Nov 232008
 

Oft begegne ich Menschen, die mir wieder und wieder dieselbe Geschichte erzählen: Geschichten, die ihr Leben unauslöschlich verändert haben, es in eine andere Richtung drängten, ungewollt und häufig so, dass sie nicht mehr davon loskommen. Man könnte nun meinen, durch häufiges Erzählen würde die Last der Erinnerung leichter. Ich hege mittlerweile Zweifel daran. Ich glaube, nicht immer ist dieses Erzählen-Müssen Zeichen für eine Bewältigung des Erlebten. Es kann auch ein Zeichen dafür sein, dass das Erlebte dauerhaft traumatisierend gewirkt hat: Es ist dann bei solchen Menschen so, als wären sie nie ganz in der Gegenwart angekommen, müssten wieder und wieder hinabsteigen in den Brunnen jener schrecklichen Zeit. Hubertus Knabe schreibt: „Weil sie in der Gegenwart nicht angekommen sind, leben sie weiter in der Vergangenheit.“ Hier dürfte mitunter auch Schweigen angebracht sein. Oder ein konfrontatives Zuhören: „Gut, ich habe deine Geschichte gehört. Du hast sie schon oft und oft erzählt. Nun lass uns überlegen, was wir daraus machen können! Was willst du mir sagen? Was rätst du mir?“

Oft spreche ich mit Zeitzeugen – aus der Nazi-Zeit, aus dem Sowjetkommunismus, aus der DDR … ja, ich werde allmählich selbst zum „Zeitzeugen“, da ich etwas erlebt habe, was der Bundesrepublik nach und nach verlorengeht: ein zutiefst konfessionell geprägtes, durch den Kalten Krieg bestimmtes Umfeld, in dem die Gebote der katholischen Kirche unbefragt an uns Kinder weitergegeben wurden, in dem der Beichtspiegel auswendig gelernt wurde und jeden Abend die Seele froh war, wenn sie nur lässliche Sünden begangen hatte. Und ein Umfeld, in dem schon die Protestanten mit einem Satz wie „Du musst sie achten, denn es sind letztlich auch Christen“ bedacht wurden. Ich war damals, als kleiner Bub, zutiefst überzeugt, dass alle Kommunisten böse Menschen sein mussten. Begegnet bin ich damals allerdings keinem.

Der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer schreibt heute im Neuen Deutschland auf S. 22 über die Magie der Erinnerung:  „Wer die Erinnerungen eines Menschen, aber auch eines Volkes beherrscht, beherrscht auch diesen Menschen oder dieses Volk.“

22.11.2008: Flüchtig oder unauslöschlich, kostbar oder qualvoll: Die Magie der Erinnerung (Tageszeitung Neues Deutschland)

Wer mit den inzwischen ins Greisinnen- und Greisenalter tretenden Zeitzeugen von Krieg und Vertreibung sprechen will, wird das am besten tun können, wenn er ihr Schweigen respektiert und sich in ihre Situation einfühlt: Sie verlieren, indem sie sich öffnen, ein Stück gewonnene Sicherheit, ein Gleichgewicht zwischen dem Erlebten und ihrer eigenen Art, es zu verarbeiten oder abzukapseln.

Wenn sie dann doch erzählen, ist es hilfreich, taktvoll mit den Informationen umzugehen und sich mehr oder weniger naseweise Bewertungen zu verkneifen. Nur allzu schnell hört man dann: »Wer nicht dabei war, kann es sowieso nicht verstehen«, und das Gespräch ist zu Ende. Ob es den Kindern und Enkeln der Menschen, welche die real existierende DDR noch erlebt haben, irgendwann einmal ähnlich geht?

Nun, ich habe keinerlei Schwierigkeiten, mit Menschen längere Gespräche zu führen, die die Sowjetunion oder die DDR mehrere Jahrzehnte lang erlebt und überlebt haben. In all diesen Gesprächen bin ich bemüht, dieses Gleichgewicht zwischen Erzählen-Müssen und Verschweigen-Können auszubalancieren. Ich will nicht immer alles wissen. Ich versuche sogar bewusst, die eine oder andere Leerstelle zu lassen. Und ich gebe mir Mühe, diese Erinnerungen nicht zu instrumentalisieren, also nicht für meine eigenen Zwecke einzuspannen.

Von einem hartnäckig-genauen, einfühlend-behutsamen Umgang mit persönlichen Erinnerungen scheint mir allerdings die öffentliche deutsche Gedenkkultur noch weit entfernt.

 Posted by at 23:14

Sorry, the comment form is closed at this time.