verrat, Lüge, Gewalt.

Im Zuge dieser zahlreichen Scharmützel und gewaltsam ausgetragenen Binnenkonflikte wird auch der jugendliche Schimpanse Ash getötet, nachdem er sich aus Gewissensgründen und eingedenk der Lehren Caesars geweigert hat, unbewaffnete menschliche Zivilisten zu töten. Kein anderer als der Affe Koba ist es, der den Affen Ash gnadenlos hinrichtet! Ein Affe tötet einen Affen. Hier gefriert einem das Blut in den Adern. Tiefer Winter bricht im Frühling herein!

Einen gewaltigen Schritt in der Gewissensbildung der Affengesellschaft vollzieht jedoch der Schimpanse Caesar. Denn Caesar, der selbst durch Koba schwer an der Schulter verwundet worden ist und auf medizinische Hilfe durch die Menschen hofft, bricht in seiner schwersten Stunde zu der tiefen Einsicht durch. „AFFE … HAT … AFFE GETÖTET!“, seufzt er in seiner für Menschenohren schwer verständlichen Sprache, in seinem von Schluchzen unterbrochenen Bekenntnis. Er trifft diese bittere Feststellung ausgerechnet gegenüber dem Menschen Malcolm, und er gesteht damit ein, dass die eigene äffische Horde sittlich nicht besser ist als die bei den Affen doch so oft verachtete menschliche Horde.

„Wir selber, die eigenen Leute haben die eigenen Leute getötet. Wir Affen sind von Natur aus auch nicht besser als ihr Menschen.“ So deute ich mir Caesars Geständnis. Ich meine: Caesars Redlichkeit, Caesars Mut und Caesars Schuldbekenntnis sind der wahrhaft revolutionäre Durchbruch zu einer möglichen Versöhnung zwischen der Urhorde der Menschen und der Urhorde der Affen! Caesar nimmt aus dieser Position der Schwäche heraus auch Hilfe vom Menschen Malcolm an; er bittet sogar um Hilfe; er gesteht schuldhafte Verstrickungen der eigenen Leute ein. Und er reicht damit die Hand zur Versöhnung zwischen Affe und Mensch.

Caesars ursprüngliche Einsicht in die Schuldfähigkeit des Affen weist im Grunde auch die unerlässliche Voraussetzung zur Versöhnung der in Europa siedelnden Menschenvölker auf. Wie oft sehen wir doch, dass die Schuld für eine Katastrophe nur bei einem Volk allein gesucht wird!

Obwohl in diesem Film „Planet der Affen – Revolution“ die größere Schuld zweifellos beim Menschen liegt, tut der Affe Caesar den ersten Schritt zu Versöhnung und Frieden: er gesteht offen ein, dass auch die eigene Seite Verbrechen begangen hat. Eigene Verbrechen, die nicht schon dadurch gerechtfertigt werden können, dass „die andere Seite“ angefangen hat und ja bekanntlich weit schlimmere und zahlreichere Verbrechen begangen hat. Schwere und schwerste Verbrechen, die, so weiß Caesar, sowohl im Bürgerkrieg gegenüber den eigenen Artgenossen wie auch im Krieg der Horden gegeneinander gegenüber den Angehörigen anderer Arten begangen worden sind.

Echte Aussöhnung – dies ist die große, befreiende Einsicht, die ich 2014 aus diesem Film nachhause nahm – kann nur gelingen, wenn alle Seiten die Fähigkeit zur Einsicht in eigene Verfehlungen mitbringen, eigene Sünden offen bekennen und nicht immer die ganze Schuld nur bei den anderen suchen. Der Schimpanse Caesar weist den europäischen Völkern den Weg zu echter Vergangenheitsbewältigung!

Wird der Frieden gelingen, oder wird der am Ende des Films drohende Krieg zwischen Affen und Menschen in aller Rohheit ausbrechen? Wird echte Vergangenheitsbewältigung im offenen, ehrlichen Dialog der Bürgerkriegsparteien gelingen? Oder behalten die Hetzer auf beiden Seiten die Oberhand?

Wir wissen es nicht. Eine weitere Folge der Serie „Planet der Affen“ ist angekündigt; aber die Zukunft der Geschichte ist offen. Der Produzent und der Regisseur haben sich öffentlich noch nicht festgelegt.

Planet der Affen: Revolution | Jetzt als Digital HD.
http://en.wikipedia.org/wiki/Dawn_of_the_Planet_of_the_Apes

Bild von gestern, 31. März 2015, 08.55 Uhr. Winter im Frühling. Kreuzberg. Ein Blick durch den Park am Gleisdreieck auf den Potsdamer Platz. Dahinter, hier nicht sichtbar: das Cinemaxx-Kino.

 Posted by at 13:42
Nov 292014
 

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1. Metanoia – Umdenken, Umwenden, das innere Ruder herumwerfen – das mag wohl der Sinn des alten, heute außer Gebrauch gekommenen  Wortes Reue sein. Jesaja, Jeremia, aber auch Johannes der Täufer erhoben diese Haltung der Umkehr zum Grundmotiv. Griechisch lautet das Wort metanoia. Es dient als Übersetzung des hebräischen schuv oder teschuwa. Johannes erwartet von den Machthabern, dass sie mit der Reue, mit dem Um-Denken, bei sich selbst anfangen. Er misstraut der Macht, er bestreitet, dass Macht das Recht setzt, er verlangt, dass der Mächtige sich dem, was recht und billig ist, unterordnet. Kein König, kein Herr steht über dem Recht. Keiner darf sich zügellos über die Weisung hinwegsetzen.

2. Die Metanoia strafft gewissermaßen die Zügel beim Zügellosen. Schau sie dir an! Du siehst sie hier in diesem Bild der 1980 in Istanbul geborenen Künstlerin Yaşam Şaşmazer. Der Zügellose hat die Orientierung verloren. Er liegt platt auf der Erde. Hinter ihm die Metanoia. Sie versucht ihn aufzurichten. Aber er lässt sich fallen, er stellt sich tot. Wir betrachteten das ungleiche Gespann des Unbußfertigen und der Metanoia, als wir unterwegs zum Joseph Roth in der Potsdamer Straße waren .

3. Als Frucht der „metanoia tedesca“, der deutschen Umkehr, der deutschen Buß und Reu, wertet der italienische Politologe Angelo Bolaffi in seinem Buch Cuore tedesco den Erfolg der Bundesrepublik Deutschland – sie stelle das einzige erstrebenswerte Vorbild für die dringend gebotene Neuordnung der Europäischen Union dar: l’unico modello di riferimento che abbia dato buona prova di sé dal punto di vista della giustizia sociale e dell’efficienza economica.

4. Kommt Reue eigentlich im Euro-Wortschatz vor? Euro!  Reue! Beide Wörter klingen so ähnlich! Und doch sind sie unendlich weit voneinander weg. Ich schlug dazu das Euro-Wörterbuch des Langenscheidt-Verlages auf, als ich an der Ausstellung Metanoia  vorbeigelaufen war. Mich interessierte, wie man Metanoia ins Türkische übersetzt. Fehlanzeige! Gab es denn wirklich keinen Platz für das Wort Reue im Euro-Raum? Nein, in der Tat fehlt zwischen den Einträgen „Rettungsring“ und „Revanche“ das Wort „Reue“ im Euro-Wörterbuch.

5. Und doch wäre die tätige Reue der Rettungsring, der den Kreislauf aus Niederfallen und Revanche aufbrechen könnte.

6. Forse abbiamo bisogno di una metanoia europea. Wir brauchen wohl ein europäisches Umdenken.

Beweise:
Yaşam Şaşmazer: Metanoia.  Ausstellung in der Galerie Berlinartprojects, Berlin, Potsdamer Str. 61, 19.09.-31.10.2014
Langenscheidt Euro-Wörterbuch Türkisch. Langenscheidt Verlag KG, Berlin und München 1999, S. 481
Angelo Bolaffi: Cuore tedesco, Roma 2013, S. 254

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Mai 122014
 

Die nachstehenden Erwägungen fassen waschzettelhaft, grob und ungenau zahllose Beobachtungen und Bemerkungen zusammen, die ich in über 15 Jahren in Russland, in Deutschland, in anderen Ländern, in hunderten von Begegnungen und Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Menschen, in Tausenden von Büchern, Aufsätzen, Blogs usw. destillieren konnte. Sie sind sicherlich nicht wissenschaftlich exakt, aber sie versuchen, eine Bewusstseinslage zu erfassen, wie sie derzeit wohl das Handeln und Fühlen vieler Menschen in Russland, in der Ukraine, in Deutschland und in den EU-Ländern bestimmen dürfte.

Als „zerschmettert“ hat die Schauspielerin Katja Riemann vor wenigen Tagen zu recht die Identität Deutschlands bezeichnet. Die 12 Jahre der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werden heute von der Mehrheit der Deutschen als Bruch, als Störung, ja oft auch als Zerstörung der etwa 1100 Jahre deutscher Geschichte gesehen. „Deutsche Geschichte“ kann man mit Fug und Recht etwa mit Ottos I. Kaiserkrönung, also mit dem Jahr 962 beginnen lassen. Deutsche Geschichte endet nach dieser „Zerschmetterungstheorie“ endgültig  um das Jahr 1933.

Sehr viele Deutsche schämen sich wegen 1933-1945 dafür, Deutsche zu sein. Sie wollen mit Goethe, Luther, Bach, Kant, mit deutscher Musik, mit deutscher Sprache, mit deutschen Volksliedern, mit dem Muttertag, mit den deutschen Vätern und Großvätern, mit einem deutschen Nationalstaat, mit deutscher Kultur von vor 1945 nichts mehr zu tun haben. Das deutsche Volk ist in ihren Augen das Trägervolk des schlechthin Bösen. Deshalb auch das Bestreben, möglichst rasch alles Deutsche, alle deutsche Schuld und Schuldigkeit in einem großen europäischen Euro-Kuchen verschmelzen zu lassen. Kein anderes Volk kommt uns in dieser verblendet-selbstquälerischen Haltung auch nur im entferntesten nahe. „Es war alles schlecht und teuflisch unter Hitler, Göring und Himmler – und wenn ein Volk so etwas zulässt, dann hat es sein Existenzrecht als Volk verwirkt. Drum besser wär’s, es gäbe gar kein Deutschland.“

So fühlen und agieren  in Deutschland viele. Augenfälligster Beleg dafür: die Antipatrioten, die Antideutschen, die in Friedrichshain in der Revaler Straße völlig ungehindert und ungestört ihr Bekenntnis auf die Dächer gepinselt haben: „Deutschland verrecke.“ Kein anderer europäischer Staat würde so etwas in seinen Grenzen zulassen, nur in Deutschland findet diese Selbstverfluchung, dieser Selbsthass eine selbstgefällige und selbstzufriedene Anhängerschaft.

Für die allermeisten Russen hingegen – ich meine: für etwa 60 bis 70 Prozent der Russen ist – in schroffem, in denkbar schärfstem  Gegensatz zu Deutschland – das Nationalgefühl völlig ungebrochen. Die gegenwärtige Ukraine-Krise belegt: Der russische Nationalstolz ist sogar wie Phönix aus der Asche emporgestiegen. Die ungefähr 40 Jahre kommunistischer Terrorherrschaft (ab 1917 bis etwa  zum Tode Stalins) werden von der Mehrheit der Russen als Abweichung, als Störung, ja als eigentlich unrussisch gesehen. „Wir Russen waren es nicht. Es war alles nur der Stalinismus.“

Riesige Teile der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind und bleiben folglich den meisten Russen völlig unbekannt; so ist etwa das operative Kriegsbündnis, das das Deutsche Reich und die Sowjetunion von 1939 bis 21. August 1941 pflegten und das in gemeinsamen Triumph-Feiern und Sieges-Paraden der deutschen Faschisten und der russisch-sowjetischen Kommunisten gipfelte, völlig unbekannt. Am 22.09.1939 feierten – wie fast niemand weiß – deutsch-nationalsozialistische und sowjetisch-russische Truppen in Brest die Aufteilung Europas in zwei Blöcke. Wer sich diesem Herrschaftsanspruch des Deutschen Reiches bzw. der Sowjetunion entgegenstellte, der wurde mit aller Brutalität zerschmettert.

Die insbesondere ab 1936 ausgeübte Terrorherrschaft der sowjetischen Kommunisten gegenüber den Minderheitenvölkern der UDSSR oder sogenannten Schädlingen wie etwa den „Kulaken“, Tataren, den Ukrainern, den Polen, den baltischen Völkern, das aus vielen Hundert Lagern bestehende GULAG-System ist nie ins breite Bewusstsein der Russen eindrungen. Viele Russen halten sich weiterhin für das erwählte Trägervolk des Guten.

Nach 70 Jahren kommunistischer Herrschaft sieht ein Teil der Russen zwar den gesamten Kommunismus als gescheitertes Experiment an. Denn die Millionen und Abermillionen  von Terroropfern, die die Zwangsherrschaft Lenins, Berijas, Jeschows, Stalins und Hunderttausender von Mitläufern ab 1917 sowohl bei Russen wie bei anderen Völkern gebracht hat, wird als ein zu hoher Preis angesehen. „Es war nicht alles gut unter Lenin, Jeschow, Stalin, Berija und Chruschtschow, aber wir haben weitgehend im Alleingang den deutschen Faschismus besiegt. Und insofern sind wir im Recht. Wir haben das Herz des Bösen besiegt.“

Der östliche Kriegsschauplatz war über weite Strecken Stätte erbitterter Partisanenkriege, in denen die Völkerschaften aufeinander prallten. Auch der vielbeschworene 9. Mai 1945 beendete diese Partisanenkriege, die Teil des 2. Weltkrieges sind, namentlich in den baltischen Staaten, in Polen und in der Ukraine und in Griechenland nicht. Vielmehr wurde noch jahrelang mit größter Brutalität weitergekämpft: ein völlig vergessenes Kapitel der Gewaltgeschichte unseres Kontinents.

Häufig wird heute der Kommunismus auch als Abirrung vom rechten Weg Russlands angesehen.  Die Ausländer, der Westen, also insbesondere der jüdischstämmige Deutsche Karl Marx und der Kaiser Wilhelm II. hätten Russland den ganzen Kladderadatsch eingebrockt. „Hätten die Deutschen 1917 Lenin nicht zur Zersetzung der alten Ordnung ins Land gelassen, wäre das alles nicht passiert.“ Der rechte Weg Russlands wird heute durch das starke Sendungsbewusstsein der russischen Geistesgrößen bezeichnet, das sich insbesondere ab etwa 1860 bis 1917 entfaltet hat. Da fallen Namen ein wie Tolstoi, Dostojewskij, Berdjajew, Konstantin Aksakow, Nikolai Danilewski – sie alle vertraten ein panslawisches Bewusstsein von der hohen Sendung Russlands, das zur Wahrung der christlichen Werte gegenüber dem dekadenten Westen eingesetzt sei.

Das orthodoxe Christentum ist integraler Bestandteil der neuen russischen Staatsideologie geworden! Der Prozess gegen Pussy Riot erfüllte den Zweck, das innige Bündnis zwischen Thron und Altar, das phönixgleich aus der Asche der Sowjetunion wiederauferstanden ist, augenfällig zu dokumentieren.  „Wer sich Russland anschließt, wird in Frieden und Freiheit leben.“ So das Versprechen der Russen an die anderen, insbesondere die slawischen Völker des europäischen Ostens.

Ein anderer Teil der ehemaligen Sowjetbürger trauert dem Gemeinschaftsgefühl der Sowjetunion nach. Die Völker, die eher dem asiatischen Raum oder dem europäischen Osten zuzurechnen sind, etwa die Bulgaren, die Rumänen, die Armenier, ein Teil der Ukrainer oder auch die Serben, zeigen sich gegenüber solchen Bestrebungen aufgeschlossen.

Die Völker hingegen, die kulturell von jeher dem Westen Europas angehören, also namentlich die Balten, Tschechen, Polen, ein Teil der Ukrainer, die Slowaken, Ungarn, Finnen, die Slowenen, die Kroaten denken freilich nicht im Traum daran, sich erneut unter den gütigen Schutzmantel der russischen Oberherrschaft zu begeben. Sie haben jahrhundertelang Russland bzw. die Sowjetunion als fremde Macht über sich erdulden müssen, wobei zweifellos neben und nach Nazi-Deutschland die Fremdherrschaft der Sowjetunion den Tiefpunkt der Erniedrigung darstellte.

 Posted by at 15:45
Aug 132012
 

Seit vielen Jahren beobachte ich das beeindruckende Anwachsen der Mahnmale für deutsche Schuld in meinem unmittelbaren Wohnumfeld. Neben dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas wächst auch die Steinwüste der „Topographie des Terrors“ raumgreifend heran, wie das obige Foto belegt. Beide Mahnmale sind absolute Tourismus-Magneten, ich sehe jeden Tag europäische, asiatische und amerikanische Touristen zu den Gedenkstätten der deutschen Schande pilgern. Durchaus denkbar ist es, dass diese Flächen sich nach und nach ausbreiten und schließlich das gesamte Antlitz von Berlins Mitte prägen werden. Den Touristen läuft ein Schauder über den Rücken. Wir können stolz bekennen: Deutschland bekennt sich im Gegensatz zu vielen andern Ländern offen zu seinen mannigfachen Schandtaten. Wir sind, wie uns Timothy Garton Ash bescheinigt hat, die Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung. Es ist, als wollte Deutschland sagen: Völker der Welt, kommt her und seht euch an, was wir euch alles Böse angetan haben.

Einige Male erwähnten wir in diesem Blog die allgemeine Friedensformel, welche ab 1945 tausendfach in Europa ausgegeben wurde und seither fest in die historische DNA eingebaut worden ist:

1) Letztlich kommt alles Übel in Europas Geschichte im 20. Jahrhundert von Deutschland her.

2) Sofern Deutschland diese Allein- oder doch mindestens Hauptschuld anerkennt und in rituellen Bußübungen dafür um Verzeihung bittet, kann Frieden herrschen.

3) Sobald Deutschland – etwa in der Europäischen Union – nur im mindesten irgendwelche Ansprüche als gleichberechtigter Partner oder gar als in Europa führende Wirtschaftsnation erhebt, wird bewusst oder unbewusst auf das Dogma Nummer 1 verwiesen. So beschwor die italienische Zeitung Il giornale bereits Il quarto Reich – Das Vierte Reich – herauf, als Kanzlerin Merkel auf die Einhaltung bestimmter vertraglicher Abmachungen drängte. Ein absoluter Tiefpunkt der antideutschen Meinungsmache.

Helmut Schmidt, der Altkanzler, hat erst jüngst wieder bei Sandra Maischberger darauf verwiesen: „Der Mord an sechs Millionen Juden ist im Unterbewusstsein der europäischen Völker ein so schweres Gewicht, dass es eine Führung durch die Deutschen ausschließt.“

4) Der Holocaust ist das entscheidende Ereignis der deutschen, ja der europäischen Geschichte. Alles, was vorher kam, ist dadurch entwertet. Dieses absolut zu setzende Ereignis begründet für die Deutschen eine negative Geschichtstheologie. Die Deutschen sind somit Trägervolk des absoluten Bösen. Sie werden unablässig von Selbstzweifeln geschüttelt.

5) Deutschland verordnet sich gehorsam daraufhin weitere Lektionen in der Pädagogik der Scham.

Eine ganze Fülle an neuen Erkenntnissen bringt allerdings seit 1990 diese nahezu unumstößlichen Glaubenssätze ins Wanken. Die Archive öffnen sich, Forschungs- und Redeverbote werden gelockert. Die letzten überlebenden Zeitzeugen beginnen ganz andere, von den Lehrsätzen der Friedensformel abweichende  Geschichten zu erzählen. Die Völker Europas fangen an, sich der gemeinsamen Verstrickung in die verschiedenen Massenmorde, Vertreibungen und Kriegsgreuel zu erinnern.  Insbesondere in Italien, Polen, Tschechien und Russland wird in einem Akt schmerzhafter Selbsterforschung zunehmend erkannt, dass ab 1917 Völkermord, eliminatorischer Massenterror gegen ganze Völker, verbrecherische Angriffskriege, staatlich angeordnete Judenpogrome, Vertreibungen, Konzentrationslagersysteme keine Eigenheit Deutschlands waren, sondern ebenso – und oft sogar früher – in anderen Ländern, in anderen europäischen Staaten geplant, eingeleitet und durchgeführt wurden.

„Hitleristen, Judenfeinde und Stalinisten gab es überall – nicht nur unter Deutschen, sondern auch bei den Polen, in der Ukraine, in Tschechien und Lettland.“ So hörte ich es selbst bereits 1975 aus dem Munde eines überlebenden polnischen Häftlings bei einer Führung im KZ Maidanek. In Polen fördern nun neue Forschungen zutage, dass es während des Kriegs auch zu gemeinsamen deutsch-polnischen Judenpogromen gekommen ist. Das ab 1939 geraubte jüdische Eigentum verblieb nach dem Ende des Krieges in polnischem Besitz.  Ein Sammelband unter dem Titel „Inferno of Choices“, empfohlen vom polnischen Außenministerium, berichtet darüber – was naturgemäß die nationalistische Rechte auf den Plan ruft. Darüber referiert  Konrad Schuller am 11.08.2012 in der FAZ: „Die Wahrheit schwarz auf weiß.“ Und selbst nach dem Ende des Krieges und nach der Vertreibung der Deutschen kam es in verschiedenen Ländern Mitteleuropas zu weiteren gewaltsamen Pogromen gegen die Juden, wie es aus eigenem Erleben etwa auch der 1929 in der Tschechoslowakei geborene Robert F. Lamberg – seinerseits jüdischer Herkunft – berichtet.

Polnische Kommunisten vollstrecken nach dem Ende des 2. Weltkrieges an polnischen Landsleuten oftmals das, was den Nazis vorher nicht gelang: die grausame Hinrichtung von polnischen Widerstandskämpfern, die sich auch der Nachfolgediktatur der Nationalsozialisten, nämlich der bolschewistischen Terrorherrschaft widersetzen. Emil Pilecki etwa wird nach der Katyn-Methode hingerichtet, wie sie die sowjetische Geheimpolizei hunderttausendfach anwandte: durch Pistolenschuss in den Hinterkopf des Verurteilten. Der Partisanenkrieg gegen die Sowjetrussen dauert nach 1945 in Polen und in den baltischen Ländern, insbesondere in Lettland noch jahrelang. Und diese zahlreichen Bürgerkriege – insbesondere auch in Italien, Spanien und Griechenland – gehören bis heute zu den am besten gehüteten Geheimnissen der europäischen Friedensformel.

Emil Hácha, der letzte tschechoslowakische Ministerpräsident vor dem 2. Weltkrieg, herrschte mit eiserner Faust über seinen Staat und gebärdete sich als willfähriger Scherge des Deutschen Reiches. Seine Truppen und seine Polizei verhafteten und vertrieben 1939 ohne äußeren Druck 20.000 sudetendeutsche Gegner der Nazis und lieferten sie in deutsche Konzentrationslager ein. So berichtet es R. M. Douglas in seiner umfassenden Studie Orderly and Humane: Tschechische Polizisten liefern sudetendeutsche Widerständler an Hitler aus.

Was folgt daraus? Die europäische Friedensformel, wie sie oben faustformelartig skizziert wurde, ist so nicht haltbar. Ich meine, im Laufe der nächsten Jahre wird sie etwa in folgende Richtung gehen:

1) Nicht alles Übel in Europas Geschichte im 20. Jahrhundert kommt von Deutschland her. Zahlreiche europäische Länder beschritten ohne äußeren Druck den Weg der Gewalt und des Terrors. Die erste Häfte des 20. Jahrhunderts war durch eine bis dahin beispiellose Verkettung von staatlichen Massenverbrechen, Vertreibungen, eliminatorischen Verfolgungen, Angriffskriegen und Bürgerkriegen gekennzeichnet. In den Jahren 1933-1953 bildeten sich jedoch Sowjetunion und Deutsches Reich als die beiden entscheidenden Pole der staatlichen Massenverbrechen heraus. Diese beiden Länder versuchten ihre Terrorherrschaft nach und nach auf alle Nachbarländer und den Rest Europas auszudehnen.  Die europäische Staatenordnung war etwa ab 1933  entscheidend durch die bipolare Kräfteanordnung zwischen Deutschem Reich und Sowjetunion bestimmt.

2) Sofern die vielen europäischen Länder aufgrund freier Einsicht ihre Schuld anerkennen und in symbolischen Akten voreinander um Verzeihung bitten, kann echter innerer Frieden herrschen.

3)  Deutschland sollte weiterhin sich umfassend zu seiner aus der Vergangenheit herrührenden moralischen Schuld bekennen, aber auch gerade deswegen in der Europäischen Union Ansprüche als politisch gleichberechtigter Partner erheben, die im Einklang mit seinem Gewicht als Europas größter Volkswirtschaft stehen. Mangelnder politischer Gestaltungswille bei den Deutschen ist von Übel.

4) Allen EU-Staaten stehen gerade in dieser jetzigen Krise der EU weitere Lektionen in der Pädagogik der Scham gut zu Gesicht. Gefragt ist dabei nicht der erhobene Zeigefinger, sondern die aufrichtige, wissenschaftlich gestützte Erforschung der eigenen staatlichen Verbrechen, aber auch der Stolz auf die eigenen Großtaten und Leistungen.

Quellen (Auswahl):

Jan Puhl: Gefangener Nummer 4859. SPIEGEL 32/2012, S. 70-71
Konrad Schuller: Die Wahrheit schwarz auf weiß. Streit um Polens Rolle im Holocaust. FAZ, 11.08.2012, S. 5
Robert F. Lamberg: Bootspartie am Acheron. Ein Leben zwischen braunem und rotem Totalitarismus. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2006
Adolf Hampel: Mein langer Weg nach Moskau. Ausgewählte Erinnerungen. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried, 2012
Menschen bei Maischberger. Sendung vom 07.08.2012, ARD
R. M. Douglas: Orderly and Humane: The Expulsion of the Germans after the Second World War. Yale University Press, New Haven&London 2012, hier Amazon-Kindle-Ausgabe, Pos. 396

 

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„Die Täter sind unter uns“

 Tätervolk  Kommentare deaktiviert für „Die Täter sind unter uns“
Jan 182009
 

„Die Täter sind unter uns.“ Immer wieder höre ich diesen Satz von denen, die den verschiedenen Diktaturen Europas entronnen sind. Und noch unverblümter legt Helmut Schmidt den Finger in diese Wunde. Er schreibt auf S. 80 seines Buches „Außer Dienst“:

Sieht man von wenigen rühmlichen Ausnahmen ab – ich nenne an erster Stelle Kurt Schumacher, Konrad Adenauer und Theodor Heuss -, bestand die erste Generation der deutschen Nachkriegspolitiker zu einem großen Teil aus ehemaligen Nazis und ehemaligen Mitläufern.

(Helmut Schmidt: Außer Dienst. München 2008)

Das darf doch nicht wahr sein – fast alle die Mörder und Henker kommen ungeschoren davon! So dachte ich als Jugendlicher und stritt herum mit denen, die anderer Meinung waren. Ältere erwiderten mir: „Es war nicht möglich, die gesamte Funktionselite auszutauschen. Verwaltung, Polizei, Justiz und Politik wären völlig zusammengebrochen, wenn man alle aktiv an schwersten Verbrechen Beteiligten aus dem Dienst entfernt hätte.“ Und so galt in beiden deutschen Staaten und in Österreich: Die Mörder sind unter uns.

Heute muss ich ernüchtert zur Kenntnis nehmen: Wenn ganze Staaten durch verbrecherische Regierungen gekapert werden, dann kann die juristische Aufarbeitung all der mit staatlicher Deckung begangenen Verbrechen nie zur Gänze gelingen. Sie erfasst sogar immer nur einen verschwindendenTeil der Verbrechen – die meisten Täter kommen ungeschoren davon, ja, da sie ein meist gut integrierter Teil des herrschenden Systems waren, werden sie üblicherweise sogar materiell besser dastehen als die meisten ihrer überlebenden Opfer. Das finde ich empörend, in mir sträubt sich alles gegen diesen Befund … aber ich muss ihn zur Kenntnis nehmen. Soll denn alles unter einem großen Stein begraben werden – ähnlich dem Felsblock vor der Lubianka in Moskau „Den Opfern des Stalinismus“? Nein – wir haben die Erinnerung, wir haben die politische und historische Aufarbeitung. An dieser gilt es weiterzuarbeiten. Und man kann mit denen sprechen, die noch einmal davongekommen sind, die Zeugnis ablegen können.

Aber die juristische Aufarbeitung wird kaum mehr als ein Tropfen in den Ozean des Leidens sein.

Auch der tschechische Außenminister Schwarzenberg äußert sich im Tagesspiegel ähnlich. Er entwirft – endlich!  – eine Vision von der EU, die alle im engeren Sinne europäischen Nationen umfassen soll – vor allem die Länder des Balkans. Darüber hinaus mahnt er, den vernachlässigten Dialog mit Russland noch bewusster zu pflegen. Ich stimme ihm in beiden Forderungen unbedingt zu und zitiere:

„Mein Traum: Russland als Partner Europas“
Sind Sie sicher, dass die anderen Europäer, genauer die Westeuropäer dafür Verständnis aufbringen? Einerseits gibt es die Furcht vor der Überdehnung der EU durch weitere Mitglieder. Und andererseits gibt es Empfindlichkeiten. Die Niederlande machen zum Beispiel Fortschritte gegenüber Serbien von der Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Ratko Mladic abhängig.

Ich glaube, die jetzige serbische Regierung bemüht sich ehrlich um Lösungen. Und wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, wie Netzwerke alter Kollegen jahrelang ihre Kumpane geschützt haben. Keine Nation kann behaupten, dass sie sich nicht mit Verbrechen befleckt hat. Und jetzt, bitte sehr, wie viele von unseren eigenen Tätern, mein eigenes Land nicht ausgeschlossen, ist es gelungen, zu bestrafen? Eine relativ minimale Zahl. Der Umgang mit diesem Problem scheint mir bis zu einem gewissen Grad eine Ausrede, weil man den Balkan nicht reinnehmen will. Man muss die Sache auch mal beim Namen nennen.

Dieses Europa, dessen Präsidentschaft Sie jetzt wahrnehmen, ist zum guten Teil das Ergebnis des großen Umbruches von 89/90, der ja auch Sie selber in die Politik gespült hat. Gehen wir mit dieser Zeit richtig um? Wir werden ja in diesem Jahr die zwanzigste Wiederkehr dieser Epochen- Zäsur mächtig feiern.

Wir haben sehr viel Gutes geleistet. Die Erweiterung Europas oder die langsame Aufnahme ganz Europas in die Gemeinschaft war eine Großtat. Aber wir haben auch große Fehler gemacht. Einer davon war, dass wir vor allem in den 90er Jahren nicht mehr mit Russland gesprochen und es vernachlässigt haben.

Und in Bezug auf das neue Europa selbst? Wir haben heute in Polen und in Ungarn wie auch in Ihrem Land eine sehr angespannte Lage, zum Teil mit populistischen Tendenzen, die besorgniserregend sind.

Das bestreite ich gar nicht. Aber vergleichen Sie die Situation nach 1989 in diesen Ländern mit der nach 1945 in Westeuropa. Wer weiß noch, wie instabil die Verhältnisse in Italien waren? Und in Frankreich – bis de Gaulle kam? In Spanien und Portugal gab es Diktaturen Also, tun wir nicht so, als ob die Westeuropäer damals so viel besser waren. Nein, bis zu einem gewissen Grad ist das eine sehr ähnliche Entwicklung. Und was die Fortdauer kommunistischer Netzwerke betrifft, so kann ich mich gut daran erinnern, wie in Österreich – wir haben damals dort gelebt – noch lange Zeit nach dem Krieg das Netzwerk der ehemaligen NSDAP tadellos funktioniert hat.

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