Verkehrserziehung hautnah

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Apr 112008
 

Beim Frühstück unterhalte ich mich mit meinem Sohn Wanja über den Lego-Andenkenstein, den wir beim Besuch des Berliner Legolands erhielten. Dann sprechen wir über Namen. Warum heißt Legoland „Legoland“?, fragt er. Ich erwähne „Disneyland“ und ähnliches, erkläre, dass man damit eine künstliche Landschaft schaffen möchte, einen Vergnügungspark, wo man Mickey Maus und andere Comic-Figuren in Lebensgröße treffen kann. Dann fühle ich Wanja auf den Zahn:  „Weißt du denn, wer Mickey Maus ist?“, frage ich den Fünfjährigen. „Ja!“, antwortet er und wartet sofort mit einem mir bis heute unbekannten Abzählvers auf:

Mickey Maus, Mickey Maus, geht ins Rathaus,

Rathaus, Rathaus, Mickey Maus geht wieder raus,

Mickey Maus lachte, Mickey Maus krachte,

Ampel rot, Mickey Maus tot.

Ich bin beeindruckt. Ist dies Teil der Verkehrserziehung, wie sie die Kinder ganz selbstverständlich untereinander praktizieren?

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Apr 112008
 

Der Bundestag hat soeben beschlossen, den Stichtag, vor dem die zur Nutzung freigegebenen menschlichen Stammzellen erzeugt worden sein müssen, einmalig auf den 01.05.2007 vorzuverlegen. Als eine der wichtigen Fürsprecherinnen für den später dann angenommenen Gesetzentwurf erwies sich erneut unsere Justizministerin. Die Süddeutsche Zeitung berichtet:

Der neue Stichtag ist nach Ansicht von Justizministerin Brigitte Zypries mit der Verfassung vereinbar. Der Staat habe zwar die Pflicht, menschliches Leben zu schützen. Genauso müsse er aber darauf achten, dass die Freiheit der Forschung nicht eingeschränkt werde, sagte Zypries.

Wie so oft, genügt es, genau zu lesen: Wenn Zypries das wirklich so gesagt haben sollte, dann hieße dies: Wir stecken in einem ethischen Dilemma, in dem es zwei Rechtsgüter abzuwägen gilt. Auch Ministerin Schavan sprach ja mehrfach von einem „Dilemma“, also einer Lage, in der es zwischen zwei Rechtsgütern abzuwägen gelte. Die Pflicht des Staates, menschliches Leben zu schützen, wäre gleichrangig mit der Pflicht, die Forschung vor Einschränkungen ihrer Freiheit zu schützen. Dann stünde freilich die Justizministerin im Widerspruch zur herrschenden Rechtsauffassung über den Rang der im Grundgesetz verankerten Rechtsgüter. Denn der Schutz der Menschenwürde, also der Schutz menschlichen Lebens genießt höheren Rang, ja sogar den höchsten, „unantastbaren“ Rang. Die grundgesetzlich ebenfalls gesicherte Freiheit der Forschung ist ihm eindeutig unterzuordnen.

Spiegel online berichtet:

In namentlicher Abstimmung votierten 346 Abgeordnete für eine einmalige Verschiebung des Stichtags für zur Forschung freigegebenen Stammzellen auf den 1. Mai 2007. Dagegen stimmten 228 Parlamentarier, 6 enthielten sich.

Zuvor hatte der Bundestag bereits über weitere Anträge zur Stammzellforschung abgestimmt. Dabei lehnten die Abgeordneten sowohl ein Totalverbot der Forschung an embryonalen Stammzellen als auch die völlige Freigabe solcher Forschungsarbeiten ab. Die Abstimmungen erfolgten namentlich und ohne Fraktionszwang.

Einen guten Kommentar zu dieser Entscheidung lieferte vor der Abstimmung bereits die Abgeordnete Maria Böhmer:

„Wenn der Bedarf einmal der Grund für die Verschiebung ist, kann er es auch ein zweites und drittes Mal sein und dann sind wir auf einer schiefen Ebene.“

Ich stimme dieser Einschätzung zu. Eine völlige Freigabe menschlicher Stammzellen gleich welcher Herkunft für Forschungs- und Heilungszwecke wäre zumindest ehrlicher gewesen. Die Mehrheit des deutschen Bundestages hat sich heute für ein bequemes Sowohl-als-auch entschieden: „Ja, wir geben es zu, wir finden es bedenklich, wenn embryonale menschliche Stammzellen, die aus der Tötung eines menschlichen Embryos gewonnen wurden, bei uns für Forschungszwecke verwendet werden. Deshalb müssen diese Stammzellen auch im Ausland gewonnen worden sein. Bitte nicht bei uns so etwas machen, wir haben unser 2000 verabschiedetes Embryonenschutzgesetz!“

Es bleibt abzuwarten, ob und wann das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 2000 ebenfalls zugunsten der Forschungs- und Verwertungsfreiheit sturmreif geschossen wird. Wir sind noch nicht im freien Fall. Das heute veränderte Stammzellengesetz wird keine lange Lebensdauer haben. Ich gebe ihm 5 bis 7 Jahre.

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Apr 102008
 

Wird das ein Mensch? Am kommenden Freitag, dem 11. April, wird der deutsche Bundestag in zweiter und dritter Lesung die vier unterschiedlichen Gesetzentwürfe zur Änderung des Stammzellgesetzes vom 28. Juni 2002 beraten. Wir kommentierten in diesem Blog bereits die erste Lesung am 15.02.2008. Ich versuche anhand der verfügbaren Quellen Tag um Tag den Stand der Diskussion aufzuarbeiten, studiere die vier unterschiedlichen Gesetzentwürfe, die dem Bundestag vorliegen. Ergebnis: Seit jener bekannten Rede der Justizministerin Zypries im Jahre 2003, als sie sich so vehement für den Biotech-Standort Deutschland einsetzte, sind keine wesentlich neuen Argumente aufgetaucht.

„Der Embryo in der Petrischale hat lediglich die Perspektive, das auszubilden, was ich eben als die wesentlichen Bestandteile der Menschenwürde beschrieben habe. Die Frage ist nun: Genügt dieses Potenzial für die Zuerkennung von Menschenwürde im Sinne des Artikels 1 Grundgesetz?“

Die Antwort der Ministerin steht zwischen den Zeilen: Nein, dies sind ihrer Meinung nach keine menschlichen Wesen, es sind allenfalls Noch-nicht-Menschen. Das Argument ist nicht neu. Neu ist vielmehr, dass der mühsam ausgehandelte Kompromiss des geltenden Stammzellgesetzes aus dem Jahr 2002 nicht mehr den Ansprüchen einer ehrgeizigen Forschergeneration genügt. Das humangenetische Material ist einfach nicht mehr gut genug, neues Material muss an die Front geworfen werden. Die Stichtagsregelung, die damals mit treuherzigen Versprechungen als vertretbare Markscheide, als nur einen Spalt breite Tür gepriesen wurde, ist nach wenigen Jahren schon nicht mehr das Papier im Bundesgesetzblatt wert, auf dem sie damals verkündet wurde.

„Die bioethische Diskussion hat, wie es scheint, ihren Höhepunkt überschritten. Die Argumente sind ausgetauscht, jetzt werden Fakten geschaffen. Der Bundestag wird vermutlich bald eine Verschiebung der Stichtagsregelung für den Import von embryonalen Stammzelllinien beschließen“, kommentierte Michael Pawlik zutreffend am 07.04.2008 in der FAZ.

Passend zur erneuten Lesung in zwei Tagen, und passend auch zu dem Umstand, dass sich 180 Bundestagsabgeordnete in dieser Woche als noch nicht entschieden erklärt haben, wird auch das mediale Begleitfeuer für die anstehende erneute „Türöffnung“ wieder hochgefahren: Am 08.04.2008 wird unter dem Übertitel „Stammzellforschung“ in der Süddeutschen Zeitung verkündet, dass Wissenschaftler ermutigende Experimente mit Parkinson-Patienten abgeschlossen hätten, denen sie ein Gemisch von Nervenzellen injiziert hätten. Obwohl dieser Weg, bei denen Nervenzellen aus abgetriebenen Föten verwertet worden seien, nicht dauerhaft zum Erfolg führen werde, setzten sie nunmehr große Hoffnung auf die Stammzellforschung. Die Nervenzellen, die bei einigen Patienten zu einer Besserung, bei anderen zu einer verheerenden Ausbreitung der Krankheit in andere Organe führten, stammten von abgetriebenen menschlichen Föten – und folglich setzten die Forscher jetzt ihre Hoffung auf embryonale Stammzellen. Ist das logisch?

Nein, man fasst sich an den Kopf: Es ist dieselbe verquere Denkbewegung wie bei der Verschiebung der Stichtagsregelung: Weil das vorhandene Material – also die von abgetriebenen menschlichen Föten stammenden Nervenzellen – sich als nicht gut genug erweist, muss frischeres Humanmaterial herangeschafft werden, diesmal eben nicht von den zu alten Föten, sondern von wesentlich jüngeren Embryos, deren totipotente Stammzellen gemäß den gänzlich unbewiesenen Verheißungen der Biotechnik die Leistungsfähigkeit der Föten um ein Vielfaches übersteigen. Das beste Material muss dem Forschungsstandort Deutschland zur Verfügung gestellt werden, selbstverständlich nur aus vor dem neuen Stichtag bestehenden, aus dem Ausland importierten Stammzelllinien.

Denn: Dem Forschungsstandort Deutschland geht es nicht gut genug. Ministerin Schavan führte am 02.03.2008 ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung beredte Klage über den Wissenschaftsstandort Deutschland. Es fehle an Kooperation zwischen Forschung und Wirtschaft, an Anreizen für Spitzenforschung, an langfristigen, sicheren Investitionen des Staates. Und zum Schluss des Interviews rechtfertigt sie, nachdem also der Grund vorbereitet worden ist, ihre Forderung nach einer Verschiebung des Stichtages:

„Die Forschung ist dabei, Wege zu finden, wie sie künftig ohne den Verbrauch von Embryonen zu fähigen Stammzelllinien für die Forschung kommt. Wir sind dabei aber auf das Wissen aus der jetzigen embryonalen Stammzellforschung angewiesen. Deshalb soll der Import in eingeschränktem Maß möglich bleiben und auch frischere Stammzelllinien einbeziehen. Das ist ein Dilemma, aber die deutsche Gesetzgebung setzt klare Grenzen wie kaum ein Land in der Welt. Es geht jetzt nur um eine Verlegung des Stichtages.“

Auch hier liegt eine merkwürdige Logik zugrunde: Der hochheilig gesetzte erste Stichtag soll jetzt nicht mehr gelten, weil wir eine millionenteure Forschung brauchen, die daran arbeitet, wie sie ihr eignes Forschungsmaterial überflüssig macht? Nein, wir können sicher sein: Es wird sich schon eine Begründung finden lassen, auch diesen Stichtag noch einmal zu verschieben, und dann noch einmal …

Um zum Abschluss zu kommen: Ich setze meine Hoffnung auf den Gesetzentwurf 16/7983 vom 18. Januar 2008, vorgelegt von den Abgeordneten Hüppe, Dött, Eichhorn und anderen. Leider finde ich unter ihrem Gesetzentwurf nur recht wenige Namen. Ich wünsche mir, dass es bis Freitag noch ein paar mehr werden. Diese kleine, unerschrockene Gruppe von Abgeordneten lässt sich nicht ins Bockshorn jagen. Sie lehnen die würdewidrige Zerstörung menschlicher Embryonen für Forschungszwecke vollständig ab. Zusätzlich haben sie übrigens noch ein weiteres Argument auf ihrer Seite:

„Einerseits konnten in den zehn Jahren seit Beginn der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen weder irgendwelche Therapien unheilbarer Krankheiten gefunden noch angesichts des unbeherrschbaren Tumorrisikos embryonaler Stammzellen überhaupt klinische Studien am Menschen mit ihnen durchgeführt werden. Andererseits konnten auf ethisch unbedenkliche Art erreichbare menschliche pluripotente Stammzellen etwa im Nabelschnurblut oder im Fruchtwasser gefunden sowie durch genetische Reprogrammierung menschlicher Hautzellen erzeugt werden. Daher sind menschliche embryonale Stammzellen heute nicht mehr alternativlos.“

Das Argument scheint nach allen mir erreichbaren Informationen richtig zu sein. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn die maßlosen Versprechungen einiger ehrgeiziger Wissenschaftler und Forschungspolitiker gerechtfertigt wären, würde ich doch sagen: Die ungefähre Aussicht, irgendwann menschliches Leiden zu lindern, rechtfertigt keinesfalls den zerstörenden Zugriff auf menschliches Leben, das alle Anlagen zum vollen Personsein in sich trägt, und das deshalb ebenso schutzwürdig ist wie ein entwickelter Fötus im 8. Monat der Schwangerschaft oder ein neugeborenes Kind am Tage der Geburt.

Wenn ich Bundestagsabgeordneter wäre, wenn ich das Rederecht hätte, würde ich am Freitag laut und vernehmlich in den Saal hineinrufen:

„Meine Damen und Herren Abgeordneten, es liegt nicht in unserer Hand, nicht in der Hand des Staates, nicht in der Hand des Gesetzgebers zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt wir menschlichem Leben Menschenwürde zu- oder absprechen dürfen. Genau deshalb steht der Schutz der Menschenwürde als alle anderen Einzelrechte übersteigendes Gebot im Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Tür, die mit dem Stammzellgesetz von 2002 einen Spalt breit geöffnet wurde, sollten wir hier und heute wieder fest verschließen, sonst wird sie Zug um Zug weiter geöffnet werden. Tun wir das nicht, dann werden die Grenzen des noch nicht schützenswerten menschlichen Lebens Zug um Zug verrückt werden. Und schauen wir doch noch etwas weiter in die Zukunft – oder muss ich sagen: in die Vergangenheit? Wer sagt uns denn, dass nicht irgendwann auch – wieder einmal – die Grenzen des nicht mehr schützenswerten menschlichen Lebens ins Wanken geraten?

Stimmen Sie mit mir für den Gesetzentwurf 16/7983 vom 18. Januar 2008, vorgelegt von den Abgeordneten Hubert Hüppe, Marie-Luise Dött, Maria Eichhorn und anderen.“

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War das ein Mensch? Stimme aus dem Abgrund: Primo Levi

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Apr 102008
 

Ist das ein Mensch – Se questo è un uomo … Tag um Tag lasse ich mir ein Stück aus dem Bericht des italienischen Chemikers Primo Levi vorlesen, werde fast ungeduldig, wenn andere Verpflichtungen mich abhalten, die Geschichte des Mannes zu hören, der nach Auschwitz transportiert wird und dort im Lager unter schrecklichsten Bedingungen überlebt. Ich wähle diesmal den bequemen Weg des Lauschens am Internet-Radio, denn die RAI bietet die aus italienischer Sicht etwa 50 wichtigsten Romane der Weltliteratur jederzeit abrufbar in ihrer Audiothek „Ad alta voce“ an. Schon beim zweiten Kapitel wird klar, wie leicht Menschen ihrer Würde und ihrer Selbstachtung beraubt werden können: Levi beschreibt es in eindringlichen Bildern, wie die zusammengepferchte Menge europäischer Juden im stockdunklen Viehwaggon zu einer ununterscheidbaren Masse verklumpt, einem bloßen organischen Haufen gleichend. Unbedingt lesenswert ist dieses Buch, ich ziehe es den „Bienveillantes“ des Jonathan Littell, die ich ebenfalls in diesen Tagen Stück um Stück lese, bei weitem vor.

Ich habe in meinem Leben mit einigen Überlebenden deutscher Konzentrationslager in Polen, Russland und Deutschland (auch Überlebenden aus Auschwitz) gesprochen, darunter auch Opfern von medizinischen Experimenten: ich fasse ihre Erzählungen so auf, dass die Art der Behandlung, der sie ausgesetzt waren, vor allem eine Wirkung hatte: sie sollten nicht mehr als Menschen gelten, sondern als Material, organische Masse, Untermenschen, Tiere … und die Methode funktionierte. Sie waren die Nicht-mehr-Menschen, die Unter-Menschen! Auch aus den schriftlichen Zeugnissen der Täter entnehme ich, dass die Ent-Menschlichung der Häftlinge, die Ent-Würdigung zur klumpigen Masse eine ganz wesentliche Voraussetzung für den Massenmord war. Schwierig wurde der Massenmord, wenn das Opfer noch als „meinesgleichen“ erkennbar war … wenn es nach Kleidung, Aussehen und Sprache dem Täter noch allzusehr glich. Irgendwann jedoch waren – dank des Systems der „Vernichtung durch Arbeit“ – diese ausgemergelten, jammervollen Gestalten in den Augen der Vollstrecker nur noch ein Haufen Knochen und Haut, dem nach dem damaligen allgemeinen kulturellen Diskurs in Deutschland keine Menschenwürde zuzuerkennen war.

Einen ganz entscheidenden Beitrag zum System des Massenmordes leisteten damals akademisch bestens ausgebildete deutsche Ärzte, Mediziner, Rasseforscher und Eugeniker.

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Apr 062008
 

Am Abend erreichte mich gestern noch ein Anruf: „Ja schaut ihr denn nicht auf ARTE das Geburtstagskonzert für Herbert von Karajan an? Es ist ein wunderbares Konzert, Anne-Sophie Mutter spielt gerade – wunderschön!“ Ich frage zurück: „Wer oder was ist wunderschön? Die Musik oder die Frau?“ „Beides!“, lautet die Antwort. Ich folge der Aufforderung sofort, schalte ARTE ein. Und es stimmt! Mutter, die Berliner Philharmoniker und Seiji Ozawa haben schon die ersten 20 Takte aus dem Larghetto des Beethovenschen Violinkonzertes gespielt. Die Musik trägt scheinbar alle, strömt dahin. Wirklich? Nach wenigen Takten ändert sich mein Eindruck: Die Kamera ruht ganz vorwiegend auf der Solistin, fängt gelegentlich auch einzelne Musiker ein. So bemerkt das Auge, was mein Ohr ebenfalls hört: Die Solistin arbeitet fortwährend am Klang einzelner Töne, hebt einzelne Noten, die zu Ruhepunkten führen – also vor allem solche auf schwachen Zählzeiten-, gewollt hervor. Sie scheint beweisen zu wollen, dass weder sie noch wir mit dem Beethoven-Konzert schon ganz fertig sind, dass es immer noch Neues, Unbekanntes, Unerhörtes zu entdecken gilt! Die Philharmoniker lassen es zu, Ozawa folgt bereitwillig. Dieses Kräftverhältnis bleibt auch im dritten Satz durchweg erhalten, und zwar selbst dann, wenn die Solovioline eindeutig nur umspielende, dienende Funktion gegenüber dem Hauptmotiv hat. Es ist schade, dass Dirigenten und leider auch die Toningenieure es mittlerweile offenbar aufgegeben haben, das Verhältnis zwischen Orchester und Solist so einzustellen, dass Sinn und Struktur eines solchen symphonisch angelegten Konzerts wirklich fassbar hervortreten. Man will den Weltstar sehen, man will dabeigewesen sein, man hat dafür bezahlt. Deutlich wurde das beispielsweise in der d-moll-Episode des dritten Satzes in jenen Takten, wo eindeutig den Holzbläsern die dominierende Rolle anvertraut ist. Mutter führte auch hier, das hörte ich auf Schritt und Tritt heraus.

Bei den wirklich großen, mir im Gedächtnis haftenden Aufführungen dieses Konzerts hatte ich hingegen nie den Eindruck, dass nur der Solist führt – sondern dass der Solist sich führen lässt … sich tragen lässt auf einem rückhaltlosen Vertrauen, Vertrauen in die Komposition, in den Dirigenten und in das Orchester. Es bedarf dann keiner weiteren Zutaten und hingestreuter Perlen.

Aufschlussreich war das Pauseninterview mit Anne-Sopie Mutter über Karajan, über Beethoven, über Bach: „Karajan führte uns so mitreißend, dass wir am Schluss auch wirklich für ihn spielen wollten.“ Eine respektlose Zwischenfrage fiel mir ein: Und wer führte heute abend? „Dieses Konzert ist der Mount Everest, an dem jeder Geiger sich immer wieder erproben muss, und bei dem Kunstverständnis und Virtuosität gleichermaßen gezeigt werden müssen“, so sprach Anne-Sophie Mutter sinngemäß in ihrem wunderbar klaren, schönen, persönlich eingefärbten Deutsch. Aber genau in diesen Aussagen treten auch die Grenzen einer solchen Werkauffassung hervor. Denn dieses Werk kann nicht als bloße einsame Auseinandersetzung der „Gipfelbezwingerin“ gelingen. Dann wird Beethovens opus 61 lange, langatmig, und je länger die drei Sätze dauern, desto stärker wird der Solist sich herausgefordert fühlen, selbständig Glanzlichter an verschiedenen Stellen aufzusetzen, es allen zu beweisen, was er oder sie „drauf hat“. Nein, nur in beharrlicher gemeinsamer Bemühung – vorzugsweise in den Proben – können Dirigent, Orchester und Solist so zusammenfinden, dass daraus der große gemeinsame Atem wird. Karajan, den ich leider nur von Tonträgern kenne, schaffte dieses Wunder immer wieder. Die Beethoven-Aufführung gestern blieb mir zumindest diesen großen, erhebenden Gesamteindruck schuldig. Dabei muss durchaus hervorgehoben werden, dass Mutter die Kreisler-Kadenz des dritten Satzes atemberaubend brillant und mit halsbrecherischem Accelerando spielte, mit einem Spiccato, dass mir schier das Herz stehen blieb – großartig, begeisternd, eine herausragenden Geigerin!

Auch die Zugabe, die Sarabanda aus Bachs d-moll-Partita, entsprach genau diesem Ideal eines Glanzlicher aufsetzenden, um Schönheit der einzelnen Phrase, des Tons bemühten Geigenspiels. Was weniger hervortrat, war die verdeckte Polyphonie, das quasi-ensemblehafte Gepräge dieses gemessen-melancholisch schreitenden Satzes. Beispielsweise in Takt 15: hier hat Bach zweistimmig mit einem einfachen Motiv aus zwei Sechzehnteln komponiert, sinnvollerweise getrennt in der ersten Lage auf A- und E-Saite zu spielen. Mutter entschied sich anders: Sie legte die Phrase ganz auf das unbetonte Tonika-g“ vor dem Taktstrich an, hob dieses sogar noch durch Lagenwechsel auf der A-Saite in die vierte Lage und Vibrato hervor – fürwahr ein hübscher Effekt, den auch andere große Geiger verwenden. Aber sind derartige Effekte wirklich das Beste, was sich aus dieser barocken Komposition herausholen lässt? Ein solches Fragezeichen bleibt. Karajan selbst, wenn er denn zugehört hätte – hätte er kein solches Fragezeichen gesetzt?

Bild: Johann Sebastian Bach: Drei Sonaten und drei Partiten für Violine solo. Hg. von Günter Haußwald, Bärenreiter Verlag, Kassel 1959. S. 30: Sarabanda aus der Partita d-moll

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Apr 052008
 

Was für eine freudige Überraschung – unser heimisch-vertrauter Stadtbezirk Kreuzberg wird gleich mehrfach erwähnt in einem Wochenblatt, das wirklich die ganze Welt liest, Minister, Bankiers, Präsidenten, Journalisten, nämlich dem britischen Economist. Unter dem Titel „Two unamalgamated worlds“ beschreibt die aktuelle Ausgabe (April 5th -11th 2008, S. 29-31) die Misere unseres Nebeneinander-Herlebens in recht ungeschminkter Sprache:

Heavily Turkish Kreuzberg, once on the periphery of West Berlin and now at the centre of the united city, feels more like Greenwich Village than the South Bronx, and even Neukölln “rocks”, according to the cover of a Berlin entertainment magazine. But migrants and Germans lead largely separate lives: when German children reach school age their parents flee (along with middle-class Turks), leaving poorer migrants alone together. “The education system transmits inequality among parents extremely strongly to the successor generation,” says Frank Kalter, a sociologist at the University of Leipzig.

Manche Daten, die die deutschen Blätter eher schamhaft verschweigen, bringt der Economist frank und frei, zumal die Ziffern der arbeitslosen Jugendlichen, der „negativen Auslese“ an Hauptschulen und dergleichen weder auf das deutsche Schulwesen noch auf die türkische Gemeinde ein gutes Licht werfen.

Insgesamt, so meine ich, ist der Artikel gut recherchiert, der Wachschutz an Neuköllner Schulen wird ebenso erwähnt wie die berühmt-berüchtigte Kölner Rede des türkischen Ministerpräsidenten. Der Economist kritisiert übrigens beides: mangelnde Leistungsbereitschaft, mangelnde Bildungsanstrengungen bei den Deutsch-Türken, negative Vorurteile und ein vollkommen überholtes, auf blutsmäßiger Herkunft gestütztes Identitätsgefühl bei den Deutsch-Deutschen:

Even six decades after Hitler, Germany has not sloughed off the idea that Germanness is a matter of blood rather than of culture or allegiance. However high they rise, however good their German, Turks are not allowed to forget that they are foreigners. “I employ 100 people and still I’m not seen as German,” says Mr Sorgec.

Welchen Ausweg schlägt das Blatt vor? Bessere Integration, so der Economist, muss ein zweigleisiges Unterfangen sein:

So integration must now proceed along two tracks: guiding Turks into the social and economic mainstream and Muslims toward allegiance to the Rechtsstaat, the state conditioned by the rule of law.

Am besten jedoch gefällt mir bei der ganzen Abhandlung der Schluss. Es gibt nämlich eine wachsende Schar deutsch-türkischer Jugendlicher und junger Erwachsener, denen das ganze Gejammer nicht mehr genügt. Ich vermute sogar: Sie können es nicht mehr hören. Sie sehen sich nicht als Objekte der Sozialarbeit, sondern als Menschen, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Sie zeigen: Wir wollen etwas erreichen, wir können etwas zustande bringen! Einige von ihnen haben sich in der DeuKischen Generation zusammengeschlossen. Sie setzen die Zeichen der Zuversicht, sie sind selbstbewusst, mutig, aktiv. Sie sehen sich nicht als die ewigen Opfer des Systems, sondern als Beweger und Veränderer.

Ich habe übrigens vor wenigen Tagen erst mein Gesuch auf Aufnahme als „förderndes Mitglied“ bei der DeuKischen Generation eingereicht – Vollmitglied kann ich nicht werden, da ich viel zu alt bin (die Altersgrenze liegt bei 29).

Der Economist enthüllt diese Woche auch gleich den Namen unserer wahrscheinlichen nächsten Kanzlerin:

Refashioning identity is likely to be a collaborative process, enlisting people like Aylin Selcuk, a dental student from Berlin who grew weary of being asked where she came from and whether she spoke German. She started DeuKische Generation to persuade Germans that Turks could be as German as anyone, and to push Turks to embrace the language and norms of their adoptive country. “Germans think we’ll leave, but I’m mainly German,” she insists in Hochdeutsch as mellifluous as anyone’s. Astonishingly poised for a 19-year-old, she might just become the first German chancellor to boast a Turkish name.

Mit diesem optimistischen Schlenker endet der Artikel des Economist. – Tja, wo stehe ich? Erstens, ich spreche gerne und regelmäßig mit den Türken in meiner Gegend. Das ist doch schon was, wenn ich auch noch nie die Moschee besucht habe, die genau gegenüber meinem Wohnhaus liegt. Das würde mich mal interessieren. Ich glaube zweitens an die Einsichten der DeuKischen Generation, ich glaube, dass unsere Gesellschaft durch noch mehr starke, selbstbewusste, in beiden Welten gut ausgebildete und verfassungstreue Deutschtürken großen Nutzen und zusätzlichen Schwung erhalten wird. Ich glaube drittens, mit einer Wendung, deren korrekte Aussprache ich mir persönlich von einigen Vertretern der DeuKischen Generation von Angesicht zu Angesicht beibringen ließ: Hepimiz insaniz! Wir sind doch alle Menschen, begabt mit Sprache und Vernunft. Und wir haben das Glück, in einem Staat zu leben, in dem jeder ungehindert an seinem Glück arbeiten kann.

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Ganz Berlin von der Rolle – aber auf welchem Stand?

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Apr 052008
 

berlin_hauptbahnhof_05_04_2008.jpg Selbst nach mittlerweile über 12 Jahren Wohnen in Berlin geschieht es mir gelegentlich, dass ich mich beim Fahren durch die Straßen fragen muss: „Ja, wo sind wir denn jetzt wieder gelandet? Dieser Teil Berlins ist neu für mich! Wir haben uns doch nicht etwa verfahren?“ Berlin mit seiner unübersichtlichen Verkehrswege-Struktur lässt sich vermutlich auch in Zeiten der digitalen Karten und der GPS-Orientierung am besten immer noch auf einem Blatt, also auf einer sogenannten Planokarte veranschaulichen! Und dafür gibt es die guten alten Wandpläne, denn die gefalteten Pläne bieten stets nur einen Ausschnitt der Gesamtfläche, und das Gehirn muss diese Ausschnitte mühsam „zusammennähen“.

Gestern, am 04.04.2008, kaufte ich deshalb frohgemut in einem gutsortierten Berliner Büroartikel-Geschäft die Planokarte „Berlin von der Rolle – Ganz Berlin auf einem Blatt, Laufzeit bis 2007“, StadtINFO Verlag, zum Preis von € 15,95. Maße: Breite 141 cm x Höhe 97 cm. Die erste Begutachtung ergibt: die graphische Gestaltung des Wandplans ist ausgezeichnet, alle Straßen lassen sich mühelos finden und mit bloßem Auge verfolgen. Endlich fügt sich auch ein Gesamtbild dieser so vielfältig zusammengestückelten städtebaulichen Agglomeration des Namens Berlin! Leider aber ist dieser Wandplan für Fachplanungszwecke oder für Besprechungen mit Behörden oder Architekturbüros nicht geeignet, da wichtige neuere Entwicklungen fehlen, z.B. fehlt der Fernbahnhof Südkreuz (früher: S-Bahnhof Papestraße) noch ganz, das ganze Bahn-Fernverkehrsnetz fehlt, der Tiergarten-Autotunnel fehlt, der neue Berliner Hauptbahnhof fehlt usw. Aber zum Lernen von Straßen und stadtgeographischen Zusammenhängen sowie als Wandschmuck ist dieser Plan einigermaßen geeignet.

Schade, dass der Fachhandel immer noch einen zwar erschwinglichen, aber eben doch veralteten Wandplan von Berlin ohne Warnhinweis feilbietet. Eine Neuauflage ist nach meinen Recherchen noch nicht verfügbar. Verlage, wir warten!

Unser Bild zeigt den am 26. Mail 2006 eröffneten Hauptbahnhof Berlin, aufgenommen am heutigen Nachmittag mit einem gestern gekauften Mobiltelefon Nokia E51.

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La liberté du Vélib‘ – toujours

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Apr 042008
 

Als echter „Renner“ erweist sich immer mehr Vélib‘ – das Leihfahrrad-System der Stadt Paris. Der Figaro meldete am 2. April 2008: 8 weitere Gemeinden im Umkreis von Paris werden sich der Erfolgsgeschichte anschließen, nachdem das Unternehmen JCDecaux die entsprechende Ausschreibung gewonnen hat: Aubervilliers, Epinay-sur-Seine, La Courneuve, L’Ile-Saint-Denis, Pierrefitte-sur-Seine, Saint-Denis, Stains und Villetaneuse.

Es gibt sogar schon ein pfiffiges Chanson auf diese Art Fahrrad!

Un vélo pour tous – tous pour un vélo,

faites passer le mot, c’est le vélib‘-credo.

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Historiker-Scharmützel: die Farbe Rot

 Krieg und Frieden, Russisches, Sozialismus  Kommentare deaktiviert für Historiker-Scharmützel: die Farbe Rot
Apr 012008
 

Nach einem Besuch in einem deutschen Konzentrationslager in der Nähe Berlins gerate ich ungeplant in Begriffs-Scharmützel zwischen zwei Historikern: Wie lange hieß die Rote Armee eigentlich Rote Armee? Hieß die Armee der Sowjetunion bis zum Ende der Sowjetunion Rote Armee? Einer der Historiker vertritt die Auffassung, bereits 1943 habe Stalin den Befehl erteilt, die Rote Armee nur noch Sowjetarmee zu nennen, da die von Trotzkij geprägte Bezeichnung „Rote Arbeiter- und Bauern-Armee“ – im Gegensatz zur konterrevolutionären „Weißen Armee“ – nicht mehr zeitgemäß sei. Ab sofort, so Stalin, gehe es nicht mehr um die Ausbreitung des Kommunismus mithilfe der Bajonette, sondern um die Verteidigung des Vaterlands im Großen Vaterländischen Krieg. Deshalb müsse die Armee ab sofort Sowjetarmee genannt werden.

Am Abend ergibt eine Rücksprache bei einer Russin und eine Konsultation des Internet folgendes Bild: Ab Februar 1946 verlor die sowjetische Armee tatsächlich offiziell den Namen Rote Armee und wurde fortan Sowjetische Armee genannt. Die Bezeichnung Rote Armee ist im Bewusstsein der Russen unlösbar mit dem besonders verheerenden Russischen Bürgerkrieg 1918-1920 verbunden, der ja etwa 8 Millionen Tote forderte. Um den Anspruch der Armee, für das ganze Land aufzutreten, zu unterstützen, wurde die Bezeichnung Rote Armee aus dem amtlichen Verkehr gezogen, zumal ja viele Zehntausende Offiziere der Weißen Armee in die Rote Armee übernommen worden waren und dort ihren Dienst taten.

Gleichwohl wird weiterhin landläufig in Deutschland außerhalb der Fachkreise die Bezeichnung Rote Armee bis zum Ende der Sowjetunion verwendet, owohl dies fachlich gesehen nicht astrein ist.

Mit diesem Ergebnis können, so meine ich, beide Historiker zufrieden sein und sich die Hand zum Friedensschluss reichen.

Und das schreibt übrigens die Wikipedia:

РККА, Рабоче-Крестьянская Красная Армия (Красная Армия) — официальное наименование Сухопутных войск и ВВС, которые вместе с ВМФ, Пограничными войсками, Войсками внутренней охраны и Государственной конвойной стражей составляли Вооружённые Силы СССР с 15 января 1918 года по февраль 1946 года. Днём рождения РККА считается 23 февраля 1918 года — день, когда было прекращено немецкое наступление на Петроград и подписано перемирие (см. День защитника Отечества). Первым руководителем Красной Армии был Лев Троцкий.

С февраля 1946 года — Советская Армия, под термином «Советская Армия» подразумевались все виды Вооружённых Сил СССР, кроме Военно-морского флота.

 Posted by at 23:05